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Hoffnung, dass die Waffen schweigen

Erfolg der Kontaktgruppe in Minsk: Einigung zwischen der Ukraine und den Aufständischen

Von Klaus Joachim Herrmann *

Das Ende des Blutvergießens im Donbass könnte in Minsk eingeleitet worden sein: Dort wurde eine Waffenruhe vereinbart.

Eine Waffenruhe im Ukraine-Konflikt vereinbarten am Freitag Unterhändler der Kiewer Regierung und prorussische Aufständische noch für den gleichen Abend. Sie sollte um 17 Uhr MESZ in Kraft treten, wurde vom Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe in der belarussischen Hauptstadt Minsk mitgeteilt.

Weiterhin sollen nach einem laut russischen Agenturen aus zwölf Punkten bestehenden Protokoll Gefangene ausgetauscht werden. Die Feuerpause soll offenbar durch bis zu 500 Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwacht werden. Auch der Einsatz von Drohnen ist im Gespräch. Diese Aspekte waren Teil eines Friedensplans des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Vor der Einigung hatten sich prominente Teilnehmer der Kontaktgruppe, zu der auch die OSZE gehört, wie der ukrainische Ex-Präsident Leonid Kutschma oder Russlands Botschafter in Kiew, Michail Surabow, optimistisch gezeigt. Man müsse aufhören einander umzubringen, sagte Kutschma. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und der Führer der Aufständischen Andrej Sachartschenko wiesen sofort die Feuereinstellung an.

Doch wie auf die Vereinbarung mit Spannung gewartet wurde, so auch auf deren Umsetzung. Denn tagsüber wurde in der Konfliktregion erbittert gekämpft. Aus Donezk wurden ebenso Gefechte gemeldet wie aus der Hafenstadt Mariupol. Nach Ansicht von Experten waren ohnehin Verzögerungen bei der Umsetzung der Vereinbarung wegen »komplizierter Befehlsstrukturen« zu befürchten.

Umstrittenes Thema blieb das Eingreifen russischer Militärangehöriger in die Kämpfe. Das russische Fernsehen berichtete am Vorabend erstmals über die Beisetzung eines Fallschirmjägers, der sich »offiziell im Urlaub« befunden habe, als er zusammen mit prorussischen Separatisten gegen die ukrainischen Regierungstruppen kämpfte. Der 28-jährige Anatoli Trawkin habe weder seiner Ehefrau noch seinen Vorgesetzten von seinen Plänen erzählt, in die Ukraine zu reisen, hieß es in dem Bericht.

Auf einer russischen Internetplattform wird unter dem Titel »Unsere Soldaten« versucht aufzuklären, »wo und warum russische Militärangehörige sterben«. Die Liste enthält Informationen über mehr als 30 Militärangehörige und mehrfach ukrainische Ortsangaben.

Die Affäre um eine angebliche Drohung Putins, in 24 Stunden Kiew einnehmen zu können, wurde laut TASS für erledigt erklärt. Die Bemerkung aus einem Telefonat mit EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso sei, wurde nun eine EU-Sprecherin zitiert, »leider aus dem Zusammenhang gerissen« worden. Der Kreml verzichte deshalb auf eine Veröffentlichung des Wortlautes.

In Moskau erwiesen Tausende Trauergäste dem in der Ostukraine getöteten russischen Pressefotografen Andrej Stenin die letzte Ehre.

* Aus: neues deutschland, Samstag 6. September 2014


Aufrüsten für Revanche

NATO-Paket für Kiew: Die ukrainische Armee soll reorganisiert und modernisiert werden. Wer will, darf auch Waffen liefern

Von Knut Mellenthin **


Die Anstrengungen der NATO werden sich in den kommenden Monaten darauf konzentrieren, die ukrainischen Streitkräfte zu reorganisieren und sie für einen Revanchekrieg gegen den Donbass fit zu machen. Darauf laufen, wenn man die der Tarnung dienenden sprachlichen Kinkerlitzchen beiseite läßt, die Ankündigungen des am Freitag zu Ende gegangenen Gipfeltreffens der westlichen Allianz hinaus. Angesichts des desolaten Zustands des ukrainischen Militärs, der sich in den Kämpfen der letzten Wochen offenbarte, ist das in nächster Zeit wichtiger und realistischer als die Lieferung von Waffen, die gegenwärtig nur von wenigen NATO-Staaten befürwortet wird.

