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Pulverfaß Krim

Umkämpfte Halbinsel im Schwarzen Meer: Historische und geopolitische Dimensionen eines komplexen Konflikts

Von Willi Gerns *

Nachdem die prowestlichen Parlamentsparteien in der Ukraine mit Hilfe bewaffneter faschistischer Kräfte und massiver Unterstützung aus Berlin, Brüssel und Washington durch einen Putsch die Macht an sich gerissen haben, kommt es in den eher auf Rußland orientierten Regionen des Landes zu massiven Protesten. Das gilt vor allem für die Autonome Republik Krim (ARK).

In Sewastopol, der Hauptstadt Simferopol und anderen Städten haben Zehntausende, vor allem Angehörige der russischen Bevölkerungsmehrheit, ihren Protest gegen die Putschisten auf die Straßen und Plätze getragen. Selbstverteidigungseinheiten wurden gebildet, Verwaltungen und strategische Einrichtungen besetzt. Die Grenze zur übrigen Ukraine wird von Angehörigen der Sonderpolizeieinheit Berkut und Selbstverteidigungskräften kontrolliert. Das Parlament, die Werchowna Rada (Oberster Rat) der ARK, hat den bisherigen Ministerpräsidenten abgelöst und Sergej Aksjonow zum neuen Premier ernannt. Dieser hat die Truppen des Innenministeriums und des Sicherheitsdienstes SBU sowie die Streitkräfte, den Zivilschutz, die Zollbehörde und den Grenzschutz seinen Befehlen unterstellt. Aksjonow ersuchte Rußland um Hilfe bei der Gewährleistung von Frieden und Ruhe auf dem Territorium der Autonomen Republik Krim.

Die russische Duma hat Präsident Putin aufgefordert, der Bitte nachzukommen. Am Samstag ersuchte der Präsident daraufhin den Föderationsrat, den Einsatz russischer Truppen auf dem Territorium der Ukraine, »bis zur Normalisierung der gesellschaftspolitischen Lage in diesem Land« für den Fall zu genehmigen, daß das Leben russischer Bürger und Landsleute sowie die Sicherheit der russischen Truppen, die gemäß einem internationalen Vertrag auf der Halbinsel Krim stationiert sind, in Gefahr ist. Dem Ersuchen des Präsidenten hat der Föderationsrat entsprochen. Von der Vollmacht des Präsidenten ist bisher allerdings noch kein Gebrauch gemacht worden. Schon vordem war die russische Militärpräsenz zum Schutz der Stützpunkte auf der Krim in Übereinstimmung mit den zwischen der Ukraine und Rußland bestehenden Verträgen in begrenztem Maß verstärkt worden.

Das Parlament der ARK hat eine Volksabstimmung über den künftigen Status der Halbinsel beschlossen. Sie sollte zunächst am 25. Mai stattfinden, wurde dann aber angesichts der sich zuspitzenden Ereignisse auf den 30. März vorverlegt. Abgestimmt wird über die Frage: »Sind Sie für die staatliche Selbständigkeit der AR Krim im Bestand der Ukraine auf der Grundlage von Verträgen und Abkommen?« Es geht folglich nicht um die Lostrennung der Krim von der Ukraine und ihre Angliederung an Rußland, wie die Putschisten in Kiew und ihre Nachbeter im Westen kolportieren, sondern um die Sicherung und Erweiterung des Autonomiestatus und dessen Garantie.

Deutschland, die EU, die USA und die NATO – d. h. Staaten und Organisationen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten viele Male die territoriale Souveränität anderer Staaten mißachtet, sie militärisch überfallen und ihre Regierungen gestürzt haben – fordern jetzt von Rußland die Achtung der territorialen Souveränität der Ukraine, Zurückhaltung und die Nichtanwendung militärischer Gewalt. Sie hätten gut daran getan, darauf zu verzichten, ihnen genehme prowestliche Politiker und faschistische Banden bei deren Putsch zu unterstützen, dessen Ergebnis die aktuellen Probleme auf der Krim sind.

