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Kiew droht mit "Lösung" in 48 Stunden

Russlands Präsident Putin warnt vor »unumkehrbaren Schritten« / Westen wiederholt Kritik an Moskau

Von Klaus Joachim Herrmann *

Drohungen aus Kiew und Barrikaden in der Ostukraine, gegenseitige Schuldzuweisungen – aber auch Hoffnung auf Dialog.

56 unverletzte Geiseln durften am frühen Mittwochmorgen das weiter besetzte Geheimdienstgebäude in Lugansk verlassen. Zuvor war die Lage als »besorgniserregend« bezeichnet worden. Aus Dnjepropetrowsk seien Schützenpanzerwagen nach Lugansk überführt worden, berichteten örtliche Medien. Die Vizevorsitzende des ukrainischen Nationalen Sicherheitsrats Viktoria Sjumar hatte aber noch in der Nacht via Facebook geäußert, dass eine Gesprächslösung zur Befreiung von Geiseln und Gebäude möglich sei: »Chancen gibt es.«

Damit schien sich in der Ostukraine die Auseinandersetzung trotz anhaltender Besetzungen von Verwaltungsgebäuden etwas zu entspannen. Die im Kiewer Parlament am Vortag erhobene Forderung nach Ausnahmezustand wurde nicht aufgegriffen. Innenminister Arsen Awakow gab sich aber unerbittlich. Der »Anti-Terror-Einsatz« gegen Separatisten in den Gebieten Donezk, Charkow und Lugansk werde fortgesetzt, bekräftigte er am Rande einer Sitzung des Übergangskabinetts. Zugleich bot er Dialog an. »Ich denke, dass in den nächsten 48 Stunden eine Lösung für diese Krise gefunden wird«, sagte er.

Vom Kreml kam prompt eine Warnung vor unumkehrbaren Schritten. Präsident Wladimir Putin wurde mit der Hoffnung wiedergegeben, die Führung in Kiew werde »nichts tun, was später nicht korrigiert werden kann«. Die EU forderte er zur Unterstützung der Ukraine auf. Sie habe ihr nichts zukommen lassen: »Nicht einen Dollar, nicht einen Euro.« Zugleich mahnte er, dem Gesprächsangebot zur Beruhigung der Lage eine Chance zu geben. Kiew und die USA beschuldigten erneut Russland, hinter den Aufrührern zu stecken.

Andere Erkenntnisse gewann der Abgeordnete Sergej Tigipko (Partei der Regionen). Nach seiner Rückkehr aus Lugansk erklärte der frühere Vizepremier, dass seine Gesprächspartner den Verdacht einer »russischen Unterstützung« zurückgewiesen hätten. Sie formulieren die Forderungen selbst. Mit Parlamentspräsident Alexander Turtschinow einigte sich Tigipko laut UNIAN auf eine Kommission zur Lösung der Probleme.

Die gibt es auch im anderen Landesteil. So stürmten laut Medienberichten prowestliche Demonstranten in der westukrainischen Stadt Lwiw das Gebäude der örtlichen Staatsanwaltschaft. Damit folgten sie dem Beispiel von Kiew, wo zu Wochenbeginn radikale nationalistische Demonstranten wie Parteigänger des extremistischen »Rechten Sektors« im Gebäude des Obersten Gerichts eine Sitzung der Richter sprengten.

Auf der internationalen Bühne forderte US-Außenminister John Kerry bei einer Senatsanhörung in Washington von Russland konkrete Schritte zur Entschärfung des Konflikts. Die müssten noch vor den für kommende Woche angesetzten Vierergesprächen mit den USA, Russland, der EU und der Ukraine erfolgen. »Die Arbeit an den Sanktionen läuft immer noch«, drohte derweil laut dpa eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beklagte mangelnde russische Kooperationsbereitschaft.

Ungeachtet der massiven Kritik aus Politik und den meisten Massenmedien lehnen 50 Prozent der Deutschen ein größeres NATO-Engagement ab, 42 Prozent wären laut einer Forsa-Erhebung für das Magazin »Stern« dafür. Ein direktes Eingreifen mit NATO-Truppen lehnen mit 77 Prozent sogar mehr als drei Viertel allerdings auch dann ab, wenn Russland Gebiete der Ukraine besetzen sollte; nur 16 Prozent plädieren dafür, eine russische Invasion mit Waffengewalt zu stoppen. Abgelehnt wird ein stärkeres Engagement der NATO vor allem von Ostdeutschen (57 Prozent) sowie den Wählern der LINKEN (70 Prozent).

