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Klarer Kurs der Krim auf Referendum

Merkel spricht von Sanktionen gegen Russland, trifft dabei aber auf deutliche Kritik im eigenen Lande

Von Roland Etzel *

In der Krim-Krise zeichnet sich weiter keine Annäherung zwischen dem Westen und Russland ab.

Auf der Krim wird weiter Kurs darauf genommen, dass die Halbinsel von einem autonomen Gebiet der Republik Ukraine zu einem autonomen Gebiet der Russischen Föderation wird. »Der Übergangsprozess in eine neue Rechtsprechung ist kompliziert«, räumte der Vorsitzende des Regionalparlaments, Wladimir Kon- stantinow, am Samstag in Simferopol laut Itar-Tass ein. Doch gehe man davon aus, dass alles noch in diesem Monat gelinge. Bereits am Sonntag sollen die Bewohner der Krim in einem Referendum entscheiden, zu wem sie gehören wollen. Allgemein erwartet wird ein Votum für Russland.

Die prowestliche Regierung in Kiew unter Arseni Jazenjuk hat angesichts dessen bekräftigt, dass sie das Referendum nicht respektieren werde und folglich auch dessen Resultat nicht anerkenne. Sie erhält darin Rückendeckung von den führenden EU-Staaten und den USA. Ungeachtet dessen sind Vertreter Russlands und der Ukraine in Moskau zu Gesprächen zusammengetroffen. Vizeaußenminister Grigori Karassin und der ukrainische Botschafter Wladimir Jeltschenko, hätten, so berichtet AFP unter Berufung auf das russische Außenministerium, »in offener Atmosphäre Fragen der russisch-ukrainischen Beziehungen« besprochen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama haben laut dpa nach einem Telefongespräch vom Sonnabend erklären lassen, dass sie ein Krim-Referendum zugunsten eines Anschlusses an Russland als »nicht hinnehmbare Annexion« betrachten und weitere Sanktionen angedroht. Bislang haben aber allein die USA Einreiseverbote gegen russische und ihnen missliebige ukrainische Politiker verhängt. Trotz der Ankündigung Merkels hält sich Deutschland bei der Pro-Sanktions-Polemik zurück. Die Gegenstimmen kommen vor allem aus der Wirtschaft und benennen neben der Befürchtung, dass mit Strafmaßnahmen Gesprächskanäle zugeschüttet werden, vor allem wirtschaftliche Gründe. So warnt der deutsche EU-Energiekommissar Günther Oettinger in der »Wirtschaftswoche« davor, dass mit Sanktionen »die zarte Erholung der europäischen Wirtschaft beeinträchtigt« werde. Noch einen Schritt weiter geht Volker Treier. »Wirtschaftssanktionen«, so der Außenhandelschef beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag gegenüber dem »Focus«, »sind ein riskantes Spiel, bei dem auch Deutschland viel zu verlieren hat. Im schlimmsten Fall könnte es zu Enteignungen deutscher Firmen in Russland kommen.« Als scharfe Befürworter erklärten sich dagegen der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Michael Fuchs und die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne). Sie forderten die entsprechenden Gremien auf, Russland die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 zu entziehen. Der Bundesvorsitzende der LINKEN Bernd Riexinger sagte dazu »Handelsblatt«, ein WM-Boykott sei Unfug. »Da wollen ein paar kalte Fußballkrieger die Krim-Krise nutzen, um Stimmung zu machen.« Auch der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner lehnt eine Geiselnahme der Fußball-WM für politische Ziele ab: Entspannungsbemühungen seien gefragt »und nicht verbale Kraftmeierei von den Zuschauertribünen«.

Unterdessen wird die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko in der Charité in Berlin wegen ihrer Bandscheibenvorfälle behandelt. Sie habe »erhebliche Schmerzen«, sagte der Vorstandsvorsitzende des Universitätsklinikums, Karl Max Einhäupl, am Samstag in Berlin. »Wir sind zuversichtlich, dass sie wieder frei laufen wird.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. März 2014


Unrechtmäßig ist immer der andere

Der Westen und Russland verweigern Regierungen die Anerkennung – in Kiew und Simferopol

Von Marian Krüger **


Seit dem Umsturz in Kiew ist sowohl die Legitimation der neuen ukrainischen Regierung Gegenstand heftiger Debatten als auch die Rechtmäßigkeit der Autonomieregierung auf der Krim.

