Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Land schmiert ab

Die Wirtschaftslage der Ukraine nähert sich der Katastrophe. Zinsen auf Rekordhoch, Währung am Boden, Bankrott in Sicht

Von Reinhard Lauterbach *

Mitte Februar gab es in Kiew eine neue Form von Demonstrationen. Schuldner von Devisenkrediten versammelten sich zu einem sogenannten Finanzmaidan vor der Nationalbank. Sie verlangten den Rücktritt von Nationalbankchefin Walerija Gontarewa. Die habe durch ungeschickte Interventionen am Devisenmarkt die Landeswährung Griwna (UAH) in den Keller geschickt. Für einige Tage lag der Kurs der Griwna zur US-Währung bei 40, dem Fünffachen des Werts vor dem Euromaidan, also den Protesten gegen den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch vor gut einem Jahr. Das bedeutet, dass die ukrainische Währung inzwischen 80 Prozent ihres Außenwerts eingebüßt hat. Tagelang gab es keine legale Möglichkeit, Devisen zu kaufen, die zahllosen kleinen Wechselstuben stellten mangels Angebot den Betrieb ein. Spontan entstand wieder ein Valuta-Schwarzmarkt mit Kursen, die um 20 Prozent über den offiziellen lagen. Ukrainische Staatsanleihen sanken an den Finanzmärkten auf 42 Prozent ihres Nennwerts.

Die Demonstration der wütenden Schuldner wurde nach zwei Tagen von der Polizei auseinandergejagt, und die Nationalbankchefin überstand auch einen Abwahlantrag im Parlament. Doch Anfang dieser Woche erhöhte Gontarewa den ukrainischen Leitzins auf unbezahlbare 30 Prozent. Natürlich glaubt niemand, dass irgendjemand im realen Wirtschaftsverkehr diesen Zins tatsächlich zahlt. Es ist ein verzweifelter Versuch, Banken und Unternehmen zu veranlassen, ihr Geld in ukrainischer Währung zu belassen, und so den akuten Ausbruch einer Krise des ukrainischen Finanzsystems hinauszuzögern. Die ist latent ohnehin schon im Gang. 20 ukrainische Banken mussten im vergangenen Jahr ihre Schalter schließen, Anfang der Woche ging das viertgrößte Institut, die Delta-Bank, in Konkurs, und selbst die vergleichbar solide aufgestellte »Privatbank« des Oligarchen Igor Kolomojskij musste sich um einen Notkredit der Zentralbank bemühen. Der Grund ist ein starker Anstieg der »notleidenden« Unternehmenskredite. Der wiederum ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Wirtschaftsleistung bzw. das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine im 2014 um 20 Prozent zurückgegangen ist und selbst langjährige Filetstücke der ukrainischen Volkswirtschaft wie der Raketenproduzent »Piwdenmasch« in Dnipropetrowsk wegen ausbleibender Aufträge aus Russland Kurzarbeit einführen müssen.

Die Devisenreserven der Zentralbank sind unterdessen auf unter sechs Milliarden US-Dollar gesunken, die im wesentlichen schon für die Rückzahlung fälliger ukrainischer Anleihen zurückgehalten werden müssen. Denn von denen sind allein in diesem Jahr 5,4 Milliarden fällig. Zusätzlich hat die Ukraine Gasschulden gegenüber Russland in Milliardenhöhe, von denen sie als eine eher symbolische Geste unter Druck der EU Ende Februar 15 Millionen US-Dollar zurückgezahlt hat – nach Angaben des russischen Konzerns Gasprom entspricht der Betrag der ukrainischen Gasrechnung eines Tages. Kiew stellt sich stur und hofft offensichtlich, mit der Hilfe westlicher Geldgeber irgendwie über die Runden zu kommen. Der Internationale Währungsfonds hat neue Kredite in Höhe von 18 Milliarden US-Dollar in Aussicht gestellt, aber verteilt über vier Jahre; Bedingung für ihre Auszahlung sind weitere brutale Sozialkürzungen und Schnitte im Staatshaushalt. Letztere würden aber die ukrainische Realwirtschaft endgültig abwürgen.

