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Kiews Marine hatte Schießbefehl

Moskau klagt über "Russenhass" - "Rechter Sektor" wird zur Partei *

In der Krimkrise standen die Ukraine und Russland am Rande eines bewaffneten Konflikts. Der ukrainischen Marine sei Schießbefehl erteilt worden, den die Kommandeure aber »bedauerlicherweise« verweigert hätten, teilte am Sonntag das Verteidigungsministerium in Kiew mit. Auch die Ost-West-Beziehungen bleiben gespannt. Es sei die Gefahr einer neuen Spaltung Europas heraufbeschworen worden, warnte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Nach einem Besuch in der Ukraine am Wochenende drohte er Moskau mit schärferen Sanktionen, mahnte aber auch, es dürfe nicht zu »gefährlichen Automatismen« kommen.

Russland wolle keinen neuen Eisernen Vorhang, versicherte in Moskau die Vorsitzende des Oberhauses des Parlaments, Valentina Matwijenko. Eine Verschlechterung der Beziehungen Russlands zum Westen werde keinen neuen Kalten Krieg zur Folge haben, hieß es bei Ria/Novosti. Kritisiert wurde aber ein »ernster Informationskrieg« und »Russenhass«, wie nicht einmal zu Sowjetzeiten.

Zu einem Gipfel der sieben größten Industriestaaten G7 ohne Russland lud US-Präsident Barack Obama ein. Er findet am Rande eines Treffens der Staats- und Regierungschefs von 53 Staaten am heutigen Montag in Den Haag über die Sicherheit von Nuklearmaterial statt.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) begann am Samstag mit 40 Experten eine Beobachtermission in der Ukraine, nicht aber auf der Krim. Dort übernahm Moskau mit der Besetzung weiterer Stützpunkte und Kriegsschiffe die völlige militärische Kontrolle. Auf der Krim wurde am Samstag zweier Opfer eines Heckenschützen gedacht. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Angriff dem ukrainischen und dem russischen Militär galt.

Die ukrainische rechtsextremistische paramilitärische Organisation Prawy Sektor (Rechter Sektor) gab ihre Gründung als Partei bekannt. Sie wolle an den Präsidentenwahlen am 25. Mai teilnehmen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 24. März 2014


Russlands Flaggen wehen – trotz Schießbefehls aus Kiew

Die Krim militärisch unter Kontrolle, währungstechnisch nicht ganz / Demonstrationen im Osten der Ukraine / Regierung: »akute Bedrohung«

Von Klaus Joachim Herrmann **


Der Rubel rollt auf der Krim neben den Griwna und über Militäreinrichtungen wehen russische Fahnen – eine Übergangsperiode.

Die Halbinsel Krim steht unter völliger militärischer Kontrolle Moskaus. Das Zeichen dafür dürfte gewesen sein, dass schließlich auch auf dem ukrainischen Kriegsschiff »Slawutitsch«, von russischen Medien als »Kommandoschiff« bezeichnet, die russische Flagge gehisst wurde. Dabei hatte die Regierung in Kiew Kapitänen ukrainischer Kriegsschiffe einen Schießbefehl erteilt, der aber bisher nicht befolgt wurde. »Bedauerlicherweise« hätten die Kapitäne selbst vor Ort über ihr Vorgehen entschieden, klagte der Verteidigungsminister der ukrainischen Übergangsregierung.

Insgesamt waren von der unblutigen Machtübernahme mehr als 70 ukrainische Militäreinrichtungen und mehr als 30 Schiffe der Marine betroffen. Weniger als 2000 der mehr als 18 000 ukrainischen Soldaten wollten die Krim verlassen, hieß es.

Restaurants und Hotels auf der Krim akzeptierten bereits am Sonntag eine neue alte Währung. Doch der russische Rubel wird offiziell erst am heutigen Montag auf der Krim als offizielles Zahlungsmittel neben der ukrainischen Währung eingeführt. Im Handel wissen die Beschäftigten noch nicht so recht, wie das mit der Doppelwährung vonstatten gehen soll. Sie wollen erst einmal zwei Kassen aufstellen – für Rubel und Griwna. Ein ähnliches Problem haben die Taxifahrer und andere. Doch auf Anweisung des russischen Präsidenten Wladimir Putin sollen bis Monatsende jedenfalls alle staatlichen Strukturen der vormals ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel an die russischen angeglichen werden.

