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Kleinkrieg wird groß

Heftige Kämpfe um Flughafen Donezk. Kiew bereitet Einberufung von 50.000 Männern vor und lässt Soldatengräber auf Vorrat ausheben

Von Reinhard Lauterbach *

Die Kämpfe im Donbass haben in diesen Tagen eine Intensität angenommen wie seit dem Sommer 2014 nicht mehr. Schwerpunkt ist der Flughafen von Donezk. Seit dem Mittwoch greifen Kräfte der »Volksrepublik Donezk« die verbliebenen Stellungen der ukrainischen Regierungstruppen im neuen Terminal an. Wie ein ukrainischer Offizier vor Ort dem Kiewer Fernsehkanal ICTV erklärte, kontrollierten seine Soldaten nur noch einen einzigen Raum in dem Gebäude und lägen von allen Seiten unter Beschuss. Die Aufständischen setzten eine bisher nicht gekannte Vielzahl von Artillerie aller Kaliber, Panzer und Raketenwerfer ein. Auch weiter östlich in der »Volksrepublik Lugansk« nahmen die Kämpfer der Aufständischen ukrainische Stellungen mit schweren Waffen unter Feuer. Sie berichteten über hohe Verluste der Regierungstruppen, die ukrainische Seite räumte sechs Tote und 18 Verletzte auf eigener Seite ein.

Der Flughafen von Donezk, der erst zur Fußball-EM 2012 für viel Geld modernisiert worden war, liegt inzwischen in Trümmern. Er war im April von Aufständischen erobert worden, im Sommer hatten ihn Regierungstruppen eingenommen und von dort aus die umliegenden Wohnviertel beschossen. Nicht nur wegen dieser militärischen Bedeutung sind die Kämpfe so erbittert. Die Anlage zu erobern beziehungsweise zu halten, ist inzwischen für beide Seiten eine Prestigefrage geworden. So haben die Regierungstruppen mehrfach Angebote der Aufständischen zum freien Abzug ausgeschlagen, die ukrainische Führung gibt Durchhaltebefehle aus, die ukrainische Öffentlichkeit heroisiert die Soldaten als »Cyborgs«. Am Donnerstag meldeten ukrainische Medien, die Armee sei nun doch dabei, die unweit des Flughafens gelegene Ortschaft Peski zu räumen. Freiwilligenbataillone und der »Rechte Sektor« wollten hingegen ihre Stellungen halten. Fernsehberichte zeigten das völlig zerstörte Zentrum des Ortes. Aus dem Kontext ergibt sich, dass hier Granaten der Volkswehr eingeschlagen sein müssen und sicher nicht nur militärische Ziele getroffen haben. Ebenso wird inzwischen deutlich, dass die Volkswehr bei den Kämpfen um den Flughafen nicht davor zurückgeschreckt ist, ihre Artillerie auch in Wohnvierteln zu stationieren. Bewohner einer solchen Hochhaussiedlung wandten sich vor einigen Tagen mit einer Resolution an die Führung der »Volksrepublik«, in der sie den Abzug der Geschütze aus den Innenhöfen fordern, um die Plattenbauten nicht länger dem Beschuss der Regierungstruppen auszusetzen.

Die neuen Angriffe der Volkswehren – Kiew behauptet, es seien auch russische Truppen ohne Erkennungszeichen darunter – kommen zu einem Zeitpunkt, in dem auch die Ukraine offenbar eine neue Offensive vorbereitet. Möglicherweise sollen sie Fakten schaffen, bevor sich das Kräfteverhältnis zugunsten Kiews verschiebt. Am Donnerstag beschloss das ukrainische Parlament eine weitere Mobilisierung. Bis zum Sommer sollen in drei Stufen insgesamt 50.000 Männer eingezogen werden. Die bisherigen Mobilisierungen waren dadurch gekennzeichnet, dass bei der Auswahl der Wehrpflichtigen offenbar auch Korruption mitspielte. Wer nicht in den Krieg wollte, konnte sich für Summen zwischen 800 US-Dollar im ärmlichen Gebiet Ternopil und 3.000 Dollar in der Hauptstadt Kiew freikaufen. Andere junge Männer mit ausreichendem Vermögen haben sich ins Ausland abgesetzt. In der polnischen Stadt Krakau wächst die Zahl der Ukrainer, die sich unter dem Vorwand eines Studiums der Einberufung entzogen haben. Sie sind sich dabei im klaren darüber, dass sie bis auf weiteres nicht in die Ukraine zurückkehren können.