So hofft die Ukraine auf einen Schuldenschnitt als letzte Rettung. Ihre Auslandsschulden sind im Laufe des Jahres 2014 von 40 auf 100 Prozent des BIP gestiegen. Schwierig wird es nicht nur sein, die internationalen Investoren, die sich die ukrainischen Anleihen genau wegen ihrer hohen Verzinsung ins Depot gelegt hatten, von einem Verzicht auf ihre Ansprüche zu überzeugen. Das Problem ist, dass unter den ausländischen Gläubigern mindestens einer ist, für den das Investment keine in erster Linie ökonomische, sondern eine politische Entscheidung war: Russland. Moskau hatte im Dezember 2013 zur Unterstützung von Janukowitsch ukrainische Euro-Bonds für drei Milliarden US-Dollar gekauft, wobei dieser Kredit jederzeit fällig gestellt werden kann, wenn die Ukraine mit dem Schuldendienst in Verzug gerät. Russland hat bisher auf den Einsatz dieses Druckmittels verzichtet – sicher auch, weil es weiß, dass in Kiew aktuell diese drei Milliarden Dollar ohnehin nicht zu holen sind. Rein ökonomisch kann sich Russland zurücklehnen: Es rechnet darauf, dass der Westen schon aus Prestigegründen die ukrainischen Schulden letztlich trotz aller Sanktionen übernehmen muss. Und Moskau kann versuchen, sich sein Stillhalten mit politischen Zugeständnissen bezahlen zu lassen. Denn einem Schuldenschnitt müssten alle Gläubiger zustimmen. Moskau ist also in der Position, die ganze Sanierung der ukrainischen Staatsfinanzen platzen lassen zu können. Wie es eine US-Fondsmanagerin formulierte: Russland könne die Ukraine schneller schädigen, als ihr der Westen zu helfen im Stande sei.

* Aus: junge Welt, Freitag, 6. März 2015

Maulkörbe in Kiew

Eines der wesentlichen Argumente für die »europäischen« Qualifikationen der Ukraine ist für deren Advokaten seit Jahren der gegenüber Russland wesentlich »freiere« Charakter der Gesellschaft. Belegt wird dies traditionell mit dem Vorhandensein einer im Vergleich zu den »Kremlmedien« pluralistischeren Presselandschaft und einer lebhaften Diskussion in der Öffentlichkeit. Daran ist so viel Wahres, dass die Medien in der Ukraine verschiedenen Oligarchen gehören und daher auch die Schattierungen von deren jeweiligen Interessen widerspiegeln. Nun ist die Ukraine aber dabei, diesen vermeintlichen Vorteil gegenüber Russland zu verspielen. Die Presse wird in wachsendem Maße gleichgeschaltet; zuletzt hat die Ukraine am Donnerstag angekündigt, künftig keine russischen Medien mehr bei Behörden und Ministerien zu akkreditieren. Gleichzeitig werden auch den ukrainischen Journalisten und sogar der Bevölkerung Maulkörbe angelegt. Zuletzt ist ein Abgeordneter der »Volksfront« von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk mit einem Vorschlag zur Verschärfung des Strafrechts hervorgetreten. Der Antrag sieht vor, die »böswillige Herabwürdigung des Staates und seiner Repräsentanten« mit Zwangsarbeit bis zu zwei Jahren, Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Jahren zu ahnden. Die Tatmerkmale sind dabei so weit gefasst – es reicht, dass eine Äußerung »geeignet« ist, das Ansehen des Staates zu schmälern –, dass unter den neuen Paragraphen mit entsprechendem politischen Willen jedes Gemecker in der Schlange oder in der Straßenbahn strafbar gemacht werden kann. Die Bestimmung verrät auch beim Strafmaß das Vorbild der »Verordnung zur Abwehr heimtückischer Diskreditierung der nationalen Regierung« vom 21. März 1933 aus der Anfangsphase des deutschen Faschismus.

