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Sorgen um die Krim

Moskau überprüft Einsatzbereitschaft seiner Truppen *

Russland sorgt sich wegen der Vorgänge in der Ukraine, vor allem mit Blick auf die Krim. Derweil löst Kiew die Sonderpolizei auf.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Mittwoch eine Überprüfung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte im Westen und im Zentrum Russlands angeordnet. Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte der Agentur Interfax, es sollten die Fähigkeiten der Einheiten überprüft werden, mit Krisensituationen umzugehen, die »eine Bedrohung für die militärische Sicherheit des Landes darstellen«. Der Umsturz in der Ukraine wird in Moskau aufmerksam beobachtet. Überprüfungen der Einsatzbereitschaft russischer Truppen sind allerdings nicht ungewöhnlich.

Derweil erklärte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel: »Die Ukraine ist ein enger und langjähriger Partner der NATO. Und die NATO ist ein aufrichtiger Freund der Ukraine. Wir sind bereit, der Ukraine weiterhin bei ihren demokratischen Reformen zu helfen.«

In der Ukraine selbst wird die wegen ihres Vorgehens gegen Regierungsgegner kritisierte Sonderpolizei »Berkut« aufgelöst. Das beschloss am Mittwoch das Kiewer Innenministerium. Übergangspräsident Alexander Turtschinow ernannte sich selbst per Dekret zum Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Wo sich der abgesetzte Staatschef Viktor Janukowitsch aufhält, war weiter unklar.

Janukowitschs Vorgänger Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma und Viktor Juschtschenko zeigten sich in einer Erklärung besorgt über die gespannte Lage auf der Halbinsel Krim. Sie forderten Russland auf, sich nicht in der Autonomen Republik einzumischen. Die Mehrheit der Bewohner dort sind Russen. Nach einer Ad-hoc-Abstimmung ist der Russe Alexander Tschalyi Bürgermeister der Stadt Sewastopol, der Basis der russischen Schwarzmeerflotte. Russische Politiker reisten auf die Halbinsel, um die Lage zu sondieren. Der Parlamentspräsident der Autonomen Republik, Wladimir Konstantinow, erklärte indessen, eine Trennung der Krim von der Ukraine sei nicht beabsichtigt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 27. Februar 2014


Kampf um die Krim

Ukraine: Demonstrationen für und gegen Annäherung an Rußland **

Nach dem Putsch in der Ukraine ist es auf der Halbinsel Krim zu Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Staatsstreichs gekommen. Mehrere tausend Tataren demonstrierten vor dem Regionalparlament in Simferopol gegen eine befürchtete Abspaltung der Autonomen Republik Krim. Sie schwenkten blaugelbe Landesflaggen und riefen: »Die Ukraine ist nicht Rußland.« Bei einer Gegendemonstration forderten rund 5000 Menschen, viele davon in Kosakentracht, eine engere Anbindung an die Russische Föderation. Die Mehrheit der Einwohner auf der Halbinsel ist russischer Abstammung. Zudem ist in Sewastopol auf Grundlage eines Pachtvertrages die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Moskau ordnete angesichts der Lage den Schutz der dort stationierten Schiffe vor Übergriffen an.

Zudem läßt die russische Regierung die Gefechtsbereitschaft der Armee im Grenzgebiet überprüfen. Dazu seien Truppenteile in Alarmbereitschaft versetzt worden, sagte Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Mittwoch. Die Anordnung stehe aber nicht im Zusammenhang mit dem Machtwechsel im Nachbarland. Der Westen, der an dem Staatsstreich in Kiew maßgeblich beteiligt war, lehnte prompt »ausländische Einmischung« in der Ukraine ab. NATO-Sprecher warnten davor, »die Unabhängigkeit der Ukraine zu mißachten«.

In Kiew ernannte sich De-facto-Präsident Olexander Turtschinow selbst per Dekret zum neuen Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Allerdings hat es bislang sowohl aus Sicht der EU-Regierungen als auch Rußlands keinen legalen Machtwechsel gegeben. Zum einen hat der bisherige Staatschef Wiktor Janukowitsch noch nicht formell seinen Rücktritt erklärt, zum anderen fehlt auch die Unterschrift des Präsidenten unter die vereinbarte Rückkehr zur alten ukrainischen Verfassung. Wo sich der mit Haftbefehl gesuchte Janukowitsch aufhält, war auch am Mittwoch unklar.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 27. Februar 2014


Schachernde Brandstifter

Regierungsbildung in Kiew bahnt sich an. Faschisten verwüsteten Wohnung des KP-Vorsitzenden Symonenko. Unruhe auf der Krim

