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"Bezahlt wird nicht"

Kiew versucht kreativ, seine Schulden bei ausländischen Gläubigern loszuwerden und den Anschein einer Insolvenz zu vermeiden

Von Reinhard Lauterbach *

Die Verhandlungen der ukrainischen Regierung mit ihren ausländischen Gläubigern über eine Restrukturierung ihrer Außenstände treten auf der Stelle. Auf einen Schuldenschnitt, wie ihn Kiew anstrebt, wollen sich die internationalen Investmentfonds, die einen Großteil der ukrainischen Euro-Bonds aufgekauft haben, nicht einlassen, ob nun Premierminister Arseni Jazenjuk fleht oder Finanzministerin Natalija Jaresko über NZZ oder Wall Street Journal Optimismus über die Finanzlage ihres Landes verbreitet. Das einzige, was die westlichen Gläubiger der Ukraine bisher vorgeschlagen haben, ist eine Verlängerung der Laufzeiten der aktuell fällig werdenden Anleihen. Das ist aus ihrer Sicht überaus verständlich, denn die Zinscoupons liegen weit über dem Marktniveau. Jeder Fondsmanager, der einen solchen Deal abschließt und seiner Firma diese Zinsen für weitere Jahre sichert, hat sich seinen Bonus verdient.

Das Problem ist, dass eine reine Verlängerung der bestehenden Schulden das Problem der Ukraine nicht löst. Sie leidet nicht an einer kurzfristigen Liquiditätsklemme, die in zwei Jahren wieder vorbei sein könnte, wenn erst die Wirtschaft wieder wüchse. Wirtschaftliche Besserung ist aber nicht in Sicht; so ist die Ukraine schlicht dramatisch überschuldet. Der Internationale Währungsfonds (IWF) will freilich neue Kredite nur dann herausrücken, wenn sich Kiew mit seinen Gläubigern über die Rückzahlung der bestehenden Schulden einigt. Die erste fällige Zahlung betrifft noch in diesem Monat einen Teil jener drei Milliarden Dollar, für die Russland im Dezember 2013 noch unter Wiktor Janukowitsch ukrainische Staatsanleihen gekauft hatte, um das Nachbarland über Wasser und die Kiewer Staatsmacht gewogen zu halten. Später im Jahr folgen zwei Tranchen an westliche Investoren und im Dezember der Rest des russischen Milliardenkredits.

Bei den russischen Schulden setzt jetzt die ukrainische Kreativität an. Im Mai hat Präsident Petro Poroschenko ein Gesetz in Kraft gesetzt, wonach die Ukraine sich selbst berechtigt, selektiv bestimmte Kredite nicht zu bedienen. Es versteht sich von selbst, dass damit nicht die in westlichen Händen liegenden gemeint sind, schließlich braucht die Ukraine frisches Geld vom internationalen Kapitalmarkt. Ergänzend hat Kiew jetzt eine Gegenforderung gegen Russland aufgemacht: Es habe die Ukraine mit der Übernahme der Krim um 47,3 Milliarden US-Dollar gebracht. Eingerechnet in diese Summe sind auch mutmaßliche Öl- und Gasvorkommen im Schwarzen Meer vor der Küste der Halbinsel, die freilich zu ukrainischen Zeiten nicht erschlossen waren, sondern erst kurz nach dem Beginn des Bürgerkriegs in westlichen Medien als »Putins fette Beute« auftauchten. Die Ukraine will nach Kiewer Medienberichten diese Summe in Strasbourg vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einklagen. Was der Streit mit Menschenrechten zu tun hat, ist dabei schleierhaft, und Russland wäre als Nichtmitglied der EU im übrigen auch nicht verpflichtet, ein eventuell zugunsten der Ukraine ausfallendes Urteil zu befolgen. Auch dies wäre keine kurzfristige Erleichterung für Kiew, denn solche Prozesse dauern Jahre. Relativ am einfachsten wäre es noch, die Anteile russischer Unternehmen an ukrainischen Betrieben zu beschlagnahmen; das könnte allerdings auch wieder Klagen von internationalen Aktionären zum Beispiel von Gasprom hervorrufen und so für dauerhafte Missstimmung sorgen.

Deshalb hat die Ukraine parallel noch ein weiteres Fass aufgemacht: ein alter Streit mit Russland um die Aufteilung des sowjetischen Auslandsvermögens. 1991 hatte sich Russland mit allen früheren Sowjetrepubliken außer der Ukraine auf eine »Nulllösung« geeinigt. Es übernahm alle Schulden der UdSSR, aber auch ihr gesamtes Vermögen. Die Ukraine verlangte dagegen von Russland 16 Prozent des sowjetischen Auslandsvermögens, hat allerdings das entsprechende Abkommen, durch das sie auch für die Schulden hätte geradestehen müssen, nie ratifiziert. Russland hat die Auslandsschulden der UdSSR inzwischen vollständig bezahlt, womit die ukrainischen Ansprüche erloschen wären.

Es ist daher nicht im ökonomischen Sinne ernst zu nehmen, dass die Ukraine jetzt wieder beginnt, von Ansprüchen auf russisches Auslandsvermögen zu sprechen. Schon deshalb, weil das Vermögen von Botschaften und anderen diplomatischen Vertretungen nicht vollstreckt werden kann. Davon abgesehen, stünde die Ukraine mit solchen Forderungen in einer politisch delikaten Konkurrenz: vorher hatten die westlichen Aktionäre des ehemaligen Chodorkowski-Konzerns Jukos in Den Haag gegen Russland ein Urteil über 50 Milliarden Dollar Schadenersatz erwirkt, das einstweilen auch nur auf dem Papier steht. Die ukrainischen Ansprüche kämen, wenn überhaupt, erst nachrangig zum Zuge.

So bleibt als einzig nachvollziehbarer Grund, warum Kiew jetzt Russland eine Rechnung für die Krim ausstellt, der ganz banale. Man will offenbar vor der Öffentlichkeit und den Finanzmärkten die Tatsache, dass man die russischen Kredite von 2013 nicht zurückzahlt, nicht als Insolvenz erscheinen lassen, sondern den Anschein einer Aufrechnung erwecken. Einen Pferdefuß hat diese Argumentation natürlich immer noch: Wenn man die Gleichung »Krim = Schulden« ernstnimmt, vergibt Kiew mit jeder einbehaltenen Kreditrate und jedem konfiszierten Aktienpaket Schritt für Schritt den Anspruch auf die Halbinsel. Es würde irgendwann aussehen wie ein ganz normaler »debt-asset-swap«, ein Tausch von Schulden gegen Vermögenswerte.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 11. Juni 2015


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