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Freiheit für ukrainische Neonazis?

Extreme Rechte kämpfen bei den Auseinandersetzungen in Kiew in der ersten Reihe

Von Tomasz Konicz *

Anhänger der neofaschistischen Partei »Swoboda« geben bei den derzeitigen Auseinandersetzungen in Kiew den – zunehmend auch antisemitischen – Ton an.

Die jüdische Gemeinde der Ukraine schlägt Alarm: Es sei eine »traurige Entwicklung« vom Demokratiestreben zu »Ultranationalismus und Antisemitismus«, die die ukrainische Protestbewegung kennzeichne, warnte Oleksandr Feldman, Präsident des Ukrainischen Jüdischen Komitees, am 13. Januar. Neofaschistische Kräfte wie die »grotesk fehlbenannte« Partei »Swoboda« (Freiheit) gäben inzwischen bei Kundgebungen und Auseinandersetzungen in Kiew den Ton an, doch die anderen Oppositionsparteien weigerten sich noch immer, die Allianz mit den Rechtsextremen zu beenden. »Swoboda« – deren Mitglieder maßgeblich an der Schleifung der Leninstatue in Kiew beteiligt waren – werde stattdessen innerhalb der Opposition als »essenzieller Partner« gesehen.

Feldman berichtete von einer widerlichen antisemitischen Aufführung während der Neujahrsfeiern der Opposition beim »Euromaidan«, wo auf der zentralen Bühne vor Hunderttausenden Zuschauern das antisemitische Stereotyp des raffgierigen jüdischen Bankers unwidersprochen reproduziert wurde. Am Tag danach zogen rund 15 000 Rechtsextreme durch Kiew, um in einem gespenstisch anmutenden Fackelzug des Nationalisten und Nazikollaborateurs Stepan Bandera zu gedenken. Banderas faschistische Milizen haben am deutschen Überfall gegen die Sowjetunion teilgenommen, sie waren an Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung der Ukraine und an antipolnischen ethnischen Säuberungen beteiligt. Einige der Demonstrationsteilnehmer trugen dabei Uniformen der von den Nazis aufgestellten ukrainischen SS-Division »Galizien«, während sie »Tod unseren Feinden« brüllten.

Den Parolen folgten erste antisemitische Taten: Am 11. Januar wurde ein jüdischer Hebräischlehrer beim Verlassen seiner Synagoge von Unbekannten mit messerbewehrten Springerstiefeln zusammengetreten. Talmudschüler setzten bei nächtlichen Auseinandersetzungen einen Neonazi fest, der genaue Pläne der Umgebung ihrer Talmudschule mit sich führte.

Auch an der Gewalteskalation seit dem 19. Januar, als Demonstranten erneut Parlaments- und Regierungsgebäude zu stürmen versuchten, waren Neonazis führend beteiligt. Laut BBC Ukraine bildeten Aktivisten des neuen Nazinetzwerks »Prawyj Sektor« (Rechter Sektor), in dem sich Stiefelfaschisten und rechtsextreme Fußballhooligans sammeln, die Speerspitze der militanten Angriffe gegen Polizeieinheiten. In sozialen Netzwerken riefen Aktivisten des »Prawyj Sektor« zu Spenden von »Zwillen, Baseballschlägern, Stahlkugeln, Laserpointern, Benzinflaschen, Ketten und Pyrotechnika« auf, berichtete der US-Sender Radio Free Europe. Am 22. Januar kündigte Andrej Tarasenko, Koordinator des Neonazinetzwerks, im Fall einer Räumung des Demonstrationscamps einen »Bürgerkrieg« in der gesamten Ukraine an.