Mit der neuen Einberufungswelle reagiert Kiew auf die hohen Verluste der Regierungstruppen, die wahrscheinlich deutlich höher liegen als offiziell zugegeben. Ein ukrainischer Fernsehsender zeigte kürzlich eine Reportage von einem Friedhof in Dnipropetrowsk. Dort gebe es nicht nur Hunderte frischer Gräber von ukrainischen Soldaten; die örtlichen Behörden haben dort auf Vorrat eine große Zahl weiterer Gräber ausgehoben – wohl vor dem Winterfrost, der solche Arbeiten beschwerlicher gemacht hätte.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. Januar 2015


Feuer aus allen Rohren

Ukrainische Streitkräfte eröffnen massive Artillerieoffensive bei Donezk. Kiewer Parlament will auf kriegsunwillige Soldaten schießen lassen

Von Reinhard Lauterbach **


Die ukrainischen Streitkräfte im Raum Donezk haben am Sonntag morgen eine massive Artillerieoffensive gegen Stellungen der Aufständischen begonnen. Präsidentenberater Juri Birjukow erklärte, im »Sektor B« hätten die Streitkräfte den Auftrag bekommen, mit allen verfügbaren Mitteln die Positionen der Separatisten zu beschießen. Von der anderen Seite der Front wurde der Angriff bestätigt.

Ziel der ukrainischen Artillerieoffensive ist es wahrscheinlich, die Stellungen der Aufständischen auf dem Flughafen von Donezk zu zerstören. Dort waren die Regierungstruppen in den letzten Tagen unter Druck geraten. In der Nacht zum Sonntag kämpften sich ukrainische Soldaten auf das Flughafengelände vor, um verwundete Soldaten zu evakuieren und tote zu bergen. Dabei soll nach Birjukows Angaben ein Freiwilligenbataillon den Angriffsbefehl verweigert haben. Solche »Feigheit« werde Folgen haben, schäumte der Präsidentenberater.

Welche Folgen gemeint sind, hat jetzt das ukrainische Parlament neu geregelt. Mit der relativ knappen Mehrheit von 242 Stimmen beschlossen die Abgeordneten eine Reihe von Verschärfungen der militärischen Disziplin. Wie die Agentur 112.ua berichtete, sind die Bataillonskommandeure jetzt ermächtigt, in militärischen Kampfsituationen mit allen Mitteln einschließlich Waffengebrauch »Straftaten wie Befehlsverweigerung, Widerstand oder Bedrohung des militärischen Führers oder Aufgabe von Kampfpositionen« zu unterbinden. Den Entwurf hatten zwei Vertreter der »Volksfront« von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk eingebracht, darunter der zum Abgeordneten gewählte Führer eines der Freiwilligenbataillone, Andrij Teteruk. Der Sekretär des ukrainischen Verteidigungsrates, Olexander Turtschinow, hatte zuvor angekündigt, bei der bevorstehenden Mobilisierung von bis zu 100.000 Männern würden vor allem Arbeitslose einberufen, die bei den Arbeitsämtern registriert seien.

Südwestlich von Donezk besichtigte derweil eine Mission der OSZE den Ort, wo am 13. Januar ein Reisebus von unbekannter Seite unter Beschuss geraten war. Die Organisation teilte mit, man habe fünf Granattrichter vor Ort untersucht, darunter einen in zehn Metern Entfernung von dem Bus. Die dort eingeschlagenen Granaten seien aus nord-nordöstlicher Richtung abgefeuert worden. Während die ukrainische Seite diese Information als Beleg für ihre These nahm, dass die Aufständischen den Bus – womöglich unabsichtlich – getroffen und dabei zwölf Menschen getötet hätten, erklärte der russische Vertreter in der OSZE-Mission, der Befund erlaube keine Zuordnung des Beschusses. Der Frontverlauf im Norden und Nordosten des Kontrollpunkts sei unübersichtlich. Die Aufständischen beharren auf ihrer Darstellung, der Bus sei mit einer am Straßenrand aufgebauten Sprengladung der ukrainischen Armee zerstört worden. Als Beleg legten sie die Aussage einer Überlebenden vor, die von nur einer Explosion berichtete, sowie ein Video, das die automatische Aufzeichnungskamera eines hinter dem Unglücksbus wartenden Autos aufgenommen habe. Auf diesem ist eine einzelne Explosion (also nicht fünf, wie die Zahl der Granattrichter erwarten lassen müsste) zu sehen, die im übrigen nicht (wie die OSZE sagt) zehn Meter neben dem Bus stattfand, sondern direkt neben der Autoschlange. Der sichtbare Feuerball erscheint außerdem nicht am Boden, sondern in einiger Höhe über der Straße.

** Aus: junge Welt, Montag, 19. Januar 2015


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