Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Umstrittene Sonnenbank

Eine kleine Geschichte des Konflikts um die Krim

Von Reinhard Lauterbach *

Die Schwarzmeerhalbinsel Krim – mit etwa 26000 Quadratkilometern und zwei Millionen Einwohnern ist sie etwas kleiner als das Bundesland Brandenburg – kam Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft. Zuvor hatten dort die osmanische Türkei und ein autonomes Chanat der Krimtataren geherrscht, das sich durch Sklavenraubzüge bis weit nach Polen hinein den Ruf eines »Schurkenstaates« der frühen Neuzeit erwarb. Nach der russischen Eroberung floh ein Großteil der tatarisch- und türkischstämmigen Bevölkerung in die Türkei oder wurde in andere Teile des russischen Reiches und des Balkans umgesiedelt. Was aus russischer Sicht als Besiedlung der Krim mit Siedlern aus allen Teilen des Reiches, aber auch aus Deutschland, wahrgenommen wird, stellt sich aus Sicht der Tataren als ethnische Säuberung dar.

Nach der Oktoberrevolution 1917 herrschten auf der Krim im Wechsel Sowjets, Deutsche und »weiße« Truppen, bevor sich Ende 1920 die Sowjetmacht durchsetzte. Anschließend bekam die Krim den Status einer autonomen Republik im Rahmen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik RSFSR. Kurzzeitig war die tatarische Sprache im Zuge der Politik der »Einwurzelung« der Sowjetmacht gleichberechtigt; ab Ende der 1920er Jahre wurde diese kulturelle Autonomie jedoch zugunsten einer stärkeren Russifizierung rückgängig gemacht. Der latente Konflikt zwischen der tatarischen Bevölkerung und der russisch dominierten Sowjetmacht führte dazu, daß während der deutschen Besatzung ein größerer Teil der Krimtataren mit den Deutschen kollaborierte. Stalin ließ deshalb nach der Befreiung der Krim im Mai 1944 die Tataren nach Zentralasien umsiedeln. 1967 wurden sie zwar von dem pauschalen Vorwurf der Kollaboration rehabilitiert, es dauerte aber weitere 20 Jahre, bis sie aus ihren Verbannungsorten auf die Krim zurückkehren konnten.

Heute wird die Zahl der tatarischen Bevölkerung auf der Krim mit etwa 250000 angegeben, das sind etwa 12,5 Prozent der Bevölkerung. Ihre wirtschaftliche Lage ist durch Wohnungsmangel, Bildungsdefizite und Arbeitslosigkeit schlechter als die der übrigen Nationalitäten. 60 Prozent der Bewohner der Krim sind ethnische Russen, der Rest Ukrainer und andere Minderheiten.

Zur Ukraine gehört die Krim erst seit 1954. Damals übertrug KPdSU-Generalsekretär Nikita Chru­schtschow, ein gebürtiger Ukrainer, die Halbinsel von der russischen an die ukrainische Sowjetrepublik. Anlaß des quasifeudalen Geschenks war das 300. Jubiläum des Vertrags von Perejaslaw, mit dem sich die in der Südukraine siedelnden Kosaken der Oberhoheit des russischen Zaren unterstellt hatten. In den Zerfallswirren der Sowjetunion stand die Krim vor der Entscheidung, sich von der Ukraine loszusagen und zu Rußland zurückzukehren. Der heutige Status der Krim als autonome Republik innerhalb der Ukraine wurde seinerzeit als Kompromißlösung ausgehandelt. Die Autonomie bedeutet unter anderem den gleichberechtigten Status für das Russische als Amtssprache. Auch sonst ist der russische Einfluß auf der Krim stark, nicht zuletzt deshalb, weil der Marinehafen von Sewastopol ein wichtiger Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte ist. Sie kann den Hafen bis 2042 nutzen, nachdem Wiktor Janukowitsch den Pachtvertrag, der ursprünglich 2017 hatte auslaufen sollen, im Tausch gegen einen Gasrabatt um 25 Jahre verlängert hatte. Man kann damit rechnen, daß die neuen Machthaber in Kiew versuchen werden, diesen Vertrag aufzukündigen.