In den Osten der Ukraine hatte sich am Wochenende Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier begeben. Er drohte Moskau mit schärferen Sanktionen: »Sollte Russland über die Krim hinausgreifen, werden wir in Europa einschneidende Maßnahmen beschließen, selbst wenn wir hierfür wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.«

Doch auch am Sonntag forderten in Donezk wieder Tausende Menschen ein Referendum. Auf dem Lenin-Platz skandierten sie »Russland, Russland!« EU und USA sollten sich aus der Ukraine heraushalten. Unterzeichnet wurden Probestimmzettel für einen Anschluss an Russland. Auch in Charkow und Odessa kam es zu prorussischen Manifestationen.

Weil der neuen Regierung auch Vertreter der Rechtsradikalen angehören, protestierten Demonstranten in der Ostukraine erbittert dagegen, dass in Kiew Faschisten die Macht übernommen hätten. Zu ihnen zählen sie auch den Chef des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Andrij Parubij. Er gehört der Partei Swoboda an. Er dürfte den Zorn der Demonstranten angeheizt haben, als er die russischen Truppen an der Ostgrenze des Landes eine akute Bedrohung nannte. Putins Ziel sei »nicht die Krim, sondern die gesamte Ukraine«.

Das russische Verteidigungsministerium dementierte, Truppen in übergroßer Zahl an der ukrainischen Ostgrenze stationiert zu haben. Moskau beachte »alle internationalen Vereinbarungen zur Begrenzung der Truppengrüße in Grenzregionen zur Ukraine«, sagte der stellvertretende Verteidigungsminister Anatoli Antonow.

** Aus: neues deutschland, Montag, 24. März 2014


Die Krim als NATO-Doping

Was ist Deutschlands Priorität – Sicherheit oder Militäreinsatz an neuer Trennline?

Von René Heilig ***


Die Krise der Ukraine und die »Heimkehr« der Krim ins russische Mutterland sind für Hardliner in der NATO als Dopingmittel höchst willkommen. So viel militärische Droge gab's schon lange nicht mehr.

Die US Air Force ist schon auf vorgeschobenem Posten – fast in Staffelstärke, also nicht mehr in der Auftragslogik von Baltic Air Policing. Washington hält Übungen im Schwarzen Meer ab, und dass der US-Zerstörer »Donald Cook« seine Jungfernfahrt als Kernstück des künftigen NATO-Raketenabwehrsystems jetzt in Europa absolviere, sei ein deutliches Zeichen der Stärke, sagen NATO-Insider. »Wir werden« , so sagt Cook-Kommandant Scott A. Jones, »ganz sicher auch im Atlantik patrouillieren – bis nach Großbritannien und in die Ostsee.«

Derweil zeichnen Jets Ihrer Majestät Kondensstreifen in den baltischen Himmel. Frankreich will Jagdbomber und – so wie die NATO auch – AWACS-Gefechtsstände über Litauen, Lettland, Estland und Polen fliegen lassen. Sogar das kleine Dänemark startete Jäger Kurs russische Grenze. Auch über Rumänien fliegen Gäste anderer NATO-Staaten. Man kann nur ahnen, was Moskaus Militärs rings um Kaliningrad, dem Mutterland, und in Belarus als Antwort in Bereitschaft halten.

Sicher ist, so viel Feuerbereitschaft war seit dem Niedergang des Warschauer Paktes nicht mehr an einem engen Grenzstreifen versammelt. Und auch das, was man aus dem NATO-Hauptquartier hört, erinnert an den Kalten Krieg. Kaum aus Washington zurückgekehrt, warf NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Freitag Russland vor, »neue Trennlinien« geschaffen zu haben. »Wir müssen reagieren. Jetzt und in der Zukunft.« Deeskalation sieht anders aus. Rasmussen und andere Hardliner der NATO wollen die frisch ausgehobenen Schützengräben in dauerhafte Stellungen umwandeln. Dazu gehören – wie bereits bewiesen – »mehr Flugzeuge, um den Luftraum über dem Baltikum zu überwachen, Überwachungsflüge über Polen und Rumänien und »eine verstärkte Unterstützung der Ukraine«. Die zweifellos (noch) nicht zum Bündnisgebiet gehört.

