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Symbolische Einigung

USA, Rußland, EU und Kiewer Machthaber vereinbaren "Deeskalationsfahrplan". Wladimir Putin übt sich in harter Rhetorik

Von Reinhard Lauterbach *

Die Außenminister der USA und Rußlands, John Kerry und Sergej Lawrow, die EU-Außenbeauftrage Catherine Ashton und der »Außenminister« der Kiewer Machthaber, Andrij Deschtschyizja, haben am Donnerstag in Genf ein Dokument mit Schritten zu einer Entschärfung der Krise in der Ukraine verabschiedet. Die Vereinbarung ruft alle »illegalen Formationen« dazu auf, die Waffen niederzulegen und besetzte Gebäude zu räumen. Im Gegenzug solle allen Besetzern mit Ausnahme derer, denen schwere Straftaten vorgeworfen werden, Straffreiheit gewährt werden. Die Unterzeichner des Papiers verurteilen Rassismus, religiöse Intoleranz, Antisemitismus sowie Nationalismus und vereinbaren eine Mission der OSZE, um die Realisierung dieser Prinzipien zu kontrollieren.

De-facto-Anerkennung

Das Genfer Dokument, das nur vier kurze Absätze lang ist und dessen Aushandlung allein vor Ort sieben Stunden dauerte. Für die Kiewer Machthaber ist es das erste Mal, daß sie ein Dokument gemeinsam mit Rußland unterzeichneten; man kann das als De-facto-Anerkennung verstehen. Umgekehrt liegt für Rußland ein politischer Erfolg darin, daß es als Partei eines Befriedungsprozesses für die Ukraine anerkannt wurde. Die »Kröte«, die Moskau dafür schlucken mußte, ist, daß es durch seine Unterschrift unter das Dokument indirekt den Einfluß auf die Bewegung in der Ostukraine einräumte, den ihm die Kiewer Machthaber, USA und EU immer unterstellt, bisher aber keine entsprechenden Beweise vorgelegt haben. Das ist mehr als eine formale Kleinigkeit; wenn das Genfer Papier ernstgenommen wird, verpflichtet sich Rußland dazu, die Bewegung im Donbass zu befrieden und den Kiewer Machthabern behilflich zu sein, ihre Kontrolle über die Region wiederherzustellen. US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel karteten in einem Telefongespräch in diesem Sinne nach. Nur durch »sofortige, konkrete Schritte« zur Deeskalation in der Ostukraine könne Rußland neue Sanktionen vermeiden.

Das Dokument erwähnt die Krim mit keinem Wort, auch der Begriff »territoriale Integrität« kommt darin nicht vor. Kiewer Thinktanks interpretieren die Vereinbarung mit einer gewissen Folgerichtigkeit als indirekte Anerkennung der Loslösung der Krim und als diplomatischen Erfolg Rußlands, dem ein Recht auf Einfluß in Osteuropa zugestanden worden sei.

Harte Haltung

Die Erwartungen an das Genfer Papier wurden von westlicher Seite sofort heruntergespielt. Der Kiewer Übergangsministerpräsident Arseni Jazenjuk erklärte, er glaube Rußland sowieso kein Wort. US-Präsident Obama schlug mit den Worten, Rußlands bisherige Haltung im Ukraine-Konflikt gebe keinen Anlaß zu großen Hoffnungen, in dieselbe Kerbe.

Während in Genf die vierseitigen Verhandlungen liefen, hatte in Moskau Präsident Wladimir Putin im Fernsehen eine harte Haltung gegenüber Kiew vertreten. Die Militäraktion im Donbass bezeichnete er als »schweres Verbrechen« gegen das ukrainische Volk und äußerte die Hoffnung, er werde nie von seinem »Recht, die russischen Streitkräfte in die Ukraine zu schicken« Gebrauch machen müssen. Putin räumte bei der Gelegenheit beiläufig ein, daß die »grünen Männchen« – jene Männer in Uniformen ohne Erkennungszeichen – russische Sondereinheiten waren, die die Aufgabe gehabt hätten, die Selbstverteidigung der Krim zu unterstützen. Die ostukrainische Krisenregion nannte Putin mehrfach »Neurußland« – ein Terminus aus dem Zarenreich, der seinerzeit die Gebiete nördlich der Schwarzmeerküste bezeichnete. Putins Äußerung, »nur Gott« wisse, aus welchen Gründen diese Gebiete der Ukraine zugeschlagen worden seien, wurde in Kiew als indirekter Annexionsanspruch wahrgenommen. Tatsächlich ist relativ gut erforscht, wie das Donbass zur Ukraine kam: Im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution hatten die Bolschewiki 1918 eine Ukrainische Sowjetrepublik mit der Hauptstadt Charkow als Gegengewicht zu den »weißen« Regimes der Ukrainer Simon Petljura, Pawlo Skoropadski und zaristischer Generale in Kiew, auf der Krim und in der Westukraine proklamiert. Ihr wurden die unter Kontrolle stehenden Gebiete der Region zugeschlagen, die vorher Gouvernements des Zarenreichs gebildet hatten.