Indes stellt die in der ersten Reihe in Kiew kämpfende extreme Rechte eher ein Symptom der tiefen Spaltung der Ukraine dar. »Swoboda« und ihr Führer Oleg Tjagnibok, der die Ukraine von einer »russisch-jüdischen Mafia« regiert sieht, haben ihre Erfolge bei der Parlamentswahl 2012 ausschließlich im Westen des Landes errungen, im Zentrum und im Osten blieben sie marginalisiert. Diese Spaltung kommt auch in der Geschichtspolitik zum Ausdruck: Während im Westen die ukrainische SS-Division »Galizien« rehabilitiert wird und immer neue Bandera-Denkmäler entstehen, ließ Präsident Viktor Janukowitsch den Titel »Held der Ukraine« Bandera wieder aberkennen, der ihm von Amtsvorgänger Viktor Juschtschenko verliehen worden war.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 24. Januar 2014


Countdown zum Putsch

Ukraine: Opposition droht mit »Generalangriff« zum Sturz von Präsident Janukowitsch. Premier Asarow offenbar vor Ablösung

Von Reinhard Lauterbach **


Die Hoffnung auf Entspannung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew war am Donnerstag nur von kurzer Dauer. Nachdem der befürchtete Sturm der Polizei auf das Zeltlager der Regierungsgegner auf dem Unabhängigkeitsplatz in der Nacht zuvor ausgeblieben war, hatte Opposi­tionsführer Witali Klitschko am Vormittag einen mehrstündigen »Waffenstillstand« zwischen der Polizei und den militanten Demonstranten ausgehandelt. Die Vereinbarung sollte ein weiteres Spitzengespräch der Regierungsgegner mit Staatspräsident Wiktor Janukowitsch ermöglichen, nachdem eine erste Begegnung am Mittwoch ohne Ergebnis vertagt worden war. Trotzdem flogen am Nachmittag wieder Steine auf die Polizisten.

An der Großkundgebung der Opposition am Mittwoch abend hatten sich mit etwa 60000 Teilnehmern zwar weit weniger Menschen als in den vergangenen Monaten beteiligt. Angesichts der in der Luft liegenden Gefahr einer Räumung des Platzes war diese Zahl gleichwohl erheblich. Die Oppositionsführer Arsenij Jazenjuk, Klitschko und Oleg Tjahnibok überboten sich in pathetischer Rhetorik. Jazenjuk etwa sagte, wenn der Präsident nicht innerhalb von 24 Stunden den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen freimache, werde zum Generalangriff angesetzt – und er selbst werde an der Spitze dabei sein. »«Wenn es eine Kugel in den Kopf gibt, dann gibt es eine Kugel in den Kopf«, zitierte die Nachrichtenagentur dpa den früheren Außenminister. Angesichts von Jazenjuks eher schmächtiger Statur dürften dessen Drohungen die Staatsmacht jedoch nicht übermäßig beunruhigt haben. Es ist sowieso zweifelhaft, welche weiteren außerparlamentarischen Eskalationsstufen die Opposition ins Feld führen kann.

Präsident Janukowitsch scheint indes bereit zu sein, den bei seinen Gegnern verhaßten Ministerpräsidenten Nikolaj Asarow zu opfern. Parlamentspräsident Anatoli Rybak kündigte nach einem Treffen mit Janukowitsch eine Sondersitzung des Obersten Rates für die nächste Woche an. Auf der Tagesordnung sollten sowohl die neuen Versammlungsgesetze stehen als auch die Frage einer Entlassung des Premiers. Asarow wies unterdessen erneut jede Verantwortung der Staatsmacht für die inzwischen fünf Toten des »blutigen Mittwochs« zurück. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos erklärte er, die Scharfschützen, die zwei Demonstranten erschossen hätten, seien Provokateure der Regierungsgegner selbst gewesen.

Unterdessen verstärkt sich der internationale Druck auf Präsident Janukowitsch. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangte nach der Kabinettsklausur im brandenburgischen Meseberg, die jüngsten Verschärfungen des Versammlungsrechts zurückzunehmen. Jede Regierung sei verpflichtet, ihren Bürgern friedliche Demonstrationen zu ermöglichen, sagte Merkel – ohne Rücksicht darauf, daß auch in Deutschland seit Jahrzehnten Verbote von Vermummung und passiver Bewaffnung bei Demonstrationen gelten. Ihr Aufruf zu Zugeständnissen an die ukrainische Opposition kreuzte sich mit gegensätzlichen Pressionen aus Rußland. Die Moskauer Zeitung Wedomosti zitierte einen anonymen hohen Regierungsbeamten mit der Warnung an Janukowitsch, es nicht zu einem Machtwechsel kommen zu lassen. Anderenfalls stünden die weiteren Tranchen der im Dezember vereinbarten Hilfskredite für Kiew in Höhe von 15 Milliarden Dollar in Frage. Bisher hat Rußland etwa ein Fünftel dieser Summe in kurzfristige ukrainische Staatsanleihen investiert.