Der aus dem Amt scheidende NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sprach von einem mehrere Bereiche umfassenden, genau auf die Bedürfnisse der ukrainischen Streitkräfte zugeschnittenen »Paket« von Unterstützungsmaßnahmen. Ziel sei es, bei der »Reform des ukrainischen Verteidigungssektors« und beim »Aufbau einer starken, modernen Armee« zu helfen. Gleichzeitig gehe es darum, die »Kompatibilität« des ukrainischen Militärs mit dem der NATO zu »verbessern« – oder überhaupt erst herzustellen –, damit gemeinsame Operationen möglich werden. Das schließt die Anpassung der entsprechenden Infrastruktur der Ukraine, beispielsweise ihrer Luftstützpunkte, an die Standards und Regeln der NATO ein. Darum wird es auch bei der Übung »Rapid Trident« gehen, die vom 15. bis 26. September in der Westukraine stattfinden soll. Unter den 15 teilnehmenden Staaten sind vier, die nicht der NATO angehören, aber sich schon lange in deren Umkreis bewegen: neben der Ukraine selbst auch Georgien, Moldawien und Aserbaidschan.

Was das von Rasmussen angekündigte »Paket« angeht, wird man wohl erst allmählich und stückweise erfahren, was seine konkreten Inhalte sind. Zentrale, »strategisch wichtige« Punkte der Kooperation bleiben vielleicht sogar geheim. Bekannt wurde bisher nur ganz allgemein, daß die NATO dem ukrainischen Militär in den Bereichen Logistik (Nachschub), Kommando- und Kommunikationsstrukturen sowie »Cyber-Abwehr« unter die Arme greifen will. Außerdem soll Kiew bei der »Reform seiner Streitkräfte« unterstützt und beraten werden. Praktisch scheint das darauf hinauszulaufen, daß einige NATO-Staaten die Armee Kiews »unter ihre Fittiche nehmen« werden. Vermutlich werden westliche Berater aller Ebenen in die Ukraine entsandt und andererseits massenhaft ukrainische Offiziere, einschließlich der führenden, zu Lehrgängen geholt werden. Auch der verstärkte Einsatz westlicher Ausbilder ist zu erwarten, nicht zuletzt zur Schulung an künftig zu liefernden modernen Waffen.

Rätselhaft ist die Mitteilung des ­NATO-Gipfels, daß für alle diese Zwecke rund 15 Millionen Euro in einem »Treuhandfonds« bereitgestellt werden sollen. Vermutlich geht es dabei in Wirklichkeit um eine Soforthilfe für die Kriegführung im Donbass, deren Details nicht bekanntwerden sollen. Gemessen an den Aufgaben, die mit dem angekündigten »Paket« verbunden sind, oder mehr noch mit den Bedürfnissen der durch den Krieg schwer mitgenommenen ukrainischen Wirtschaft wären 15 Millionen noch nicht einmal der redensartliche Tropfen auf den heißen Stein.

Der Internationale Währungsfonds hat in einem aktuellen Lagebericht, der am Mittwoch bekanntwurde, festgestellt, daß die Ukraine bei einer Fortsetzung des Krieges gegen den Donbass zusätzliche Finanzhilfen in Höhe von 19 Milliarden Dollar benötigen würde. Dieser Betrag wäre bis Ende 2015 zu den fast 17 Milliarden Dollar zu addieren, die der Ukraine bisher zugesagt sind.