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. April 2014


Viel Hilfe für die Wenigen in der Ukraine

Helmut Scholz zeigt auf, wer von der einseitigen Aufhebung der Zölle auf ukrainische Exporte in die EU profitiert **

Noch im Herbst 2013 zeigten EU-Rat und -Kommission keine Bereitschaft, der schon damals finanziell fast bankrotten Ukraine einseitig und großzügig zu helfen. Man beschränkte sich darauf, beim Internationalen Währungsfonds (IWF) für dessen Engagement in der Ukraine politisch zu werben und teilte damit den im Gegenzug aufgezwungenen Sparkurs.

Auch beim jüngsten Treffen Anfang März haben die 28 Staats- und Regierungschefs offen gelassen, ob und in welchem Umfang die EU sich selbst finanziell in der Ukraine einbringen will. In diesem Kontext verständigte sich der Rat auf eine Mogelpackung: Zur wirtschaftlichen und finanziellen Stabilisierung des Landes soll die Europäische Kommission die Zölle auf ukrainische Exporte in die EU für einen Zeitraum von sechs Monaten einseitig aufheben. Und kurz vor den in Kiew angekündigten Wahlen soll dann das unter Ausschluss des Europäischen Parlaments beispiellose Paket einer »Makroökonomischen Finanzhilfe« in Höhe von einer Milliarde Euro auf den Weg gebracht werden. All dies suggeriert Entwicklungsperspektive, im Kern handelt es sich aber um Interessenpolitik zugunsten europäischer Großkonzerne und ukrainischer Oligarchen.

Worum geht es konkret? Mit der anstehenden Unterzeichnung der Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU legt sich die Ukraine politisch und wirtschaftlich auf das EU-Integrationsprojekt fest und wird in der Konsequenz jene Handelsvorzüge verlieren, die sich aus der bisherigen Beteiligung an der Freihandelszone ergaben, die vor mehr als zehn Jahren unter dem GUS-Schirm geschaffen wurde und die die traditionellen Wirtschaftsverflechtungen in den beteiligten Ländern fortführen sollte. 36 Prozent des Exports (63 Milliarden Dollar) und 35 Prozent des Imports (77 Milliarden Dollar) wickelte die Ukraine 2013 in diese Richtung ab. Der Anteil des Handels mit der EU lag zum Teil deutlich darunter.

Mit der Unterzeichnung der noch von Janukowitsch ausgehandelten Abkommen mit der EU steht die Ukraine jetzt vor der Herausforderung, für ihre Waren neue Märkte zu suchen. Die Aufhebung der Einfuhrzölle auf ukrainische Waren könnte gutwillig als Unterstützung der EU für die Ukraine bei der Suche nach diesen »neuen« Märkten im Europäischen Binnenmarkt angesehen werden. Genau darum handelt es sich aber nicht, denn die Kommission hat von Anfang klar gemacht, dass sie alleine und nach eigener Interessenlage entscheiden wird, für welche Produkte die Zölle aufgehoben werden. Dass hiervon landwirtschaftliche Produkte ausgeschlossen sein werden, hat man bereits mitgeteilt.

Erhellend ist auch die Kommissionsaussage, vor allem jenen ukrainischen Unternehmen einen Impuls geben zu wollen, die das tagtägliche Leben der Bürger des Landes beeinflussen. Bei der gegebenen Warenstruktur des ukrainischen Außenhandels reden wir damit über die Wirtschaftsoligarchen aus den Bereichen der Schwarzmetallurgie, der chemischen sowie der extraktiven Industrie aus dem Ost- und dem Westteil der Ukraine, die einen Anteil am Export von reichlich 65 Prozent haben. Im Ergebnis der in Wildwest-Manier durchgezogenen Privatisierung der industriellen Basis der Ukraine Ende der 90er Jahre bündeln diese Oligarchen nicht nur enorme Mittel in den Händen Weniger; sie bilden seit mehr als 20 Jahren zugleich eine mit der Politik aufs Engste verflochtene Zweckgemeinschaft.