Und sie täten ebenso gut daran, ihre Appelle zur Zurückhaltung nunmehr nicht an Rußland, sondern an ihre Zöglinge in Kiew zu richten, die mit aufgeblasenen Backen Drohungen gegen Moskau ausstoßen, die Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee ausgerufen sowie die Mobilisierung der Reservisten angeordnet haben und von der NATO militärische Unterstützung fordern. Da kann die Welt nur froh sein, daß es Juschtschenko und Timoschenko seinerzeit nicht gelungen ist, die Ukraine zum NATO-Mitglied zu machen. Die heutigen Abenteurer in Kiew hätten die Welt in Brand stecken können. Brandgefährlich bleibt die Lage dennoch.

Im Widerspruch zu den historischen Fakten skandieren die Putschisten: »Die Krim ist, war und wird ein Teil der Ukraine sein«. Um den Hintergründen und Zusammenhängen der vielfältigen Probleme auf der Krim näher zu kommen, wollen wir einen kurzen Blick auf die tatsächlichen geschichtlichen Fakten und den derzeitigen Status der Halbinsel werfen.

Geschichte und heutiger Status

Nachdem die Krim in ihrer bis weit vor unsere Zeitrechnung zurückreichenden wechselvollen Geschichte nacheinander unter mehr als einem Dutzend verschiedener Herrschaftsformen gestanden hatte, geriet sie Ende des 18. Jahrhunderts unter die Oberhoheit des zaristischen Rußlands. Während des Bürgerkrieges und der Intervention der 14 imperialistischen Staaten nach dem Sieg der Oktoberrevolution 1917 war sie zeitweilig von weißen Truppen besetzt. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurde sie 1921 eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb Sowjetrußlands.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Halbinsel von der faschistischen deutschen Wehrmacht okkupiert. Nach ihrer Befreiung 1944 wurde der Status einer ASSR nicht wiederhergestellt. Die Krim wurde zu einem gewöhnlichen administrativen Territorium der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Der Grund dafür dürfte in dem kollektiven Vorwurf an die Krimtataren (nach Angaben für 1936 fast ein Viertel der Bevölkerung der Krim) zu suchen sein, mit den deutschen Besatzern kollaboriert zu haben. Sie wurden nach Zentralasien verbannt und durften erst ab 1988 zurückkehren.

Unter Nikita Chruschtschow (von 1953 bis 1964 Erster Sekretär der KPdSU) wurde die Halbinsel dann 1954 unter Bruch der Verfassung der RSFSR aus der RSFSR ausgegliedert und an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik übertragen. Es war dies ein »Geschenk« des für seine voluntaristischen Eskapaden bekannten Ukrainers Chruschtschow an seine Heimat aus Anlaß des 300. Jubiläums der Rada von Perejaslaw, bei der sich der von Polen bedrängte Kosakenstaat dem Russischen Reich anschloß. Während dies 1954 trotz des Umstands, daß die Bevölkerungsmehrheit der Krim aus ethnischen Russen bestand, in dem einheitlichen Vielvölkerstaat UdSSR keine größere Rolle spielte, liegt darin nach der Zerschlagung der Sowjetunion – wie wir im weiteren sehen werden – eine bedeutende Quelle von Konflikten.

Die jüngere Geschichte der Krim hat ihren Niederschlag auch in deren heutiger Bevölkerungsstruktur gefunden. Die ethnischen Russen stellen mit rund 60 Prozent die große Mehrheit der etwa zwei Millionen Bewohner, gefolgt von den Ukrainern mit etwa 24 Prozent und den Krimtataren mit zwölf Prozent. Hinzu kommen Angehörige vieler anderer Ethnien. Noch eindeutiger ist die Dominanz des Russischen in Sprache und Kultur. So bezeichneten 2001 bei einer Volkszählung 77 Prozent der Krimbewohner Russisch als ihre Muttersprache, elf Prozent Krimtatarisch und zehn Prozent Ukrainisch.