Von Reinhard Lauterbach ***


In der Ukraine kommt die Regierungsbildung offenbar voran. Nach Informationen, die am Mittwoch bekannt wurden, ist der Maidan-Führer Arseni Jazenjuk als neuer Ministerpräsident vorgesehen. Er gehört der »Vaterland«-Partei von Julia Timoschenko an, die mit Olexander Tur­tschinow auch den Parlamentspräsidenten und amtierenden Staatschef stellt. Als Außenminister ist den Angaben zufolge Boris Tarasjuk vorgesehen, ein ehemaliger enger Mitarbeiter von Altpräsident Wiktor Juschtschenko. Er hatte dieses Amt schon 1998–2000 und 2005/2006 inne. Tarasjuk ist Anhänger einer Annäherung der Ukraine an die »euroatlantischen Strukturen«. Verteidigungsminister wird möglicherweise Andrij Parubyj, ein »Vaterland«-Politiker, der zuletzt als Kommandant des Maidan und damit auch Befehlshaber der »Selbstverteidigung« bekannt geworden war. Zwei oder drei Kabinettsposten sind für die faschistische »Freiheit«-Partei vorgesehen, mehrere Ministerien mit sozialpolitischem Profil sollen offenbar an Vertreter des »Euromaidan« gehen.

Ob die Aktivisten auch Staatssekretärsposten in den klassischen Ministerien erhalten, ist offenbar noch nicht klar. Sie hatten dies mit der Begründung verlangt, nur so Korruptionsfällen nachgehen zu können, die etablierten Politiker zweifeln aber halblaut an der Professionalität der Aktivisten. Gegen den beabsichtigten Durchmarsch der Freiheitspartei regt sich allerdings auch Widerstand: Studenten besetzten in Kiew das Gebäude des Bildungsministeriums, um gegen die Ambitionen der »Freiheit«-Politikerin Irina Farion auf das Ressort zu protestieren. Farion gilt als nationalistische Hardlinerin. Sie hat gefordert, sogar das Abspielen russischer Popmusik in öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbieten. Unterdessen hat der Oligarch Rinat Achmetow eine Loyalitätserklärung gegenüber der neuen Staatsmacht abgegeben. In einer Mitteilung seiner Unternehmensgruppe SKM heißt es, man strebe eine neue Ukraine an, in der das Eigentum und der freie Wettbewerb gesichert seien und in der transparent regiert werde. Achmetow galt als Chef des »Donezker Clans« und wesentlicher Finanzier von Expräsident Janukowitsch.

Im Schatten dieses Intrigrantenstadels schreiten die Faschisten vom »Rechten Block« zur Tat. In der Nacht zum Dienstag wurden die Wohnungen des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, Petro Symonenko, und des ehemaligen Leiters der Präsidialverwaltung Janukowitschs, Andrij Kljujew, verwüstet und angezündet. Kljujew wurde verprügelt und kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Der »Rechte Block« kündigte an, seine Aktivitäten mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai fortzusetzen. Er mißtraut den etablierten Politikern und verdächtigt sie, lediglich eine Oligarchenclique gegen eine andere auszutauschen und die »Revolution« zu verraten.

Auf der Krim wachsen derweilen die Spannungen. Schon seit Tagen haben in der Hafenstadt Sewastopol russische Bewohner gegen den Kiewer Machtwechsel demonstriert und gefordert, die Halbinsel wieder wie vor 1954 an Rußland anzuschließen. Nach Kiewer Muster wurden Selbstverteidigungseinheiten gebildet, und an den zwei Ausfallstraßen der Stadt wurden Spanische Reiter als Straßensperren vorbereitet. Am Mittwoch kam es in Simferopol, der Hauptstadt der Autonomen Republik Krim, zu konkurrierenden Demonstrationen von Gegnern und Anhängern des Kiewer Machtwechsels. Während das Parlament plante, eine Debatte über den künftigen Status der Krim zu führen und etliche tausend prorussische Demonstranten dies unterstützten, versammelten sich hinter einer Polizeiabsperrung mehrere tausend Krimtataren. Sie riefen Parolen zur Unterstützung der Kiewer Übergangsregierung und kündigten Widerstand gegen eine eventuelle Loslösung der Krim von der Ukraine an.

In Rußland forderten Parlamentsabgeordnete, die Bedingungen zu erleichtern, unter denen Bewohner der Krim und anderer ukrainischer Regionen die russische Staatsbürgerschaft erhalten können. Rußland testet offenbar einstweilen, wie tragfähig die prorussischen Bewegungen sind. Die bisherigen Erfahrungen sind aus Moskauer Sicht wenig ermutigend. Ein Versuch, direkt nach dem Kiewer Putsch einen Gegenkongreß der russischsprachigen Gebiete in Charkiw zu veranstalten, ist am Wochenende im Sande verlaufen.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 27. Februar 2014


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