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Verhinderter Kamikaze

Ukrainische Neoliberale provozieren vorgezogene Neuwahlen. Parteien bringen sich in Stellung. Mehrere antisoziale »Reformen« im Parlament ohne Mehrheit

Von Reinhard Lauterbach *

Als Arseni Jazenjuk, Vizechef der neoliberal-nationalpopulistischen Vaterlandspartei, Ende Februar Ministerpräsident der aus dem Putsch hervorgegangenen Übergangsregierung wurde, gefiel er sich gegenüber Journalisten gern in der Pose des »Kamikaze«: Diese Regierung zu leiten, sei wegen der anstehenden »Reformen« ein politisches Himmelfahrtskommando. Er und seine Mitstreiter opferten ihre politischen Karrieren für die Idee einer anderen Ukraine auf dem Altar des Vaterlandes, ließ der Mann vernehmen.

Fünf Monate später versucht der selbsternannte Kamikaze, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Denn zu Wochenbeginn hatte das ukrainische Parlament drei Haushaltsergänzungsgesetze Jazenjuks gnadenlos durchfallen lassen. Der Premier hatte vorgeschlagen, zur Finanzierung des Kriegs im Donbass eine Reihe von Steuern zu erhöhen und Kürzungen bei den Renten, der Arbeitslosenunterstützung und den Gehältern des öffentlichen Dienstes zu beschließen. Nicht einmal seine Partner im Regierungsbündnis waren ihm dabei gefolgt.

Die fehlende Koalitionsdisziplin der faschistischen Swoboda-Partei und der von Witali Klitschko aufgebauten Partei UDAR hat einen klaren Grund: Präsident Petro Poroschenko spielt sein eigenes Spiel. Er setzt auf vorgezogene Neuwahlen zum ukrainischen Parlament, und das aus zwei Gründen – Erstens will er auch die Reste der Kräfte, die bis zum Februar den gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch unterstützten, aus dem politischen Leben eliminieren. Gegen die Kommunistische Partei wurde ein Verbotsverfahren wegen »Unterstützung des Terrorismus« – gemeint ist Kritik an dem Bürgerkrieg in der Ostukraine – eröffnet. Die zerfallende Partei der Regionen soll über Neuwahlen ausgeschaltet oder dezimiert werden. Poroschenkos zweites Motiv ist, mit seiner eigenen, schon vor längerer Zeit gegründeten »reformfreudigen« Partei namens »Solidarität« eine ihm ergebene politische Kraft ins Parlament zu entsenden, um so anschließend auf die Regierung Einfluß nehmen zu können. Denn Verfassungsänderungen zugunsten des Parlaments – und die Einschränkung der Macht des Präsidenten – waren der staatsrechtliche Kern des Umsturzes vom Februar. Durch seinen Kurs auf Neuwahlen hat Poroschenko nun für alle Parteien, auch diejenigen, die durch den Putsch an die Macht gekommen sind, den Wahlkampf eingeläutet – und es will sich offensichtlich niemand drei Monate vor dem möglichen Wahltermin Ende Oktober mit der Unterstützung unpopulärer Maßnahmen die Finger verbrennen.

Im Kontext geplanter massiver sozialer Einschnitte ist auch eine Äußerung Jazenjuks vor einigen Tagen zu sehen. Der Regierungschef hatte behauptet, die russische Propaganda arbeite inzwischen mit sozialen Argumenten und verweise auf die Kosten des Krieges für die breite Masse der Bevölkerung. Faktisch stimmt daran nichts. Die russische Seite argumentiert für eine friedliche Konfliktlösung im internationalen Rahmen, aber davon können sich die meisten Ukrainer nicht mehr überzeugen, seitdem die Ausstrahlung der russischen Fernsehsender in dem von Kiew kontrollierten Gebiet eingestellt wurde. Klar ist vor diesem Hintergrund, daß Jazenjuk ein Argument, das ihm möglicherweise gefährlich werden kann, schon präventiv mit dem im Augenblick schlimmsten Vorwurf belegt, den der politische Diskurs in der Ukraine zu bieten hat – für Rußland zu arbeiten.

Jazenjuks Rücktritt ist auch für ihn selbst ein Befreiungsschlag. Er kann nun im Wahlkampf jeden der demagogischen Kniffe anwenden, für die die Vaterlandspartei berüchtigt ist, und er erschwert damit der Noch-Chefin der Partei, Julia Timoschenko, sich auf seine Kosten zu profilieren. Allerdings sind die Chancen der Vaterlandspartei auf ein Comeback nach jetzigen Umfrageergebnissen ohnehin gering. Ihr werden kaum mehr als zehn Prozent der Stimmen vorausgesagt. Großer Gewinner könnte dagegen die ultranationalistische »Radikale Partei« von Oleg Ljaschko werden. Ihr wird ein Sprung aus dem einstelligen Bereich bis auf 20 bis 25 Prozent der Stimmen prophezeit.

* Aus: junge Welt, Samstag, 26. Juli 2014


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