Dennoch will man »die Transformation der ukrainischen Streitkräfte in eine moderne und effektive Organisationen« befördern, die Truppe zu »glaubwürdiger Abschreckung« befähigen und die Zusammenarbeit mit Streitkräften der NATO-Staaten verbessern. Wozu auch die Beteiligung an NATO-Übungen gehört, meint Rasmussen, wohl wissend, dass er damit Moskau herausfordert.

Der NATO-Generalsekretär hat die Rückendeckung der USA und besorgt deren Geschäft, wenn er betont: »Wir brauchen mehr politischen Willen, stärkere Fähigkeiten und mehr Investitionen in die Verteidigung«. Dazu müsse Europa wieder enger mit Nordamerika zusammenarbeiten sowie die Rüstungsinvestitionen erhöhen. Dass derlei langfristige Orientierungen der NATO nicht ohne Auswirkungen auf die deutsche Politik bleiben, machte Ursula von der Leyen (CDU) im »Spiegel« deutlich. Während sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in der Ukraine und im Baltikum um eine sachlichere Betrachtung des Geschehens bemüht, meint die Verteidigungsministerin noch ohne deutsche Truppen zu erwähnen: »Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die NATO Präsenz zeigt.«

Die Frage stellt sich, ob es jetzt nicht tatsächlich an der Zeit wäre, dass Deutschland seine Zurückhaltung überwindet und mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. Erst einmal im Konflikt um die Ukraine und die Krim. Doch jenseits der Vorstellungen von Bundespräsidenten Joachim Gauck und anderen sind Konfliktverhütung und Krisenbewältigung kein Auftrag, der sich zuerst an Militärs richtet.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 24. März 2014


Russische Flaggen auf ukrainischen Schiffen

Krim: Militärs wechseln die Seiten. Von der Leyen: NATO-Truppen nach Osten

Von Reinhard Lauterbach ****
Russische Truppen und Einheiten der »Selbstverteidigung« der Krim haben am Wochenende mehrere ukrainische Kriegsschiffe und Stützpunkte besetzt. Zu den insgesamt 54 Schiffen, die seit Ende Februar die Seiten gewechselt und sich Rußland unterstellt haben, kam am Sonntag die Korvette »Slawutitsch« hinzu, auf der die russische Fahne gehißt wurde. Die Übergabe erfolgte nicht immer freiwillig. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Belbek bei Sewastopol warfen ukrainische Soldaten von den Dächern Rauchbomben auf die einmarschierenden Russen. Der Kommandant des Stützpunkts wurde in ein russisches Militärgefängnis eingeliefert, konnte aber später mit seiner Frau Kontakt aufnehmen. Auf der »Slawutitsch« dauerte die Besetzung angesichts hinhaltenden Widerstands der Ukrainer mehrere Stunden. Ein ukrainisches Schiff versuchte am Sonntag, die von der russischen Flotte blockierte Bucht von Donuslaw im Nordwesten der Krim zu verlassen. Es wurde auf eine Sandbank abgedrängt und sitzt dort offenbar fest. Insgesamt haben nach russischen Angaben bis zum Sonntag 55 der 67 auf der Krim stationierten ukrainischen Kriegsschiffe sowie insgesamt 189 Militärstützpunkte die Seiten gewechselt. Von den 18000 ukrainischen Soldaten, die Ende Februar auf der Krim dienten, haben demnach 2000 den Wunsch geäußert, in die Ukraine evakuiert zu werden. Das behindert jedoch die am Samstag erfolgte zeitweilige Sperrung der Landgrenze der Krim zur Ukraine durch die Kiewer Behörden. Wie viele der verbleibenden 16000 Soldaten in russische Dienste übergetreten sind oder es vorgezogen haben, als russische Staatsbürger auf der Krim ein ziviles Leben zu führen, war zunächst nicht bekannt.

