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Poroschenko setzt auf Krieg

Militärparade in Kiew. Hunderte Tote im Osten. Milliardenschwere Aufrüstung *

Inmitten des blutigen Konflikts mit den Aufständischen im Osten des Landes hat die Ukraine den 23. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit mit einer Militärparade gefeiert. Rund 1500 Soldaten, darunter auch Truppen, die im Osten an den Kämpfen beteiligt sind, marschierten im Beisein von Oberbefehlshaber und Staatspräsident Petro Poroschenko durch das Zentrum von Kiew. Durch die Kreschtschatik-Straße rollten Einheiten schwerer Armeetechnik aus ukrainischer Produktion, Fla-Waffen, Artillerie und Raketenanlagen. In einer Rede kündigte Poroschenko an, für die Aufrüstung in den Jahren 2015 bis 2017 2,2 Milliarden Euro bereitzustellen.

Kanzlerin Angela Merkel, die am Samstag zum ersten Mal seit Ausbruch des Konflikts Ende 2013 in Kiew war, versprach der Ukraine Finanz- und Wirtschaftshilfen. Sie kündigte eine Kreditbürgschaft über 500 Millionen Euro an.

Die Gefechte in Donezk, rund um Lugansk sowie um den für den Bahnverkehr wichtigen Ort Ilowaisk gingen auch am Wochenende weiter. Hunderte Zivilisten sind in Lugansk nach Angaben der dortigen Milizen durch andauernde Artillerieangriffe der Regierungsarmee getötet worden. Die Stadt ist seit 20 Tagen vom Militär blockiert. Es gibt keinen Strom; die Lebensmittel und Medikamente gehen zur Neige. Durch den Beschuß würden immer neue Wohnhäuser und Infrastrukturanlagen beschädigt, so die örtlichen Behörden.

Die Aufständischen führten am Sonntag etwa 50 gefangene Regierungssoldaten in Donezk öffentlich vor. Die gefesselten Männer seien von Bewohnern mit Eiern und Plastikflaschen beworfen worden, berichtete das ukrainische Internetportal Ostro.

Die Regierung in Moskau wies Vorwürfe der NATO zurück, es seien russische Soldaten in der Ostukraine aktiv. Rußland richte sich fest nach den Prinzipien des Völkerrechts.

Der russische Lkw-Konvoi, der am Freitag 1900 Tonnen Hilfsgüter ins ostukrainische Kriegsgebiet Lugansk gebracht hatte, hat die Ukraine verlassen. Die letzten Lastwagen sind am Samstag über die Grenze zurück nach Rußland gefahren, wie ein Korrespondent der RIA Nowosti am Grenzübergang Donezk berichtet.

Der Krieg hat nach UN-Angaben bereits mehr als 2000 Zivilisten das Leben gekostet. Zudem gibt es mindestens 100000 Binnenvertriebene und schwere Zerstörungen in Wohngebieten.

* Aus: junge Welt, Montag 25. August 2014


Kiew beschwört "Vaterländischen Krieg"

Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel wird in der Ukraine als klare Unterstützung gewertet

Von Detlef D. Pries **


Einen Tag nach dem Besuch der Bundeskanzlerin ließ der ukrainische Präsident zur Feier der Unabhängigkeit in Kiew die Panzer rollen.

Petro Poroschenko sieht den »nicht erklärten, aber realen Krieg« gegen Aufständische im Osten der Ukraine bereits als »Vaterländischen Krieg des Jahres 2014« in die Geschichte eingehen. Dank nationaler Solidarität werde die Schlacht erfolgreich sein, versicherte der Präsident am Sonntag bei einer Militärparade aus Anlass des 23. Jahrestags der ukrainischen Unabhängigkeit in Kiew. Während der knapp einstündigen Waffenschau ratterte schweres Militärgerät, darunter gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie- und Raketenkomplexe, über den Prachtboulevard Kreschtschatik – und von dort direkt in die Kriegsgebiete um Donezk und Lugansk.

Derart kriegerischem Getöse wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel offenbar nicht beiwohnen. Ihr fünfstündiger Besuch am Vortag wurde in Kiew dennoch als klares Zeichen der Unterstützung gewertet. Zwar drängte Merkel auf eine diplomatische Lösung des Konflikts, doch Willen dazu bescheinigte sie vorerst nur ihren Gastgebern, die »alleine keinen Frieden schaffen« könnten. Ein Hinweis auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin, dem NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gerade wieder vorgehalten hatte, dass russische Soldaten mit Artillerie im ukrainischen Konflikt aktiv seien. Kommentar aus Moskau dazu: »Leeres Gerede!«

Angela Merkel versprach der Ukraine für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur im Osten deutsche Kreditbürgschaften in Höhe von 500 Millionen Euro und zusätzliche 25 Millionen für den Bau winterfester Flüchtlingsunterkünfte. Poroschenko wertete das als »Beginn des Merkel-Plans« für die Ukraine und verkündete tags darauf, für die Aufrüstung der ukrainischen Armee würden in den nächsten drei Jahren mehr als 2,2 Milliarden Euro bereitgestellt.