Die Krimtataren haben sich seit der ukrainischen Unabhängigkeit immer betont zu Kiew bekannt. Wie die Auseinandersetzungen vom Mittwoch vor dem Krim-Parlament in Simferopol gezeigt haben, droht der Streit um die Zukunft der Halbinsel damit eine ethnische Fassade zu bekommen. Während die Russen fürchten müssen, daß die neue, nationalistische Regierung in Kiew ihre Autonomierechte beschneidet oder streicht, hätten die Tataren von einer solchen Entwicklung nur zu gewinnen – bis dahin, daß sie zum Titularvolk der Krim erklärt werden könnten. Entsprechende Forderungen gibt es schon seit Jahren; es wäre allerdings angesichts der ethnischen Mehrheitsverhältnisse eine klare Provokation von seiten der Regierung in Kiew, jetzt darauf einzugehen. Weil damit auch die ansässigen Ukrainer in eine Minderheitenposition im eigenen Land kämen, scheint ein solcher Schritt derzeit wenig wahrscheinlich.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. Februar 2014


Grenzen der Geduld

Rußland und die Krim-Krise

Von Knut Mellenthin **


Rußlands Regierung hat dafür zwar keinen Anlaß gegeben. Arrogante Verhaltensmaßregeln und Drohungen Richtung Moskau können aber trotzdem nicht schaden, scheinen viele Politiker des Westens zu denken. »Jede Art von Militärintervention, die die souveräne territoriale Integrität der Ukraine verletzten würde, wäre ein riesiger und schwerer Fehler«, sagte US-Außenminister John Kerry am Mittwoch (Ortszeit) vor Journalisten in Washington. »Die territoriale Integrität der Ukraine« müsse »respektiert werden«. Von Rußland, wohlgemerkt, und von den über acht Millionen Russen, die vor allem im Osten der Ukraine leben und denen das von USA und EU unterstützte Putschregime gerade das verfassungsmäßige Recht auf ihre eigene Sprache aberkannt hat.

Kerry nutzte die Gelegenheit auch, um ein paar alte Forderungen zu wiederholen: Rußland müsse seine Truppen aus den von Georgien beanspruchten Republiken Südossetien und Abchasien zurückziehen. An Georgien richtete der Chef des State Department den Appell, sich noch enger an die EU und an die NATO anzuschließen. Als weiteres Thema steht in nächster Zeit vermutlich die Liquidierung der kleinen, überwiegend von Russen und Ukrainern bewohnten Republik Pridnestrowje (Transnistrien) auf dem Programm, die sich vor 22 Jahren von Moldawien lossagte.

Nachdem in weiten Teilen der Ukraine der Staats- und Sicherheitsapparat zusammengebrochen ist und dort fast nur noch die Strukturen der rechtsextremen Nationalisten funktionieren, sind Schutzmaßnahmen des russischen Bevölkerungsteils nur natürlich und geradezu zwangsläufig. Westliche Politiker, die eben noch der Besetzung von Regierungsgebäuden in Kiew und in der West­ukraine durch bewaffnete Faschisten applaudierten, wirken nur trostlos verlogen, wenn sie sich jetzt darüber empören, daß ins Parlament von Simferopol, der Hauptstadt der Autonomen Republik Krim, eine russische »Selbstverteidigungsgruppe« eingezogen ist.

Rußland hat in allen Phasen der Entwicklung seit der Auflösung der Sowjetunion gegenüber der Ukraine niemals polarisierend, sondern immer vermittelnd gewirkt. Wenn dort der russische Separatismus viele Jahre lang zwar nicht definitiv historisch erledigt, aber doch auf absehbare Zeit neutralisiert schien, war das hauptsächlich das Verdienst Moskaus. Der wesentliche Grund dafür liegt auf der Hand: Für Rußland sind dauerhafte, solide, sich verfestigende Beziehungen zur Ukraine insgesamt unendlich wertvoller und wichtiger als kleine Geländegewinne, die vielleicht in einer gewaltsamen Konfrontation errungen werden könnten.

Rußland kann diese klare politische Linie aber nur durchhalten, solange es nicht zu gewaltsamen Übergriffen der siegestrunkenen, von keiner Staatsmacht mehr gebremsten ukrainischen Faschisten auf die russische Bevölkerung des Nachbarlandes kommt. Hier könnten westlichen Politiker einmal in sinnvoller Weise Verantwortung zeigen. Sofern es dafür nicht schon zu spät ist.