Im Januar 1991 hat sich die große Mehrheit der Krimbewohner in einem Referendum für eine autonome Krimrepublik innerhalb der Sowjetunion ausgesprochen. Diese Entscheidung wurde jedoch sehr bald von der Auflösung der UdSSR und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine eingeholt. Daraufhin verabschiedeten die Abgeordneten des Parlaments der Krim im Mai 1992 eine Verfassung der Republik Krim. Diese wurde von den Machtorganen der Ukraine nicht akzeptiert. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Verfassung und den Status der Krim innerhalb der Ukrainischen Republik, die sich mehr als sechs Jahre hinzogen. Erst im Oktober 1998 wurde dann eine Verfassung der Autonomen Republik Krim (ARK) beschlossen, die von beiden Seiten akzeptiert wurde.

Diese Verfassung gab der Krim relativ weitgehende Autonomierechte. Die Republik hat ein eigenes Staatswappen, einen eigenen Präsidenten und eine eigene Regierung. Nach Aussagen des Expräsidenten der Obersten Rada und Exvorsitzenden des gesellschaftlichen Rats zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Vollmachten der Autonomen Republik Krim, Leonid Gratsch, in einem Interview für die US-Zeitung Chicago ­Tribune aus dem Jahr 2008 gehörte zu den Rechten der ARK auch die Beteiligung an der Ausarbeitung außenpolitischer und außenwirtschaftlicher Entscheidungen der Ukraine, die die ARK berühren. Ein weiteres Recht betrifft die Verfügung über auf der Krim erhobene Steuereinnahmen. Angesichts der Tatsache, daß Russisch für die überwältigende Mehrheit der Krimbewohner die Muttersprache ist, sind die in vier Paragraphen der Verfassung verankerten Regelungen über den Gebrauch dieser Sprache von ganz besonderer Bedeutung. Sie garantierten den Gebrauch des Russischen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – u.a. im Bildungswesen, in Kultur und Wissenschaft sowie in der Gerichtsbarkeit.

Ukrainisierung und Russophobie

Nach dem Machtantritt der »Orange-Revolutionäre« Juschtschenkos und Timoschenkos 2005 wurden die Autonomierechte der Krim in zunehmendem Maße von der ukrainischen Zentralregierung in Kiew mißachtet. Leonid Gratsch führte dafür zahlreiche Beispiele an. Er nannte z.B. den von Juschtschenko, der Ministerpräsidentin Timoschenko und dem Parlamentspräsidenten der Ukraine unterzeichneten Brief an die NATO, in dem um Aufnahme der Ukraine in den Aktionsplan für die NATO-Mitgliedschaft ersucht wurde. Dieses Ersuchen stand im krassen Widerspruch zur Haltung der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Nach Umfragen von Ende August 2008 waren lediglich 18 Prozent der Meinung, daß das Land »möglichst rasch« der NATO beitreten sollte. Mehr als die Hälfte beantwortete die Frage nach dem NATO-Beitritt mit einem »definitiven Nein«.

Auf der Krim war und ist diese Ablehnung noch wesentlich größer, und sie äußerte sich nicht nur bei Befragungen, sondern auch in machtvollen Protestaktionen gegen die unter Verletzung der ukrainischen Verfassung veranstalteten NATO-Manöver auf der Krim. Bei einem NATO-Beitritt der Ukraine bestünde die Perspektive der Krim zweifellos darin, den USA und der NATO als Flugzeugträger und Marinebasis gegen Rußland zu dienen. All das berührt natürlich die Interessen der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger insgesamt, die der Krim aber in ganz besonderem Maße. Leonid Gratsch wies darum darauf hin, daß beim Brief an die NATO entsprechend der Verfassung der ARK die Krim hätte konsultiert werden müssen, entweder über das dortige Parlament oder über ein Referendum.

