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Schoss am Maidan auch die Opposition?

Bericht: "Erhebliche Zweifel" an Kiews offizieller Version / Europarat entzieht Russland das Stimmrecht

Von Klaus Joachim Herrmann *

Schwerer Verdacht fällt wegen der Todesschüsse vom Maidan erneut auf die Sieger des Umsturzes vom Februar.

Die offizielle Version der neuen Machthaber in der Ukraine, dass allein Scharfschützen der Sondereinheit »Berkut« im Dienste des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch für »Massenmord« während der Auseinandersetzungen auf dem Kiewer Maidan verantwortlich seien, wird erneut schwer erschüttert. Bereits zuvor wurde der Verdacht laut, Scharfschützen könnten auch von Kräften der damaligen Opposition beauftragt worden sein. Die aber sind nicht im offiziellen Visier.

Nach Recherchen des WDR-Magazins »Monitor« vom Donnerstag erscheine es laut Mitteilung der Fernsehanstalt ARD »unwahrscheinlich«, dass die tödlichen Schüsse auf Demonstranten ausschließlich von Seiten des alten Regimes ausgingen. Ein hochrangiges Mitglied des Ermittlerteams der Regierung habe erklärt: »Meine Untersuchungsergebnisse stimmen nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft in der Pressekonferenz erklärt hat.«

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Das Magazin verweist auf den Mitschnitt des Funkverkehrs von Scharfschützen, die dem Lager von Ex-Präsident Janukowitsch zuzurechnen seien und am 20. Februar offenbar auf verschiedenen Dächern stationiert waren. Ein Scharfschütze fragt: »Wer hat da geschossen? Unsere Leute schießen nicht auf Unbewaffnete.« Kurze Zeit später sagt ein anderer: »Den hat jemand erschossen. Aber nicht wir.« Dann: »Gibt es da noch mehr Scharfschützen? Und wer sind die?« Ein Augenzeuge bestätigte: »Wir wurden von vorn beschossen und auch von hinten, etwa aus der achten oder neunten Etage des Hotel ›Ukraina‹. Das waren auf jeden Fall Profis.« Das Hotel befand sich an jenem Tag fest in der Hand der Opposition. Allein an diesem Tag starben mehr als 30 Menschen.

Anwälte von Angehörigen und Verwundeten erheben schwere Vorwürfe gegen die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft. Die bisherigen Ergebnisse der Ermittlungen würden ihnen fast komplett vorenthalten. Einer der Anwälte sagt, »die decken ihre Leute, die sind parteiisch, so wie früher«.

In einer Resolution lobte die Parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg, der Machtwechsel in Kiew habe der demokratischen Entwicklung der Ukraine »ein Fenster geöffnet«. Ausdrücklich anerkannt wurde die Rechtmäßigkeit der neuen Führung in Kiew. Die Angliederung der Krim an Russland wurde verurteilt und den 18 russischen Abgeordneten bis Ende des Jahres das Stimmrecht entzogen. Zudem drohte das Gremium Moskau mit vollständigem Ausschluss.

Unter Hinweis darauf, dass die Krise um die Ukraine eine Folge des Zerfalls der Sowjetunion sei, fordert eine Gruppe von russischen Abgeordneten ein Ermittlungsverfahren gegen den früheren Staatschef der UdSSR Michail Gorbatschow, informierte die Zeitung »Iswestija«.

Mit einer Amnestie versucht nach einem wirkungslosen Ultimatum Präsident Alexander Turtschinow die Krise in der Ostukraine zu lösen. Er stellte Demonstranten bei Waffenabgabe und Räumung der Gebäude Straffreiheit in Aussicht.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 11. April 2014


Übereiltes Bekenntnis

Klaus Joachim Herrmann über den Europarat und die Kiewer Todesschützen **

Die Parlamentarier des Europarates hätten warten sollen mit ihrer Resolution zur Ukraine. Sie erkannten die neue Macht in Kiew als »rechtmäßig« an und malten dazu das schöne Bild vom Fenster, das der Demokratie durch den Wechsel in Kiew geöffnet worden sei. In beiden Fällen aber ist Wunsch nicht zwangsläufig Wirklichkeit. Weit weniger noch als beim Friedensnobelpreis für einen US-Präsidenten zum Amtsantritt.

Wenn ein gewählter Präsident unter Missbrauch einer von drei Staaten Europas garantierten Vereinbarung gestürzt wird, sollte gerade ein europäisches Parlament dem nicht eilig seinen Segen geben. Gerade erst hat sich zudem der Verdacht erhärtet, blutige Wahrheit über den Maidan solle vertuscht werden. Die Anklage »Massenmord« wird demonstrativ dem geschlagenen Gegner vorgehalten, schwerstem Verdacht über weitere Beteiligungen und Verstrickungen nicht erkennbar nachgegangen. Warum sonst sollte man dies tun, wenn nicht aus eigenem Interesse – gar im Wissen um eigene Schuld?