Die von der Kommission angekündigte handelspolitische Maßnahme stellt sich vor diesem Hintergrund auch als Versuch dar, die in Ost und West gespaltenen Gruppen von ukrainischen Oligarchen politisch zu einen und ihnen eine europäische Perspektive zu eröffnen. Ob dieses Kalkül angesichts der abstürzenden Nationalwährung wirtschaftlich aufgehen kann, ist offen. Klar ist aber, dass sich aus den Zollmaßnahmen der EU kaum wirtschaftspolitische Effekte ergeben werden, die bei der Bevölkerung unmittelbar ankommen. Die einseitige halbjährige Aufhebung der Zölle wird der EU einen Einnahmeverlust in Höhe von ca. 500 Millionen Euro bringen. Aus welcher Schatulle des ohnehin schon reduzierten EU-Haushalts dieser Verlust kompensiert werden soll, ist unbeantwortet. Für die europäischen Großabnehmer ukrainischer Waren werden sich aber günstigere Einkaufspreise ergeben. Den Nutzen werden hier vor allem deutsche, französische, polnische, niederländische und italienische Großkonzerne haben.

** Der Europaabgeordnete Helmut Scholz (LINKE) ist Mitglied im Ausschuss für Internationalen Handel des EU-Parlaments.

Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. April 2014 (Gastkommentar)



Für Gas aus Russland Vorkasse in Aussicht

Regierung erwägt Einschränkung der Lieferungen an die Ukraine wegen der Zahlungsrückstände

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Gas ist ein wertvoller Rohstoff und längst eine wirksame Waffe in der politischen Auseinandersetzung. Die kann aber nach mehreren Seiten losgehen.

Russland stellt der Ukraine künftig Vorkasse für Gaslieferungen in Aussicht und erwägt, seine Lieferungen an Kiew wegen der aufgelaufenen Zahlungsrückstände einzuschränken. Zuvor solle es Konsultationen geben. Das beschloss die Regierung in Moskau Mittwoch auf einer Sondersitzung unter Anwesenheit von Präsident Wladimir Putin. Gas und Öl sind in Russland Chefsache, Rohstoff-Exporterlöse der mit Abstand größte Posten auf der Habenseite des russischen Haushalts.

Moskaus Gaskonflikt mit der Ukraine habe erneut die kritische Masse erreicht, schrieb die Wirtschaftszeitung »Kommersant« schon am Vortag unter Berufung auf einen hochrangigen Vertreter der Kremladministration. Kiew stand bereits zu Monatsbeginn beim staatsnahen russischen Monopolisten Gasprom mit umgerechnet über zwei Milliarden US-Dollar in der Kreide.

Dabei waren Moskaus Forderungen – 268 US-Dollar pro tausend Kubikmeter – bisher relativ moderat: Russland hatte der Ukraine 2010 erhebliche Rabatte gewährt. Denn der frisch gewählte Präsident Viktor Janukowitsch hatte die 2017 auslaufenden Stationierungsverträge für die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim um weitere 25 Jahre verlängert. Doch die sind Makulatur. Moskau fordert von Kiew jenen Preis, den Putin, damals Regierungschef, seiner ukrainische Kollegin Julia Timoschenko Anfang 2009 abforderte: 485 US-Dollar für 1000 Kubikmeter.

Armenien – Moskaus strategischer Verbündeter im Südkaukasus – zahlt erheblich weniger. Ebenso die EU-Staaten. Gasprom-Pressechef Sergej Kuprianow begründete das Missverhältnis in Radio Echo Moskwy damit, dass Armenien Gasprom direkt am lukrativen Geschäft mit den Endkunden beteilige und Europa in die Erschließung russischer Vorkommen und die Transportinfrastruktur investiere Auch sei die Ukraine selbst bei ermäßigten Preisen als säumiger Zahler unangenehm aufgefallen.

Moskau hatte schon Janukowitsch mehrmals mit Lieferstopp gedroht, sich dazu jedoch nicht durchgerungen. Denn Kiew hatte schon 2009 die Durchleitung russischer Lieferungen für die EU zwei Wochen gestoppt und drohte mit Wiederholung. Zwar hat die Ukraine, seit 2011 die Ostsee-Pipeline Nord Stream ans Netz ging, für West- und Mitteleuropa als Transitland erheblich an Bedeutung verloren. Direkte Anrainer und Österreich, so warnen russische Beobachter, seien jedoch nach wie vor auf Durchleitung durch das ukrainische Pipelinesystem angewiesen.

Für die EU-Kommission in Brüssel, meldete die Agentur RIA/Nowosti, habe Krisenmanagement im Falle neuer Lieferausfälle daher absolute Priorität. Denn selbstbewusst drohte der ukrainische Energieminister Juri Prodan nach einem Treffen mit Energiekommissar Günter Oettinger in Brüssel mit einer neuen Blockade russischer Lieferungen. Vor allem damit, so russische Experten, soll Europa unter Druck gesetzt und bei den geplanten Viererverhandlungen gezwungen werden, auf die härtere Position Washingtons gegenüber Moskau einzuschwenken.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 10. April 2014


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