Beschnitten wurde nach seinen Worten auch die Hoheit der Verfassungsorgane der Krim über die auf der Halbinsel erhobenen Steuern. Sie mußten fortan nach Kiew abgeführt werden, und die Krim mußte dort als Bittsteller auftreten.

In besonderem Maße wurde die Krim durch die unter Juschtschenko vorangetriebene Zurückdrängung des Russischen betroffen. Sie war derart eklatant, daß damals selbst in einigen westlichen Medien von einer »Ukrainisierung« die Rede war. Wie in einem Beitrag von Pierre Heumann aus Kiew im Handelsblatt vom 11. September 2008 zu lesen war, sollte in den Schulen in der Perspektive nur noch auf ukrainisch unterrichtet werden. Während z.B. in Kiew vier Jahre zuvor – als Juschtschenko das Staatsruder übernahm – noch an etwa 200 Schulen auf russisch unterrichtet wurde, waren es 2008 nur noch sechs.

Nach dem Wahlsieg Janukowitschs bei den Präsidentschaftswahlen 2010 wurden die schlimmsten Auswüchse der Herabsetzung der russischen Sprache durch ein neues, 2012 verabschiedetes Sprachengesetz korrigiert. Laut dem Gesetz wurde dem Russischen der Status einer Regionalsprache zuerkannt. Es wurde zweite Amtssprache neben dem Ukrainischen. Das galt in Regionen, in denen Russisch für mindestens zehn Prozent der Bevölkerung die Muttersprache ist, und traf für 13 der 27 regionalen Gebilde der Ukraine zu. Nach einer Studie der ukrainischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 2011 sprechen knapp 43 Prozent der ukrainischen Bevölkerung zu Hause ukrainisch und fast 39 Prozent benutzen Russisch.

Für die ukrainisch-nationalistische Prägung des jetzigen Putschs ist bezeichnend, daß zu einem der ersten »Gesetze« der neuen Machthaber die Abschaffung des genannten Sprachengesetzes gehörte. Das steht im eklatanten Widerspruch zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen und hat auch Kritik im Westen, u.a. beim luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn hervorgerufen. Der Unmut der westlichen Paten der Putschisten, die offenbar befürchten, daß diese sich damit selbst als nationalistische Ultras entlarven und das von westlichen Medien gezeichnete schöne demokratische Bild der neuen Machthaber schmutzige braune Flecken bekommt, dürfte der Grund dafür sein, daß der sogenannte Übergangspräsident versprach, daß das neue Gesetz zurückgezogen werde. Geschehen ist das bisher nicht, und man kann davon überzeugt sein, daß die Nationalisten es für einen für sie günstigeren Zeitpunkt gut verwahren.

Der russophobe Ukrainisierungsfeldzug Juschtschenkos und seines Gefolges betraf aber nicht nur die Sprache, Schulen und Hochschulen. So wurde z.B. auch die Zahl der Filme auf russisch begrenzt, russische Theaterproduzenten konnten, anders als ukrainische, nicht mit Subventionen rechnen. Und selbst Beipackzettel von Medikamenten wurden nur noch auf ukrainisch abgefaßt.

Eine Provokation für die große Mehrheit der ethnischen Russen, aber auch für viele andere Bürger der Ukraine bedeuteten zudem die Anstrengungen Juschtschenkos und seines Klans zur Umdeutung der Geschichte. So wurde die schreckliche Hungersnot der Jahre 1932/33, von der westliche Teile der Sowjetunion, darunter besonders auch die Ukraine, betroffen waren, als »Genozid« der Sowjetunion an der ukrainischen Bevölkerung in den Geschichtsbüchern dargestellt und in den Schulen verpflichtend gelehrt. Zu Freiheitskämpfern und Nationalhelden des »ukrainischen Befreiungskampfes« wurden die Nazikollaborateure und Judenmörder der nationalistischen Bewegung OUN (»Organisation Ukrainischer Nationalisten«) und ihres militärischen Armes, der UPA (»Ukrainische Aufstandsarmee«), hochstilisiert. Den Nazikollaborateuren Roman Schuchewitsch und Stepan Bandera verlieh Juschtschenko postum den Titel Held der Ukraine. Janukowitsch machte dies rückgängig. Man kann davon ausgehen, daß die neuen Herren in Kiew nun ihrerseits den Erlaß Janukowitschs bald rückgängig machen werden. Dafür wird schon der Druck der bewaffneten Faschisten sorgen, die sie an die Macht gebracht haben.