** Aus: junge Welt, Freitag, 24. Januar 2014


Bandenkrieg

Wohin steuert die Ukraine?

Von Reinhard Lauterbach ***


Es gibt keinen Grund, als Linker den Maidan-Protesten Erfolg zu wünschen. Sie sind eine allenfalls liberale, realistisch gesehen nationalistische Bewegung, die im Ergebnis den ukrainischen Faschisten zu einem ungeahnten Aufschwung verholfen hat.

Es gibt aber auch keinen Grund, sich als Linker zu freuen, wenn die ukrainische Polizei mit diesem Spuk aufräumt. Denn was sie als Rechtsordnung verteidigt, ist die Rechtsordnung der zehn oder 15 Oligarchen, die das Land unter sich aufgeteilt haben, während die Masse der Bevölkerung unter ärmlichen Bedingungen lebt. Die Nach-Maidan-Ukraine wird noch nationalistischer sein als die davor. Die Faschisten von der Freiheitspartei und dem »rechten Block« können sich das Mäntelchen des Martyriums umhängen, und die Entschlossenheit, die ihre Leute in der Auseinandersetzung mit der Polizei gezeigt haben, hat sicher auch außerhalb der unmittelbaren Parteimitgliedschaft Eindruck gemacht.

Man mag es zwar gut finden, daß der bekanntlich immer im eigenen Land sitzende Hauptfeind in Kiew eine – vorläufige – Niederlage erlitten hat; man mag es Rußland »gönnen«, hier einen, wenn auch kostspieligen, Punkt gemacht zu haben. Aber als Linker den Geopolitiker zu spielen, bedeutet in erster Linie, den eigenen Standpunkt von Institutionen abhängig zu machen, die von ganz anderen Interessen geleitet sind als der Emanzipation von Ausbeutung und Herrschaft.

Die ukrainischen Proteste kranken von Anfang an daran, daß sie soziale Fragen ausklammern oder national wenden. Wenn Janukowitsch sie bisher aussitzen kann, liegt das daran, daß die Bewegung die Industriegebiete der Ostukraine kaum erfaßt hat. Die Demonstranten haben nie die Lebensrealität des Bergmanns in den unfallträchtigen Kohlegruben des Donbaß, der zur Arbeitsmigration gezwungenen Krankenschwester, der unterbezahlten Lehrerin in Odessa und des für den Rußland-Export arbeitenden Facharbeiters aus Charkow zum Thema gemacht. Das Bürgertum des wohlhabenden Kiew, herum­twitternde Jungakademiker und Facebook-Aktivisten ergeben auch im Verbund mit den schlagfertigen Nationalisten aus der wirtschaftlich bedeutungslosen Westukraine keine ausreichende Koalition, um an der oligarchischen Herrschaft zu rütteln. »Weg mit der Bande« zu schreien, ebnet nur den Weg für die nächste. Konsequent endet der sozial bornierte ukrainische Protest in einer leerlaufenden militärischen Auseinandersetzung mit dem Staat, die auf diesem Feld nicht zu gewinnen ist. Aber um nichts anderes als den Machtwechsel geht es den Oppositionspolitikern schließlich: Ihre Bande soll an die Macht. Nach den schweren Auseinandersetzungen der ersten Wochenhälfte noch mit weiteren Angriffen zu drohen, das ist der direkte Weg in den Bürgerkrieg. Wollen Klitschko und Co. den wirklich? Es haben schon einmal konservative Politiker geglaubt, faschistische Randalierer steuern zu können.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 24. Januar 2014


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