** Aus: junge Welt, Freitag, 28. Februar 2014


Meuterei auf der Krim

Ukraine: Gruppe »Selbstverteidigung der russischsprachigen Bevölkerung« besetzt Parlamentsgebäude in Simferopol. Abgeordnete rufen zu Referendum über Zukunft der Halbinsel auf

Von Reinhard Lauterbach ***


Eine Gruppe schwerbewaffneter Männer hat in der Nacht zum Donnerstag das Regionalparlament der Autonomen Republik Krim in Simferopol besetzt. Die Gruppe forderte die Abgeordneten auf, eine schon für den Vortag geplante Sitzung abzuhalten, berichtete die Agentur Interfax. Die Debatte war wegen des Protestes von Anhängern der neuen Kiewer Machthaber auf dem Platz vor dem Parlament nicht zustande gekommen, weil die Abgeordneten nicht in den Saal kamen. Am Don­nerstag nachmittag rief das Präsidium des Krim-Parlaments dann die Bewohner der Halbinsel zu einem Referendum auf. Die Abstimmung soll nach Überlegungen der vergangenen Tage über drei Alternativen entscheiden: Beibehaltung des jetzigen Status als ­Region der Ukraine oder Selbständigkeit der Krim oder Anschluß an Rußland. Ein Termin für das Referendum wurde nicht genannt.

Wer die Parlamentsbesetzer sind, ist unklar. In den Medien schwankten die Angaben über ihre Zahl zwischen 30 und 150. Sie bezeichneten sich als »Selbstverteidigung der russischsprachigen Bevölkerung der Krim«. Die Besetzer trugen Uniformen ohne irgendwelche Abzeichen und waren mit Maschinengewehren und Granatwerfern bewaffnet. Der Kiew gegenüber loyale Polizeichef der Region bezeichnete die Bewaffnung als ausreichend für eine einmonatige Verteidigung. Seine Einheiten riegelten das Regierungsviertel weiträumig ab und forderten die Bevölkerung auf, sich fernzuhalten. Gennadi Moskal, Abgeordneter der »Vaterlandspartei« in Kiew und früher Leiter der Polizei auf der Krim, sagte, die Besetzer seien meuternde ehemalige Angehörige der Sonderpolizeieinheit »Berkut«. Die Truppe war wegen ihrer Beteiligung am Kampf gegen die Demonstranten in Kiew aufgelöst worden. Moskal warf dem amtierenden neuen Innenminister Arsen Awakow vor, mit der Auflösung eine populistische und vorschnelle Entscheidung getroffen zu haben. Die meuternden Elitepolizisten sollen auch an den beiden Straßen zum ukrainischen Festland Kontrollposten errichtet und dort Schützenpanzer in Stellung gebracht haben.

Der amtierende ukrainische Präsident und Parlamentsvorsitzende Olexander Turtschinow forderte die Angehörigen der russischen Schwarzmeerflotte in scharfem Ton auf, in ihren Kasernen zu bleiben. Jede Bewegung außerhalb der Stützpunkte werde von der Ukraine als bewaffnete Aggression betrachtet. Am Morgen hatte eine Kolonne von sieben Schützenpanzern ohne Hoheitszeichen am Stadtrand von Simferopol für Aufregung gesorgt. Die Kolonne ließ sich allerdings an einer Straßenkontrolle der ukrainischen Polizei anhalten und zurückschicken. Das russische Außenministerium erklärte, es sei über die Situation auf der Krim höchst besorgt und werde auf internationaler Ebene alles tun, um eine Verletzung der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung zu verhindern. »Auf internationaler Ebene« heißt: mit diplomatischen Mitteln. Eine russische Intervention, von der die neue ukrainische Führung fabuliert, läßt sich daraus nicht ablesen. Die aus Kiew kommenden eskalierenden Sprüche können nur als Vorwand für eine Bitte um »brüderliche Hilfe« aus dem Westen gewertet werden. Wie der US-Analysedienst Stratfor dieser Tage schrieb, hätte die ukrainische Armee in einem militärischen Konflikt mit der russischen nicht den Hauch einer Chance. Militärisch sei es für die Schwarzmeerflotte nicht schwierig, die Krim abzuriegeln. Allerdings hätte ein solcher Schritt schwerwiegende politische Konsequenzen.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 28. Februar 2014