Unterdessen waren schon am Sonnabend alle 227 russischen Lastwagen, die am Vortag Grütze, Zucker, Kindernahrung, Medikamente und andere Hilfsgüter in die Ostukraine gebracht hatten, leer nach Russland zurückgekehrt, wie OSZE-Beobachter bestätigten. Der Konvoi war am Freitag nach tagelanger Verzögerung ohne Erlaubnis der ukrainischen Behörden über die Grenze nach Lugansk gerollt, was in Kiew als »Invasion« und »Verletzung der Souveränität«, von USA-Vizepräsident Joe Biden als »himmelschreiende Provokation« bezeichnet wurde.

Ganz »souverän« und in »nationaler Solidarität« setzt die ukrainische Armee derweil den Krieg gegen eigene Landsleute fort. Südlich von Lugansk wollen die Streitkräfte laut »Ukrainskaja Prawda« etwa 500 Aufständische getötet haben. In Lugansk selbst sollen binnen 24 Stunden 68 Menschen verletzt worden sein, in Donezk starben drei Zivilisten.

Nach »Spiegel«-Informationen fordern Polen und die baltischen NATO-Staaten mit Unterstützung aus den USA indessen, die geplante NATO-Raketenabwehr nun auch gen Osten auszurichten – nachdem man jahrelang versichert hatte, der Raketenschirm richte sich nicht gegen Russland.

** Aus: neues deutschland, Montag 25. August 2014


Merkels Ordnungsruf

Staatsbesuch in Kiew

Von Reinhard Lauterbach ***


Am Sonntag feierte das offizielle Kiew zum 23. Mal den Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine. Die Militärparade fand mit deutlich reduziertem Budget und vermindertem Aufwand an schweren Waffen statt. Überflüge der Luftwaffe fielen ganz aus, weil die Aufständischen im Donbass schon mehr als die Hälfte der flugfähigen Maschinen der Ukraine zu Schrott gemacht haben. Präsident Petro Poroschenko blies gleichwohl die Backen auf: Der – noch nicht errungene – Sieg bei der »Antiterroroperation« im Donbass werde sich mit goldenen Buchstaben in die ukrainische Militärgeschichte einschreiben. Der Oligarch nannte diesen brudermörderischen Bürgerkrieg allen Ernstes den »vaterländischen Krieg« der Ukraine.

Einen Tag zuvor hatte Poroschenko in Kiew die Bundeskanzlerin empfangen. Die Visite galt als diplomatische Rückenstärkung für ihn, aber das stimmt nur halb. Angela Merkel ließ es nicht an politischen Bekenntnissen zur »Einheit der Ukraine« fehlen – sie sei ein »wesentliches Ziel« deutscher Politik. Aber eben kein unbedingtes. Daneben setzte sie die Forderung, »keine unnötigen Reibungen mit Rußland entstehen zu lassen«. Und durchaus im Unterschied zu Poroschenkos martialischen Sprüchen erklärte Merkel in Kiew, eine militärische Lösung des Konflikts im Donbass sei nicht möglich. Ihr Vize, SPD-Chef Sigmar Gabriel, belebte derweil die Forderung nach einer »klugen Föderalisierung« des Landes – man müsse den russischsprachigen Regionen »ein Angebot machen«. Nichts anderes hatten die Bewohner des Donbass zu Beginn ihres Widerstandes gegen Kiew gefordert. In der Hauptstadt wählte man statt dessen die militärische Option. Ob die Föderalisierung jetzt, vier Monate später und nach unermeßlichen Zerstörungen, noch aktuell sein kann, und zwar für die Bewohner des Donbass, muß sich zeigen.

Unter dem Strich: Der Krieg der Kiewer Junta gegen die Bewohner des Donbass ist trotz aller Geländegewinne politisch gescheitert. Die Aufständischen haben der ukrainischen Armee erhebliche Verluste beigebracht, und ihr Widerstand wird eher härter. Was die Regierungstruppen noch erobern könnten, ist eine Wüste. Die Infrastruktur des Donbass müßte von Grund auf neu gebaut werden. In dieser Situation sind die Kreditgarantien über 500 Millionen Euro, die Merkel Poroschenko mitbrachte, nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das wäre halb so schlimm, aber ein Hohn ist ihre Zweckbestimmung für »private Investitionen in die Wasserversorgung«. Private Wasserversorgung haben die Bewohner des Donbass gerade: Weil sie ihr Wasser nicht mehr aus dem Leitungssystem bekommen, dessen Pumpstationen das ukrainische Militär ein um das andere Mal zerschießt, sondern es wie in Haiti für teures Geld kanisterweise kaufen müssen. Naomi Klein beschreibt in ihrer »Schockstrategie«, wie der Neoliberalismus Katastrophen nutzt oder auch produziert, um öffentliche Daseinsvorsorge durch private Profitmacherei zu ersetzen. Merkels »Hilfe« belegt diese These ein weiteres Mal.

*** Aus: junge Welt, Montag 25. August 2014 (Kommentar)

Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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