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Grausamkeiten en gros

Ukrainisches Parlament verabschiedet Haushalt, ohne ihn gelesen zu haben. Referentenentwurf nennt zahlreiche Kürzungen im Sozialbereich

Von Reinhard Lauterbach *

Das ukrainische Parlament hat am Dienstag den Staatshaushalt für 2015 verabschiedet. Nach zwanzigstündigem Sitzungsmarathon stimmte mit 233 knapp mehr als die erforderliche absolute Mehrheit für das Dokument; die Zahl der Ja-Stimmen lag allerdings weit unter der Anzahl der Abgeordneten, über die die fünf Koalitionsparteien verfügen. Vor allem aus den kleineren Regierungsparteien »Selbsthilfe« und »Radikale Partei« gab es offenbar Widerspruch. Ein Koalitionsabgeordneter bezeichnete Premierminister Arseni Jazenjuk als Trickbetrüger. Sowohl er als auch Präsident Petro Poroschenko hatten mit ihrem Rücktritt gedroht, falls das Parlament den Haushalt nicht beschließe. Igor Bojko, Fraktionsvorsitzender des »Oppositionsblocks« – den Resten der einstigen Partei der Regionen von Wiktor Janukowitsch – nannte das Abstimmungsverfahren verfassungswidrig und sagte unter dem Gelächter der Regierungsparteien, was dem Parlament hier zugemutet werde, gehe weit über bestimmte umstrittene Beschlussfassungen des von der Partei der Regionen dominierten Parlaments vor einem Jahr hinaus – an denen er freilich seinerzeit selbst mitgewirkt hatte.

Was die Abgeordneten so erregte, ist die Tatsache, dass der Etat für 2015 im sprichwörtlichen Schweinsgalopp durchs Parlament getrieben wurde. Der Entwurf war erst am 22. Dezember eingebracht worden, es fehlten zu zahlreichen Positionen Zahlenangaben und Begründungen. In bester Lobbyistenmanier versuchten mit einzelnen Oligarchen verbundene Parlamentarier, die Abgaben für die Rohstoffgewinnung niedrigzuhalten. Auch eine Pflicht der Bürger, alle ihre Einkünfte in die Steuererklärung aufzunehmen, wurde wieder gestrichen. Dafür wurden neue Steuern auf den Import von Medikamenten verabschiedet.

Es ist nicht die einzige soziale Grausamkeit, die der neue Haushalt enthält. Kurz vor Weihnachten war ein Referentenentwurf aus dem von der ehemaligen US-Bankerin Natalia Jareschko geleiteten Finanzministerium bekannt geworden. Darin wurden auf 20 Druckseiten Vorschläge für »Einsparungen« gemacht. Streichen wollte Jareschko die bisher in der Verfassung stehende Garantie kostenloser Bildung und medizinischer Versorgung, die Schulpflicht soll von elf auf neun Jahre verkürzt, die bisher gewährte kostenlose Schulspeisung gestrichen werden. Den Lehrern werden höhere Stundendeputate auferlegt, um weniger von ihnen beschäftigen zu müssen. Krankenhausbehandlungen sollen grundsätzlich kostenpflichtig werden. Die Sperrzonen rund um Tschernobyl sollen verkleinert und die Renten für Tschernobyl-Opfer stark gekürzt oder ganz gestrichen werden. Die größte Ersparnis verspricht sich Jareschkos Ministerium davon, den automatischen Inflationsausgleich für die Renten »bis zur Stabilisierung der Volkswirtschaft« zu streichen. Bei einer Inflation, die schon jetzt bei etwa 20 Prozent liegt, ist damit klar, wer zum zweiten Mal innerhalb einer Generation die Hauptkosten der »Reformen« in der Ukraine zahlen wird. Zum Ausgleich werden auch die Stipendien nicht mehr indexiert; eine frühere Version hatte sogar verlangt, die Stipendien für Studierende mit sofortiger Wirkung zu streichen. Davon hatte die Regierung Abstand genommen – offenbar mit Blick darauf, dass gerade die studierende Jugend zu den Hauptträgern der Maidan-Proteste gehört hat und es an der Basis der »Proeuropäer« ohnehin gärt. In Kiew streikten wochenlang die Straßenbahnfahrer für die Zahlung ausstehender Löhne, mehrere tausend Lehrer demonstrierten unter der Parole »Auch wir sind Menschen« vor dem Parlament. Fast täglich kommt es irgendwo in der Ukraine zu Sozialprotesten, die allerdings oft von Faschisten vereinnahmt werden. Die »Swoboda«-Partei sieht, seitdem sie nicht mehr an der Regierung beteiligt ist, ihre Chance auf ein Comeback wohl darin, das soziale Protestpotential auszunutzen und es gleichzeitig zu kanalisieren.

Die geplanten Kürzungen wurden in dem Regierungspapier offenherzig mit dem Bestreben gerechtfertigt, neue Finanzierungsquellen für das Bildungs- und Gesundheitswesen zu erschließen. Nicht ungeschickt weisen die neoliberalen Ministerialbeamten auch darauf hin, dass viele der bisherigen Sozialleistungen ohnehin seit Jahren nur auf dem Papier gestanden hätten. So seien etwa die Zahlungen für Tschernobyl-Opfer nur zu etwa 20 Prozent finanziert gewesen, die Kosten für freie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Rentner, Studenten und andere Bevölkerungsgruppen zu weniger als zehn Prozent.

Der Verabschiedung des ukrainischen Haushalts nach dem Tina-Prinzip (There ist no alternative) war faktisch eine Schauveranstaltung. Poroschenko und Jazenjuk drängten ihre jeweiligen Parteien mit dem zentralen Argument zu einem Ja, andernfalls drohe der Ukraine der Staatsbankrott. Die westlichen Geldgeber hatten weitere Kredite an die Bedingung geknüpft, dass das Land bis Silvester einen Haushalt haben müsse. Gleichzeitig beschwichtigte Jazenjuk die Abgeordneten in der Parlamentssitzung, es könnten ja bis zur nächsten Lesung Mitte Februar noch Änderungsvorschläge eingebracht werden. Ob sich EU und Internationaler Währungsfonds einen Fassadenhaushalt mit sechswöchigem Verfallsdatum gefallen lassen, muss sich in der Zwischenzeit zeigen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 2. Januar 2015


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