Statement by NATO Defence Ministers on Ukraine

Wednesday, 26 February 2014
Press Release (2014) 031


We continue to follow developments in Ukraine very closely. We deplore the tragic loss of life. We welcome the fact that violence has been stopped through negotiations that paved the way for a peaceful outcome. We emphasise the importance of an inclusive political process based on democratic values, respect for human rights, minorities and the rule of law, which fulfils the democratic aspirations of the entire Ukrainian people.

NATO and Ukraine have a distinctive partnership, embodied in the NATO-Ukraine Commission. Through that partnership framework, NATO stands ready to continue to engage with Ukraine and assist with the implementation of reforms. Defence reform and military cooperation remain key priorities. We commend the Ukrainian armed forces for not intervening in the political crisis. In a democracy, it is imperative that the armed forces do not intervene in the political process. We underscore the need to strengthen democratic control over the defence and security sector, with effective parliamentary oversight and the robust involvement of civil society. In the context of recent tragic events, transparent democratic and accountable institutions are essential to the future of Ukraine.

A sovereign, independent and stable Ukraine, firmly committed to democracy and the rule of law, is key to Euro-Atlantic security. Consistent with the Charter on a Distinctive Partnership between NATO and Ukraine, NATO Allies will continue to support Ukrainian sovereignty and independence, territorial integrity, democratic development, and the principle of inviolability of frontiers, as key factors of stability and security in Central and Eastern Europe and on the continent as a whole.




Viel Konfliktstoff

Nach dem Putsch in Kiew: Spaltet der Streit um die Ukraine die NATO? Von Rainer Rupp ****

Der von Washington höchstwahrscheinlich unterstützte bewaffnete Putsch am Wochenende in Kiew ist in vielerlei Hinsicht folgenreich. So hat er das von der EU und besonders von Deutschland unter Einbindung Moskaus mühsam in die Wege geleitete Abkommen zwischen den Oppositionsparteien einerseits und der Regierung und dem Präsidenten Viktor Janukowitsch andererseits binnen weniger Stunden zu Makulatur werden lassen. Die nach dem Umsturz im Westen gezeigte überschwengliche Freude war daher nicht ungeteilt. Erneut ist deutlich geworden, daß die USA und die EU, insbesondere Washington und Berlin, in bezug auf die Ukraine und Rußland nach unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Agenden agieren.

Kommentatoren in den USA, die der Obama-Administration nahestehen, feiern ganz offen den Putsch in Kiew als gelungenen Coup gegen Moskau: als Retourkutsche für die russische Behinderung der US-Kriegspläne gegen Syrien. Sie sehen in der Ukraine ein Krisenpotential, das Washington zwecks Verunsicherung und strategischer Ablenkung Moskaus nach Belieben hoch- oder runterfahren kann, falls Rußland dem US-Hegemon bei der Durchsetzung seiner Weltordnungspläne weiterhin Schwierigkeiten macht. Im Gegensatz dazu bemühte sich die EU, erneut angeführt von Berlin, dem besonders an guten Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland gelegen ist, um eine mit Moskau abgestimmte, einvernehmliche Lösung der Krise in der Ukraine. Dafür wurde sie von Präsident Obamas führender Ostpolitikerin Victoria Nuland bekanntlich mit einem verächtlichen »Fuck the EU« abqualifiziert.

Die Unterschiede zwischen Washington und Berlin wurden am Mittwoch auch durch Äußerungen der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel deutlich. Wiederholt betonte sie, daß eine Lösung der Krise in der Ukraine nur in Zusammenarbeit mit Moskau möglich sei: »Rußland muß mit einbezogen werden, es wird keine Lösung ohne Rußland geben«, sagte sie in den ARD-Nachrichten. Sie verwies darauf, daß es neben dem ­NATO-Ukraine-Rat auch einen NATO-Rußland-Rat gibt. »Die Lösung muß gemeinsam gesucht werden, sowohl mit Rußland als auch mit der NATO und Europa.« Damit folgte die Ministerin auch den Forderungen maßgeblicher deutscher Wirtschaftskreise.