Nachdem Anfang März der Kommandeur der ukrainischen Flotte und mehrere kleinere Schiffe rasch auf die russische Seite gewechselt waren, zogen sich die Verhandlungen vor anderen Stützpunkten hin. Bekannt wurde ein Wortwechsel vor einem Stützpunkt nahe Simferopol. Der ukrainische Kommandeur wies die Aufforderung, seinen Stützpunkt zu übergeben, nach Medienberichten mit den Worten zurück: »Russen ergeben sich nicht« – worauf sein russischer Gegenüber seinen eigenen Offizieren gesagt haben soll: »Meine Herren, nehmen Sie sich daran ein Beispiel.« Jetzt ist diese Phase offenbar vorbei. Rußland beschleunigt die Eingliederung der Krim in seine Verwaltungsstrukturen. Bis zum Ende dieser Woche sollen neue Kommunalparlamente gewählt, Polizei und Gerichte auf das russische System umgestellt sein.

Mit merklicher Verzögerung hat sich der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko am Wochenende zu den Vorgängen in der Ukraine und auf der Krim geäußert. Sein Statement, man könne es anerkennen oder nicht, aber die Krim sei heute Teil Rußlands, klang nicht gerade begeistert. Mit der Ankündigung, Kontakt zu den neuen Machthabern in Kiew aufzunehmen, lag er ebenfalls überkreuz mit der russischen Doktrin der Nichtanerkennung.

Deutschland wird den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation trotz aller verbalen Entrüstung wohl schlucken. Das läßt sich indirekt aus Äußerungen von Frank-Walter Steinmeier vom Wochenende ablesen. Der Bundesaußenminister, der sich am Samstag kurz in Donezk aufhielt, warnte Rußland vor weiteren EU-Sanktionen, wenn es über die Krim hinausgreifen sollte. Seine Kabinettskollegin Ursula von der Leyen sagte laut einem vorab veröffentlichten Interview mit dem Spiegel, die NATO solle auf die neue Bedrohungslage in Osteuropa mit der Erhöhung ihrer »Abwehrbereitschaft« an der Ostgrenze des Bündnisses reagieren. Ähnliches hatte die polnische Regierung in den letzten Tagen gefordert. Für den Kalten Krieg 2.0 zeichnet sich ein neuer Frontstaat an der Weichsel ab.

**** Aus: junge welt, Montag, 24. März 2014


»Rechter Sektor« tritt an

Klaus Joachim Herrmann über die neue ukrainische Extremistenpartei *****

Der ukrainische »Rechte Sektor« galt als ein zwar gewalttätiger paramilitärischer, aber irgendwie nur etwas außer Kontrolle geratener rabiater Arm der ultrarechten »Sozialnationalisten« von »Swoboda«. Nun macht sich die noch weiter rechts stehende Truppe selbstständig. Nicht vermummt wie auf dem Kiewer Maidan, sondern diesmal – vorerst – auch ohne Stahlhelm, Eisenrohr, Brandflasche und Schusswaffe. Der rabiate Kern der Maidan-Proteste wird demokratisch. Der »Prawy Sektor« wird Partei und ihr Chef Dmitri Jarosch zum Präsidentschaftskandidaten.

Keine Sorge, ertönt es weithin: Die sind Randerscheinung, zu wenig Leute und halten sich nur Monate. Die haben keinen Einfluss und bei Wahlen keine Chance. Die soll man nicht ernst nehmen. Die dienen nur den Russen zur Propaganda. Kritiker übertreiben – nur um den Maidan als Errungenschaft zivilgesellschaftlichen Ungehorsam mies zu machen.

Aber Swoboda regiert schon mit in Kiew. »Sektor«-Jarosch ist Vize des Sicherheitsrates. Wer mit Swoboda im Bunde war, ist es also auch mit dem »Sektor«. Der in Europa einzigartige demokratisch-faschistische Regierungsbund von Kiew sollte weit mehr Sorge als bisher und das Ende jeder Verharmlosung wert sein. In Deutschlands blieb einer mal zwölf Jahre, der sich auch nur ein paar Monate hatte halten sollen.

***** Aus: neues deutschland, Montag, 24. März 2014 (Kommentar)


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