Bekenntnisse wie die des Europarates täuschen jedoch Unschuld vor, hindern damit an der Aufdeckung der Wahrheit. Nur die aber gibt wirklich Auskunft, mit welchen Vorgängen, welcher Demokratie und mit was für Leuten man es wirklich zu tun hat.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 11. April 2014 (Kommentar)


Hatz auf Kommunisten

Ukraine: Amnestieangebot an Aktivisten im Osten. Linke Opposition wird verfolgt. Sitz der KPU zerstört und in Brand gesteckt

Von André Scheer ***


Offiziell setzt das Regime in Kiew auf Entspannung. Am Donnerstag versprach »Übergangspräsident« Olexander Tur­tschinow den Aktivisten im Osten der Ukraine, die öffentliche Einrichtungen besetzt halten, Straffreiheit, »wenn sie ihre Waffen niederlegen«. Zugleich bekräftigte er, daß die Häuser sonst gewaltsam geräumt würden. Die Krise könne noch friedlich beigelegt werden, so Turtschinow bei einer Rede vor dem Parlament. »Wir garantieren, daß wir keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen sie einleiten.«

Statt dessen bereiten die Machthaber offenbar ein Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) vor. Deren Generalsekretär Petro Simonenko erklärte am Donnerstag bei einer Pressekonferenz, der Chef des Geheimdienstes SBU, Walentin Naliwaitschenko, habe seinen Untergebenen die Anweisung erteilt, mit allen verfügbaren Mitteln – einschließlich Fälschungen – eine Dokumentensammlung anzulegen, auf deren Grundlage ein Verbot der KPU begründet werden könne. Simonenko erinnerte daran, daß faschistische Regime die Errichtung ihrer Herrschaft immer mit dem Verbot der Kommunistischen Partei begonnen haben. »Heute wird versucht, ein solches Regime in der Ukraine zu errichten. Daher ist es nicht verwunderlich, daß das herrschende Regime einen erbitterten Kampf gegen die Kommunisten führt.« Unter Berufung auf Informationen eines SBU-Beamten erklärte der Parteichef, die »Führung der radikal-nationalistischen und faschistischen Kräfte« habe die »physische Vernichtung einzelner Mitglieder der Kommunistischen Partei« beschlossen.

In der Nacht zuvor hatten uniformierte Faschisten das Gebäude des KPU-Zentralkomitees verwüstet und in Brand gesteckt. Auf der Straße vor dem Haus im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt wurden rote Fahnen verbrannt und aus den Büroräumen gestohlene Bilder von Marx und Lenin zerstört.

Das Gebäude war seit dem Putsch Ende Februar von antikommunistischen Gruppierungen besetzt gehalten worden. Am Mittwoch hatte ein Gericht jedoch die Rückgabe der Immobilie angeordnet. Als daraufhin Polizisten am Gebäude erschienen, räumten die Besetzer die Büros aus. Kistenweise wurden Unterlagen der Partei sowie technische Geräte abtransportiert. Die Beamten verhinderten den Diebstahl nicht. Simonenko forderte daraufhin eine Untersuchung der Vorgänge und die Bestrafung der Täter.

Gegenüber junge Welt solidarisierte sich der internationale Sekretär der DKP, Günter Pohl, mit den verfolgten Kommunisten der Ukraine. Die Bundesregierung müsse die von ihr mit an die Macht gebrachte und nicht legitimierte Regierung der Ukraine wirksam unter Druck setzen, statt mit Parolen gegen Rußland von der eigenen Mitverantwortung abzulenken. »Die Lage im Osten der Ukraine ist eine verständliche Reaktion auf die Übergriffe im Westen des Landes«, so Pohl.

Unterdessen wachsen die Zweifel an der von Kiew verbreiteten Darstellung der tödlichen Schüsse auf Demonstranten im Februar, die als Rechtfertigung für den Sturz des gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch gegolten hatten. Gegenüber dem ARD-Magazin »Monitor« erklärte ein an den Untersuchungen beteiligter Ermittler, die ukrainische Sonderpolizei Berkut trage zumindest nicht die Alleinschuld. Auf Videos sei zu erkennen, daß Demonstranten auf dem Maidan auch vom Hotel »Ukraina« aus beschossen wurden, das in der Hand der damaligen Regierungsgegner war.

*** Aus: junge welt, Freitag, 11. April 2014


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