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Brüchige "Waffenruhe" in Kiew

Regierungsgegner besetzen auch in der Provinz Verwaltungsgebäude *

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch kündigte am Freitag an, das Parlament werde in der kommenden Woche über eine Amnestie für die nach den Gewaltausbrüchen der vergangenen Tage Festgenommenen beraten. Auch eine Umbildung der Regierung stellte Janukowitsch in Aussicht. Seinen eigenen Rücktritt habe der Präsident in den Krisengesprächen am Vorabend abgelehnt, erklärte Oppositionspolitiker Vitali Klitschko in der Nacht zum Freitag auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz.

Die Regierungsgegner, von Klitschko zu einer »Waffenruhe« und zu Geduld aufgerufen, nutzten die Zeit, um ihre Barrikaden im Zentrum Kiews auszubauen. Aktivisten der Gruppe »Gemeinsame Sache« besetzten überdies das Landwirtschaftsministerium. Einer ihrer Koordinatoren erklärte dem Reporter der russischen Zeitung »Kommersant«, die »Unentschlossenheit der Oppositionsführer« motiviere dazu, »reale Schritte zu einem Umsturz zu unternehmen«. Auch in Lwow, Iwano-Frankowsk, Ternopol, Rowno, Chmelnizki und anderen Städten im Westen und Norden der Ukraine eroberten radikale Demonstranten Verwaltungsgebäude. Die regierende Partei der Regionen warf der Opposition »und ihren ausländischen Sponsoren« vor, die Ukraine spalten zu wollen. Der Oberste Rat der Autonomen Krim forderte Präsident und Parlament auf, den Ausnahmezustand über das Land zu verhängen.

Janukowitsch empfing derweil EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle, der – wie aus Brüssel verlautete – »deutliche Forderungen« stellen wollte. In Berlin bestellte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier den ukrainischen Botschafter ein und Regierungssprecher Steffen Seibert bekannte: »Wir haben große Sympathie mit der überwältigenden Mehrzahl der Demonstranten, die gewaltfrei und friedlich ihre Bürgerrechte einfordern.« Allerdings gebe es auch »gewaltbereite Demonstranten«. prs

* Aus: neues deutschland, Samstag, 25. Januar 2014


Putsch in Westukraine

Faschisten stürmen Behörden und zwingen Gouverneure zum Rücktritt. Fernsehsender ruft Demonstranten zur Bewaffnung auf

Von Reinhard Lauterbach **


In der Ukraine haben faschistische Aktivisten mehrere Gebietsverwaltungen unter ihre Kontrolle gebracht. In den westlichen Regionen Lwow, Ternopol, Rovno, Luzk und Iwano-Frankowsk stürmten Gruppen von mehreren hundert Leuten die Behördengebäude und nötigten die von Präsident Wiktor Janukowitsch eingesetzten Gouverneure, Rücktrittsschreiben zu verfassen. Auch in Tschernowcy im Südwesten des Landes wurde die Verwaltung besetzt; in Tscherkassy südlich von Kiew schlug die Polizei einen ähnlichen Angriff zurück und nahm 58 Personen fest. Auch in Zhitomir scheiterte der Sturm auf das Verwaltungsgebäude.

Daß hinter diesen Aktionen ukrainische Faschisten stehen, scheint nach ihren Selbstzeugnissen wenig zweifelhaft. Über den Sturm der Gebietsverwaltung in Tscherkassy kursiert ein Internet-Video. Darauf ist eine Menge von mehreren hundert vermummten Leuten zu sehen, die vor dem Gebäude mit ausgestreckten Armen Parolen rufen. Ein Film von der Besetzungsaktion in Rovno zeigt, wie die Polizei nach erfolgloser Verteidigung des Gebäudes durch ein Spalier der Angreifer abzieht. Diese schreien dazu immer wieder im Wechsel »Ruhm der Ukraine« und »Ruhm den Helden« – die typische Grußformel der Faschisten. Aufnahmen aus Tschernowcy zeigen in der Menge die rot-schwarzen Fahnen der faschistischen Gruppe UNA-UNSO. In Kiew besetzten Anhänger der Bewegung »Rechter Sektor« das Gebäude des Landwirtschaftsministeriums, und in der Nationalisten-Hochburg Lwow rief im dortigen Online-Fernsehsender ZIK TV ein sogenannter Militärexperte die Kiewer Demonstranten auf, sich zu bewaffnen und so die Polizei vom Einsatz abzuschrecken. »Ich war Offizier und weiß, daß nichts einen Soldaten so beeindruckt, wie wenn zurückgeschossen wird«, sagte der Mann unter anderem. Das Interview wurde offensichtlich nach der Besetzung der Gebietsverwaltung am Donnerstag geführt und in den 24 Stunden nach seiner Aufnahme bereits mehrere 10000 Mal angeklickt. Interessant daran ist, daß der Moderator ukrainisch sprach, der Befragte aber russisch antwortete, einer in Lwow ansonsten sehr ungern verwendeten Sprache. Damit ist es vermutlich als Teil einer Einschüchterungskampagne gegenüber der Polizei aus den östlichen Landesteilen zu sehen, die bisher loyal zum Präsidenten steht. Das ukrainische Innenministerium ordnete unterdessen an, alle Geschäfte mit Sportwaffen in Kiew zu schließen.