Die Marinebasis Sewastopol

In Sewastopol unterhielt bereits das russische Zarenreich einen Marinestützpunkt. Während der Sowjetzeit war die Stadt die Heimatbasis der sowjetischen Schwarzmeerflotte. Heute ist dort die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Schon bald nach dem Zerbrechen der UdSSR und nach Ausrufung der Unabhängigkeit Rußlands und der Ukraine hatte es Meinungsverschiedenheiten um den Stützpunkt gegeben. Sie konnten jedoch durch den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997 bedeutend entschärft werden. Rußland hat seither einen Teil des Militärhafens Sewastopol für seine Schwarzmeerflotte gepachtet. Der Vertrag hatte zunächst eine Laufzeit bis 2017. Im Jahr 2010 ist er durch den damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew und seinen ukrainischen Amtskollegen Janukowitsch bis 2042 verlängert worden. Dafür gewährte Rußland der Ukraine einen Rabatt von 100 US-Dollar für je 1 000 Kubikmeter Erdgas. In dem Abkommen gibt es keine Kündigungsklausel für die Vereinbarungen.

Juschtschenko hatte während seiner Präsidentschaft – sicherlich nicht ohne Absprache mit seinen Hintermännern in Washington und Brüssel, die es darauf abgesehen haben dürften, nach einem NATO-Beitritt der Ukraine dort ihre Flotteneinheiten direkt vor den Toren Rußlands zu stationieren – jede Verlängerung des Pachtvertrages abgelehnt. Und wen könnte es überraschen, daß auch die Putschisten in Kiew sich bereits gegen den Vertrag positioniert haben.

Das ist noch gefährlicher als ihre Drohgebärden gegen die russischen Protestierer auf der Krim. Der Vertrag und seine Laufzeit sind für Rußland unantastbar, weil sie für seine Sicherheit von existentieller Bedeutung sind. Nach Meinung des Marineexperten Klaus Mommsen, die er am vergangenen Donnerstag in einem Interview der Deutschen Welle äußerte, ist der Stützpunkt Sewastopol für Rußland »alternativlos«. Er sei »der einzige Hafen, der wirklich die gesamte russische Schwarzmeerflotte aufnehmen kann, ihr Schutz und entsprechende Logistik bietet. Es gibt für die Russen noch keinen Ersatz.« Für Rußland ist – so Mommsen – die Basis in Sewastopol »das Sprungbrett in Richtung Süden, also hin zum Mittelmeer und Nahen Osten«.

An diesem Punkt kann und wird Rußland nicht nachgeben. Allerdings besteht die Gefahr, daß in Zukunft hier ständig die Lunte an ein Pulverfaß gelegt wird, die angezündet die Welt in Brand stecken könnte.

Die Krimtataren

Zusätzlichen Sprengstoff birgt der Krisenherd Krim durch Konflikte zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Krimtataren. Den tiefsten Hintergrund dafür bilden die unerträglichen Lebensbedingungen für die meisten Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe. Etwa 250000 sind aus Mittelasien zurückgekehrt. Dies fiel in die Zeit der Zerschlagung der Sowjetunion sowie die folgenden Jahre. Wie in allen Nachfolgerepubliken der UdSSR bedeutete der Umbruch auch auf der Krim für die Masse der Bevölkerung den Absturz in tiefes soziales Elend. Unter diesen Bedingungen wurden die Ankömmlinge nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen. Große soziale Unsicherheit herrscht nach wie vor. Die Arbeitslosigkeit unter den Krimtataren soll bis zu 70 Prozent betragen. Soziale Not bildet aber häufig den Nährboden für religiöse und nationale Konflikte.