Obwohl der Regierungswechsel in Kiew widerrechtlich und mit Gewalt zustande gekommen sei, würden EU und USA die neue Führung der Ukraine als legitim anerkennen, beschwerte sich Kremlsprecher Dmitri Peskow gegenüber dem russischen Fernsehsender Rossija-24. Ein solches Recht auf Selbstbestimmung verweigere der Westen andererseits jedoch der Autonomen Republik Krim, und Präsident Wladimir Putin stoße »auf eine Wand des Unverständnisses«.

Offenkundig hält im Ukraine-Konflikt jede Seite den Favoriten der gegnerischen für unrechtmäßig. Im Lichte der kurz nach dem Umsturz wieder in Kraft gesetzten Verfassung von 2004 bewegen sich allerdings beide Akteure auf einer höchst wackligen konstitutionellen Bühne. Die kann jederzeit einstürzen. Schon die Absetzung von Präsident Viktor Janukowitsch geschah außerhalb des verfassungsrechtlich Erlaubten. Weder wurden die aufwändigen Untersuchungsprozeduren eingehalten noch die parlamentarische Dreiviertelmehrheit erreicht.

Für die Absetzung stimmten nur 328 Abgeordnete. Das Quorum (338 Stimmen) war verfehlt, was aber im allgemeinen Jubel über den »Sieg der Demokratie« nicht interessierte. Niemand will Janukowitsch zurück haben, aber die Art seines Sturzes hat die Verfassung der Ukraine schwer beschädigt.

Die neue Parlamentsmehrheit der »proeuropäischen« Parteien unterließ danach nichts, um die Polarisierung der politischen Lager weiter anzuheizen: Das betrifft nicht nur den Vorstoß, das Sprachengesetz abzuschaffen, sondern auch Forderungen der rechtsextremen »Swoboda«-Partei, die KP der Ukraine zu verbieten und für alle Ukrainer das Recht einzuführen, Waffen zu tragen.

Die »Vaterlandspartei« der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko beantragte bereits die Wiederaufnahme der Integration der Ukraine in die NATO. Wer das nicht will, der hisst eben die russische Trikolore und quittiert Kiew den Dienst. Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama in einer zu fernen Welt leben, um das zu verstehen, stößt der Westkurs der orange-braunen Maidan-Koalition nicht nur auf der Krim auf Ablehnung – er untergräbt die Legitimation des Regimes in der Ostukraine.

Dass in dieser Lage gerade die Krim zur politischen Speerspitze der Auflehnung gegen die neuen Machthaber in Kiew wurde, kann nicht ernstlich erstaunen. Schon im November hatte das Krim-Parlament gegen das EU-Assoziierungsabkommen votiert. Am 27. Januar wurde die Tätigkeit von »Swoboda« auf der Krim verboten, am 27. Februar Ministerpräsident Anatoli Mogiljow abgesetzt.

Das bezeichnete die Kiewer Regierung umgehend als illegal. Auch sie beruft sich dabei auf die Verfassung, wonach das Autonomieparlament den Regierungschef nur mit Zustimmung des ukrainischen Präsidenten ein- oder absetzen darf. Die Behörden der Krim quittieren das mit dem Verweis auf den »legitimen« Präsidenten Janukowitsch.

Die Krim ist mit Ausnahme des Gebietes um Sewastopol bereits jetzt autonom; ihr Parlament verfügt über beträchtliche zivile Befugnisse. Verfassungsrechtlich nicht gedeckt ist jedoch die Unterstellung des auf der Halbinsel stationierten ukrainischen Militärs und der Sicherheitsbehörden unter das Kommando der Krim-Regierung.