Rasmussen hat es beim Gipfeltreffen ausdrücklich in das Belieben der einzelnen Mitglieder gestellt, ob sie der Ukraine jetzt schon Waffen liefern wollen. Vermutlich werden das, wenn überhaupt, nur wenige Staaten tun. Im Vordergrund steht derzeit sogenannte nicht tödliche Unterstützung für Kiews Krieg gegen Teile des eigenen Volkes. Die deutsche Regierung läßt über das Thema bereits munter und laut nachdenken. Der Unionsaußenpolitiker Karl-Georg Wellmann habe mögliche Lieferungen am Montag in der CDU/CSU-Fraktion »angesprochen«, und die Kanzlerin sei »interessiert«, meldete Spiegel online. Zur Diskussion stehen, dem Magazin zufolge, ukrainische Bestellungen über 20000 Schutzwesten und eine nicht genannte Zahl von Schutzhelmen. »Nachgedacht« werde zudem über die Lieferung von medizinischer Ausrüstung und Feldlazaretten.

Gleichzeitig steht die US-Regierung unter wachsendem Druck aus dem Kongreß, jetzt schon Waffenexporte in die Ukraine zu genehmigen. Das könnte für Barack Obama, der sich ständig gegen den Vorwurf verteidigen muß, er gefährde durch Unentschlossenheit Amerikas Führungsrolle in der Welt, in den nächsten Monaten ein brisantes Thema werden. Am 4. November wird das gesamte Abgeordnetenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt. Den Demokraten, die im Abgeordnetenhaus schon seit 2011 in der Minderheit sind, droht nun auch der Verlust der Mehrheit im Senat.

** Aus: junge Welt, Samstag 6. September 2014


Waffenruhe für den Donbass vereinbart

Ukraine: Vertreter Kiews und der Volksrepubliken im Osten verständigen sich auf Feuerpause. Kämpfe um Mariupol

Von Reinhard Lauterbach ***


Vertreter der Ukraine und der Aufständischen aus dem Donbass haben sich auf eine Waffenruhe geeinigt. Sie sollte am Freitag um 17 Uhr MESZ in Kraft treten. Wie am Rande der Verhandlungen in der belarussischen Hauptstadt Minsk zu erfahren war, besteht das Protokoll über die Waffenruhe aus 14 Punkten; sie regeln nach Angaben der OSZE-Vermittlerin Heidi Tagliavini »alle erforderlichen Punkte«, von der internationalen Kontrolle bis zum Austausch der Gefangenen. Die unmittelbaren Unterzeichner waren für die ukrainische Seite der ehemalige Staatspräsident Leonid Kutschma, für die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ihre Regierungschefs, Alexander Sachartschenko und Igor Plotnizki. Damit hat erstmals ein Vertreter der ukrainischen Seite ein Dokument mit Vertretern der Aufständischen unterzeichnet.

Unklar war zunächst die Tragweite der Vereinbarung. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko ordnete für seine Truppen zwar an, das Feuer einzustellen, spielte das in Minsk vereinbarte Dokument auf seinem Twitter-Account aber zu einem »vorläufigen Protokoll zu einer Vereinbarung über eine Waffenruhe« herunter; Igor Plotnizki von der Volksrepublik Lugansk kommentierte, das Papier ändere nichts daran, daß sich die Volksrepubliken von der Ukraine loslösen wollten. Auch auf ukrainischer Seite war die Haltung zu der Minsker Einigung uneinheitlich: Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk erklärte, ein Frieden könne nur zu den Konditionen der ukrainischen Seite geschlossen werden.

Diese Äußerung Jazenjuks zeugt von einigem Realitätsverlust. Die Truppen der Aufständischen rückten im Verlaufe des Freitags weiter vor und kesselten eine Gruppe der ukrainischen Armee um den Anfang August eroberten Verkehrsknotenpunkt Debalzewo nordöstlich von Donezk ein. Außerdem rücken sie offenbar auf die Hafenstadt Mariupol vor. Nach übereinstimmenden Meldungen beider Seiten wurde eine Straßensperre der Nationalgarde vor Mariupol von den Aufständischen gestürmt.

*** Aus: junge Welt, Samstag 6. September 2014

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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