Im Unterschied zu den orthodox-christlichen Russen und Ukrainern sind die Krimtataren Muslime. Nach 1991 hat auf der Halbinsel eine stürmische Neubelebung der Orthodoxie stattgefunden. Die orthodoxen Symbole haben sich rasch ausgebreitet, und das auch bis in die unmittelbare Nähe muslimischer heiliger Stätten. Im Jahr 2000 hat dies zu einem scharfen Konflikt geführt. Damals stürzten Krimtataren christliche Kreuze um, die von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche im Verein mit dem Moskauer Patriarchat anläßlich der 2000-Jahr-Feier von Christi Geburt in verschiedenen Gegenden der Krim errichtet worden waren, darunter auch an solchen Orten, die für die Krimtataren von ganz besonderer religiöser und nationaler Symbolik sind.

Die muslimischen Gemeinden werden gegenüber den orthodoxen benachteiligt – wie aus einem Beitrag von Viktor Yelinski in Ost-West. Europäische Perspektiven. Zeitschrift für Mittel- und Osteuropa (Heft 4/2007) hervorgeht. Die Veröffentlichung ist zwar schon einige Jahre alt. Wesentliches dürfte sich an dieser Problematik aber kaum geändert haben. Der Autor weist darauf hin, daß bis zu jenem Zeitpunkt die muslimischen Gemeinden noch nicht in die erhalten gebliebenen Moscheen zurückkehren konnten. Allerdings seien etwa 70 neue Gebetshäuser errichtet worden – meist mit Geldern aus der Türkei, aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie der Diaspora. Die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bewirkt natürlich Einfluß seitens von dort kommender Missionare. Und der dürfte kaum auf das friedliche Miteinander der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften gerichtet sein.

Vor diesem Hintergrund sind die krimtatarischen Führer – so Yelinski – »überaus empfänglich für die Bekundungen eines religiösen Extremismus und nehmen mit den Ideen eines politischen Islam aus den Staaten des Nahen Ostens spürbaren Einfluß auf die muslimischen Gemeinden der Halbinsel«. Das findet auch in extremen politischen Positionen seinen Niederschlag. Dazu gehört die Behauptung, die Krimtataren seien das indigene Volk der Krim, Russen und Ukrainer dagegen Eroberer. Als Ziel verkünden die krimtatarischen Extremisten eine »Nationale Krimtatarische Republik«. Das schürt Unruhe unter der Mehrheitsbevölkerung der Halbinsel und fördert seinerseits russischen und ukrainischen Nationalismus.

Dieser sich gegenseitig hochschaukelnde Extremismus kann jedoch nur zum Schaden aller auf der Krim lebenden Ethnien sein. Das zeigt sich auch in der gegenwärtigen aufgeladenen Situation. Neben den eingangs erwähnten Protesten der Russen auf der Krim gegen den Putsch in Kiew hat es Demonstrationen von Krimtataren für die Putschisten gegeben. Offenbar glaubt ein Teil von ihnen mit dem Putsch ihrem genannten Ziel einer »Nationalen Krimtatarischen Republik« näher zu kommen. Zwischen den Demonstranten mit entgegengesetzter Motivation ist es bereits zu Zusammenstößen gekommen. Sie haben Todesopfer und Verletzte gefordert.

Alles in allem braut sich auf dem Hintergrund des vom Westen unterstützten Putsches in der Ukraine auf der Krim ein hochexplosives Konfliktgemisch zusammen, das jederzeit explodieren und zu unabsehbaren Folgen führen kann.

* Willi Gerns ist Redaktionsmitglied der Marxistischen Blätter (www.marxistische-blaetter.de)

Aus: junge Welt, Dienstag, 4. März 2914



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