* Aus: junge Welt, Samstag 19. April 2014

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Atempause

Vereinbarung in Genf zur Ukraine

Von Arnold Schölzel **


Ungeachtet der Einigung zum Stillhalten in Genf geht die Verstärkung der NATO-Streitkräfte an den östlichen Grenzen des Pakts weiter, denkt die in Kiew installierte Putschregierung nicht daran, ihre faschistisch dominierte Bürgerkriegstruppe zu entwaffnen. Das Interesse des Westens und seiner Marionetten in der Ukraine daran, sich alle Möglichkeiten für bewaffnete Aktionen gegen angeblichen oder tatsächlichen Widerstand offenzuhalten, steht über allen anderen Optionen. Die Beteuerungen, der Westen schließe militärische Mittel zur Lösung des Konflikts aus, ist die wichtigste Lüge neben allen anderen, die derzeit aufgeboten werden. Denn ein Bürgerkrieg niedriger Intensität in der Ukraine ist ein Faustpfand, um Rußlands Kräfte und Politik zu binden. Es geht, wie so oft in der US-Strategie, nicht darum, rasch einen Sieg zu erringen, sondern um anhaltende Schwächung des Gegners. Noch lieber ist, weil bequemer, wie im Fall Syrien die komplette Zerstörung eines Landes und die Dezimierung der Bevölkerung durch von außen gelenkte Bürgerkriegstruppen.

In dieser Form läßt sich das in der Nähe der russischen Grenze nicht durchziehen, in der Ukraine kann nur die Light-Version dieses Konzepts verwirklicht werden. Auf CIA und Oligarchen ist dabei Verlaß: Der Direktor des US-Geheimdienstes war pünktlich vor den Genfer Gesprächen in Kiew, die einheimischen Ausplünderer rekrutieren längst ihre Privatarmeen.

Offensichtlich hat die russische Seite vor diesem Hintergrund in Genf eine Reihe von Zugeständnissen gemacht, die schwerwiegende Folgen haben können. Im Gegenzug gegen die faktische Anerkennung der Krim-Sezession und den Beitritt der Halbinsel zur Russischen Föderation haben die Moskauer Unterhändler de facto der Kiewer Prätorianergarde, die sich aus den Faschisten der auf dem Maidan führenden Organistionen rekrutieren, freie Hand gelassen. Denn entwaffnet werden sollen alle »illegalen« Milizen, wozu die neugeschaffene »Nationalgarde« von den Kiewer Machthabern gewiß nicht gezählt wird.

Die politischen und sozialen Proteste in der Ostukraine waren aber eine Reaktion auf die Gründung dieser Truppe und auf die Politik, die mit ihr verbunden ist. Diese Bewegungen, die offenbar allein aus Sicht der Kiewer Propaganda und der des Westens »prorussisch« und »separatistisch« waren, tatsächlich aber mehrheitlich für den Verbleib in einer föderalisierten Ukraine eintraten, dürften nach Genf den Eindruck haben, politischen und moralischen Rückhalt aus Rußland verloren zu haben. Ob das tatsächlich der Fall ist, steht keineswegs fest. Deswegen ist es zu früh, von Moskauer Verrat zu sprechen. Erreicht hat die russische Diplomatie eine Atempause. Das ist im Umgang mit imperialistischen Kriegsplänen stets das Vordringlichste.

** Aus: junge Welt, Samstag 19. April 2014 (Kommentar)


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