Der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckhard Cordes, hatte diese Woche in einer Stellungnahme die antirussische Politik Berlins beklagt und verlangt, daß »die EU und Rußland in Kiew gemeinsam die Konfliktparteien an einen Tisch holen« . Ähnlich hatten sich auch die Experten des Thinktanks Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in einer zwei Tage vor dem Umsturz veröffentlichten Studie geäußert, in der ebenfalls eine engere »Kooperation zwischen dem Westen und Rußland« in Sachen Ukraine gefordert wird. Deutschland müsse »nachdrücklich für eine Mäßigung beider Lager in der Ukraine und eine konstruktive Einbindung Rußlands« eintreten, heißt es in dem Papier (siehe jW vom 26.2.14).

Dagegen meldete sich am Mittwoch aus dem European Policy Center, einer Denkfabrik in Brüssel, die britische Politikberaterin Amanda Paul zu Wort, die – stellvertretend für die neokonservativen angloamerikanischen und europäischen Falken – von der EU in Sachen Ukraine »eine härtere Gangart gegenüber Putin« forderte. »Die junge Generation in der Ukraine ist gut ausgebildet, und deshalb wird sie von der EU gebraucht.« Deshalb müsse die EU »aufhören, sich so feige zu verhalten, und statt dessen bereit sein, Rußland anzugehen, bevor die großen Hoffnungen vieler Ukrainer in die EU letztlich enttäuscht werden«, so Paul.

Vor diesem Hintergrund erlaubt die recht kurze Abschlußerklärung (254 Wörter) der NATO-Verteidigungsminister zu ihren Beratungen über die Ukraine vom Mittwoch den Schluß, daß sich ebenso wie bereits bei den NATO-Gipfeltreffen zum »neuen strategischen Konzept« in Bukarest 2008 und in Strasbourg 2009 auch diesmal die harte, konfrontative Linie Washingtons gegenüber Rußland nicht durchgesetzt hat. Abgesehen von den verbalen Pirouetten, die darauf abzielen, den gewaltsamen Sturz des demokratisch von der Mehrheit des Volkes gewählten Präsidenten der Ukraine schönzufärben, ist besonders wichtig, was in der Erklärung nicht steht: nämlich keine Drohungen und Warnungen unter Nennung »roter Linien« an die Adresse Moskaus. Es ist ein völlig anderer Ton als der, der in den letzten Tagen aus Washington und London zu hören war. Auch taucht nirgendwo, auch nicht indirekt, die Forderung nach einer Aufnahme der Ukraine in die NATO oder die EU auf. Die angloamerikanischen Abenteurer konnten sich in Brüssel offensichtlich nicht durchsetzen.

Zugleich fehlt in der gemeinsamen Erklärung der Minister allerdings auch von der Leyens Position, die da lautet:«Keine Lösung ohne Rußland«, die unter anderem auch von Spanien ausdrücklich unterstützt wurde. Implizit enthält der Text jedoch eine Forderung, die, wenn sie erfüllt würde, den Weg zu einer einvernehmlichen Lösung mit Rußland ebnen würde und die den destabilisierenden, machtpolitischen Plänen der USA zuwiderläuft. Die entsprechende Passage lautet: »Wir betonen die Bedeutung eines umfassenden politischen Prozesses auf der Grundlage demokratischer Werte, der Achtung der Menschenrechte, der Rechte der Minderheiten (!) und der Rechtsstaatlichkeit, der die demokratischen Bestrebungen des gesamten (!) ukrainischen Volkes erfüllt.« Das nähme den faschistischen und anderen ultranationalistischen Kräften in der Ukraine jede Chance.

Trotz aller Schwierigkeiten hatte Moskau in der Vergangenheit mit Julia Timoschenko als Ministerpräsidentin oder Wiktor Juschtschenko als Präsident der Ukraine durchaus zufriedenstellend zusammenarbeiten können, auch dank des mäßigenden Einflusses Berlins auf Kiew. Die große Ungewißheit heute ist jedoch, ob der Westen die von ihm in der Ukraine freigesetzten extremistischen Kräfte wieder unter Kontrolle bekommen wird.

**** Aus: junge Welt, Freitag, 28. Februar 2014


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