Am Donnerstag abend hatten die Führer der parlamentarischen Oppositionsparteien auf dem Maidan von ihrer zweiten Verhandlungsrunde mit Präsident Janukowitsch berichtet. Nach ihrer Aussage hat Janukowitsch einen Rücktritt unter dem Druck der Krawalle abgelehnt, aber eine Amnestie für verhaftete Demonstranten und eine Vertrauensabstimmung über die Regierung von Ministerpräsident Asarow angeboten. Auch werde die Polizei nicht mehr angreifen, solange sie selbst nicht attackiert werde. Als Arsenij Jazenjuk, Witali Klitschko und Oleg Tjahnibok die Verhandlungsergebnisse zur Abstimmung stellten, war unklar, ob eine Mehrheit der Versammelten auf dem Maidan der Fortsetzung der Gespräche zustimmte. Die Ankündigung der drei, weiter zu verhandeln, wurde durch lautstarke »Schande«-Sprechchöre unterbrochen.

** Aus: junge welt, Samstag, 25. Januar 2014

Mob

"Längst hat sich der Mob der Straße, ein gefährliches Gemisch aus Hooligans, Frustrierten, Vorstadtschlägern und rechten Krawalltrupps, verselbstständigt. Im Stile einer Stadtguerilla herrschen Hunderte junger Männer über die Barrikaden, kontrollieren Ausweise von Journalisten und suchen gezielt die Provokation mit der Polizei. Politische Ziele stehen für viele von ihnen nicht im Fokus."
Matthias Gebauer in SPIEGEL-ONLINE, 26.01.2014




Tabubruch

Unterstützung für Faschisten in Kiew

Von Sevim Dagdelen ***


Die Gewalt in der Ukraine nimmt zu. Bundesregierung und EU-Kommission machen dafür einseitig die ukrainische Regierung verantwortlich. Um den Druck noch zu erhöhen, bestellte Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Freitag den ukrainischen Botschafter in Berlin ein, auch um gegen die Verschärfung der Demonstrationsgesetze zu protestieren. Nun ist es selbstverständlich zu begrüßen, wenn sich ein Sozialdemokrat gegen ein Vermummungsverbot auf Demonstrationen stark macht. Allerdings sind solche Initiativen offenbar auf die Ukraine beschränkt und finden keinen Niederschlag in der deutschen Innenpolitik. Noch auffälliger allerdings ist das Schweigen zur immer stärker werdenden Oppositionskraft Swoboda, die man mit Fug und Recht als die faschistische Partnerpartei der NPD bezeichnen darf. Im Mai 2013 traf sich der Swoboda-Abgeordnete Michailo Holowko mit der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag.

Swoboda organisiert zusammen mit »autonomen« Neonazigruppen die gewalttätigen Proteste und setzt auf einen Sturz der Regierung in Kiew. Swoboda sieht die Ukraine als Opfer einer jüdisch-russischen Verschwörung. Auch jüngste antisemitische Gewalttaten sollen aus ihrem Umfeld kommen. Historisch bezieht sie sich auf den Nazikollaborateur Stepan Bandera, der für das Massaker am 30. Juni 1941 in Lwiw, dem Tausende Juden und Kommunisten zum Opfer gefallen sind, mit verantwortlich zeichnet. Bemerkenswert ist, daß der einstige ukrainische Präsident der »orangen Revolution«, Wiktor Juschtschenko, Bandera 2010 den Titel »Held der Ukraine« verliehen hatte. Der jetzige – vom Westen gescholtene – Staatschef Wiktor Janukowitsch erkannte Bandera diese Ehre wieder ab.

Im Vorfeld der Unruhen war der Chef von Swoboda, Oleg Tjagnibok, ein gerngesehener Gesprächspartner von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle, aber auch von Treffen deutscher Beamter mit dem rechten Parteichef wird berichtet. Tjagniboks Aufruf, die ukrainische Regierung gewaltsam zu stürzen, wird denn auch von der Bundesregierung nicht kritisiert. EU-Kommissionspräsident Manuel José Barroso geht weiter und kündigt Sanktionen gegen die Ukraine an. Die USA reagieren mit Einreiseverboten, nicht etwa gegen ukrainische Faschisten, sondern gegen Regierungsvertreter. Kiew soll dem Einflußbereich Washingtons und Berlins angeschlossen werden, koste es, was es wolle.

Mit den ukrainischen Faschisten als treibende Kraft eines gewaltsamen Umsturzes ist man dabei, das nächste Frankensteinmonster zu schaffen. Man beschwört die Geister des Faschismus in Europa wieder herauf, um ein ultranationalistisches Regime in Kiew zu etablieren, das die Ukraine als Frontstaat gegen Rußland etabliert. Das Land selbst wird behandelt als sei es jetzt schon ein Protektorat. Die Frage ist, ob man diese Geister auch wieder los wird.

*** Die Autorin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages und Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion.

Aus: junge welt, Samstag, 25. Januar 2014



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