Das von ihr anberaumte Referendum zur Zukunft der Krim bewegte sich zunächst innerhalb des konstitutionellen Rahmens. Denn nach der Verfassung können lokale Volksentscheide auf der Krim abgehalten werden. Der Inhalt der Abstimmung ist jedoch verschärft worden. Zuerst lautete die Frage: »Unterstützen Sie eine staatliche Selbstbestimmung der Krim im Bestand der Ukraine auf der Grundlage internationaler Verträge und Abkommen?« Doch am Donnerstag wurde ein neuer Text vorgestellt: »Unterstützen Sie einen Beitritt der Krim zur Russischen Föderation?« und »Unterstützen Sie eine Wiedereinführung der Verfassung der Krim von 1992?« Die Verfassung von 1992 definierte die Krim als einen Teil der Ukraine. Damit würde die Tür für Kiew nicht ganz zugeschlagen.

** Aus: neues deutschland, Montag, 10. März 2014


USA eskalieren

Krim-Konflikt: Kerry droht Rußland mit »Ende der Diplomatie«

Von Reinhard Lauterbach ***


Die USA haben angeblich bereits etwa eine Woche vor dem Beginn der Krise um die Krim gewußt, daß Rußland etwas plane. Das geht aus Äußerungen des Chefs des US-Militärgeheimdienstes, General Michael T. Flynn, gegenüber dem Sender National Public Radio (NPR) hervor. Man habe außergewöhnliche Flottenbewegungen registriert und die Führung hierüber informiert. Wenn das stimmt, sind die Aussagen Flynns ein Indiz dafür, daß die USA Rußland in der Ukraine bewußt eine Falle gestellt haben. Die Unterstützung des rechten Putsches in Kiew am 22. Februar wäre dann als Provokation gegenüber Moskau zu interpretieren.

Die USA setzten derweil die konfrontative Rhetorik fort. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters sagte Außenminister John Kerry seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow am Samstag, wenn Moskau nicht »größte Zurückhaltung« gegenüber der Ukraine zeige, sei das »Ende der Diplomatie« gekommen. Auf der Webseite des State Departments ist die Äußerung nicht zu finden. Die Homepage des »Atlantic Council« zitierte US-Stabschef John Dempsey mit der Aussage, die USA würden militärisch reagieren, wenn ihre NATO-Verbündeten sie darum bäten, Rußland die Lage etwa in der Ost­ukraine eskaliere und nichts dazu beitrage, um »Bedingungen für irgendeine Lösung« zu finden. Die Chancen einer eventuellen US-Intervention in der Ukraine würden derzeit »neu eingeschätzt«, so Dempsey.

In den ostukrainischen Städten Charkiw und Donezk gab es am Wochenende wieder Demonstrationen unter russischen Fahnen. Die Teilnehmerzahl wurde auf jeweils mehrere tausend geschätzt. In Lugansk stürmten einem Bericht der dpa zufolge Tausende prorussische Aktivisten den Sitz der Gebietsregierung und setzten den Gouverneur ab. Michail Bolotskich war erst vor einer Woche von dem an die Macht geputschten Interimspräsidenten Alexander Turtschinow eingesetzt worden.

*** Aus: junge welt, Montag, 10. März 2014


Türkei – die schweigsame Schutzmacht der Krimtataren

Ankaras Interessen sind trotz enger Bindungen zu dem Turkvolk gespalten

Von Jan Keetman ****


Die Krimtataren, von denen heute wieder etwa 300 000 auf der Schwarzmeerhalbinsel leben, haben enge historische, kulturelle und familiäre Bindungen in die Türkei.

Drei Jahrhunderte stand das Khanat der Krim unter osmanischer Vorherrschaft, ehe es Ende des 18. Jahrhunderts vom russischen Zarenreich erobert wurde. Die Sprache der Krimtataren ist ein lokaler Dialekt des Osmanischen, der dem Türkischen noch immer sehr nahe steht. Eine große Zahl von Krimtataren ist in die Türkei ausgewandert. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, aber in über 30 türkischen Städten existieren Vereine von Krimtürken.

Die Türkei sieht sich gerne als Schutzmacht aller Turkvölker und Minderheiten von der Adria bis Kamtschatka. Im Zweiten Weltkrieg ermutigte die Türkei, obwohl im Prinzip ein neutrales Land, die von Stalin hart unterdrückten Krimtataren zur Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern. Es wurde eine »Blaue Brigade« gebildet, die an der Seite der Wehrmacht kämpfte. Nach dem Krieg gelangte ein Teil der Blauen Brigade und der Familien der Soldaten in die Türkei. Nach verschiedenen Berichten in der Zeitung »Radikal« wurden Überlebende der Blauen Brigade noch im Mai 1945 an die Sowjetunion ausgeliefert.

Als die Betroffenen in der Türkei davon erfuhren, ertränkten sich einige von ihnen im Stausee von Kizil Cakcak, die Ausgelieferten wurden direkt hinter der Grenze erschossen. Die Angaben über die Zahl der bei dieser Aktion Umgekommenen schwanken zwischen 200 und 2000. Die Türkei tat damit das gleiche, was vorher die Briten getan hatten, die ebenfalls Tausende von Kollaborateuren, aber selbst von Russen, die in alliierten Armeen gekämpft hatten, durch Auslieferung in den sicheren Tod schickten.

Die Kollaboration von Teilen der Krimtataren mit den deutschen Faschisten nahm Stalin 1944 zum Anlass, um nach der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee fast die gesamte tatarische Bevölkerung nach Usbekistan zu deportieren. Zehntausende kamen dabei ums Leben. Erst unter Michail Gorbatschow als KPdSU-Generalsekretär ab 1985 durften Krimtataren auf die Halbinsel zurückkehren.

Trotz der engen Beziehung zu den Krimtataren zeigt die Türkei in der derzeitigen Krimkrise bisher wenig Engagement. Weder Premier Recep Tayyip Erdogan noch sein Außenminister Ahmet Davutoglu haben sich bisher geäußert. Auch in den Medien ist die Aufmerksamkeit gering. Nach dem Beginn der Militäraktionen auf der Krim konnten noch zwei russische Kriegsschiffe den Bosporus passieren, um die russische Schwarzmeerflotte zu verstärken. Die Türkei hätte das Recht gehabt, ihnen die Durchfahrt zu verweigern.

Über diese Haltung der Türkei sind die Krimtataren keineswegs erfreut. Die Zeitung »Milliyet«, die sich nach einem Eigentümerwechsel mit Kritik an der türkischen Regierung sonst sehr zurückhält, zitierte einen tatarischen Abgeordneten von der Krim mit den Worten: »Wir haben den osmanischen Sultan nicht vergessen, der uns im 18. Jahrhundert Russland ausgeliefert hat, und das heutige Schweigen der Türkei haben wir uns auch gemerkt.« Laut »Milliyet« legte der Abgeordnete großen Wert darauf, dass sein Name nicht erscheint. Dazu zitiert ihn die Zeitung: »In diesem Spiel sind wir so klein wie ein Käfer, deshalb müssen wir uns mehr in acht nehmen als alle anderen.«

Für die Zurückhaltung der offiziellen Türkei gibt es vor allem zwei Gründe. Zum einen ist die Türkei derzeit mit sich selbst beschäftigt. Das ist zwar eigentlich der Normalfall, doch diesmal ist es extrem. Das Land starrt auf die Kommunalwahlen am 30. März. Sie werden zeigen, welchen Einfluss die Gezi-Revolte und die von der Gülen-Bewegung publik gemachten Korruptionsskandale auf Erdogans Wähler tatsächlich haben. Erdogans politische Zukunft könnte davon abhängen.

Andererseits sollte man nicht vergessen, dass die Solidarität mit den »türkischen Minderheiten« ein Instrument der Außenpolitik ist. Diese Karte wird nicht gezogen, wenn sie der türkischen Außenpolitik empfindlich schaden würde. Im Moment sieht es rundum schlecht aus. Die Beziehungen zu Syrien, Irak, Israel, Ägypten und Iran sind aus unterschiedlichen Gründen schwer belastet. Die Türkei hat in den letzten Jahren viel Mühe in gute Beziehungen zu Russland gesteckt. Nun noch eine Krise mit Moskau wäre einfach zu viel.

Russland ist auch ökonomisch wichtig für die Türkei. Außerdem genießt es Ankara, dass es seine Außenpolitik auf der Basis ganz verschiedener Zugehörigkeiten formulieren kann: EU-Kandidat, NATO-Mitglied, Organisation für Islamische Zusammenarbeit, Shanghai-Gruppe... Durch eine antirussische Haltung bezüglich der Krim würde sie vermutlich ihr Spielbein in der Shanghai-Gruppe verlieren, ohne viel zu erreichen.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 10. März 2014


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