Bereits vor einigen Wochen hatte der ukrainische Gesetzgeber im Zusammenhang mit der wenig erfolgreichen Mobilisierung von Reservisten für den Krieg im Osten des Landes die Kriegsdienstverweigerung unter Strafe gestellt. Auffällig ist dabei, dass die Verweigerung selbst mit bis zu zwei Jahren Haft leichter bestraft wird als die Werbung für sie (maximal fünf Jahre). Den ukrainischen Machthabern scheint ihre sogenannte freie Öffentlichkeit unheimlich zu werden. (rl)




Not lehrt planen

Die ostukrainischen Volksrepubliken kämpfen mit Versorgungsmängeln. Preiskontrollen sollen Teuerung bremsen

Von Reinhard Lauterbach **


In der Ostukraine wird der Waffenstillstand seit einigen Tagen halbwegs eingehalten. Das stellt die Verwaltungen der international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk vor neue Aufgaben: das Leben und Überleben der auf etwa zwei Millionen Menschen geschätzten Bevölkerung zu sichern. Die Ausgangslage dafür ist schlecht bis sehr schlecht: 80 Prozent der Bergwerke haben die Produktion eingestellt, die Stahl- und Röhrenwerke liegen still, weil kein Rohstoff mehr kommt – dieser wurde traditionell aus dem Eisenerzvorkommen von Kriwoj Rog in der Zentralukraine bezogen. Das sind zwar nur 200 Kilometer Luftlinie, aber dazwischen liegt inzwischen die Front. Entsprechend fehlen den Republiken die Steuereinnahmen und den Leuten die Löhne. Viele Männer haben sich offenbar auch aus diesem Grund den Volkswehren angeschlossen, die nach Angaben der Militärführung der Aufständischen in den letzten Wochen reichlich neue Freiwillige aufgenommen haben – nach deren eigener Darstellung haben allein die Kämpfe um Debalzewo auf Seiten der Volkswehren mindestens 500 Männer das Leben gekostet, etwa 2.000 sind verwundet worden.

Eine gewisse Minimalversorgung bieten einige Großbetriebe, die ihren Beschäftigten wenigstens noch einmal täglich ein warmes Essen anbieten und so die Belegschaften zusammenhalten. Auf dem Markt schießen die Preise für Lebensmittel in die Höhe, denn Lieferungen aus den Agrargebieten der Ukraine werden an den Kontrollpunkten der ukrainischen Armee mit hohen Sondersteuern belegt – Geschäftsleute aus Donezk sprechen ersatzweise von Zwangsschmiergeldern, denn Quittungen gebe es nie. Ziel der Ukraine ist es ganz offensichtlich, die Bevölkerung im aufständischen Gebiet auszuhungern, um dort Unzufriedenheit mit den Volksrepubliken zu schüren. Verstärkt wird der Druck auf die Donbass-Bewohner durch die Blockade der Rentenzahlungen, die seit dem November andauert, und der Abschnürung der Bevölkerung vom ukrainischen Bankensystem. Die ganze sozialpolitische Erpressung funktioniert natürlich auf der Grundlage, dass der Kapitalismus als Wirtschaftssystem von den Volksrepubliken nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Einzelne Forderungen aus der Frühphase des Aufstandes, etwa Betriebe des Oligarchen Rinat Achmetow zu verstaatlichen, sind seit dem Sommer verstummt; die »Volksbürgermeister« der ersten Wochen, die sie sich zu eigen gemacht hatten, sind auf russischen Druck ihrer Ämter enthoben worden. Wegen der Teuerung bei Lebensmitteln haben kürzlich allerdings etliche Stadtverwaltungen im Donbass Höchstpreise für bestimmte Waren festgelegt und maximale Margen zwischen Groß- und Einzelhandel vorgeschrieben. Ob sie überall eingehalten werden, ist unklar. Zusätzlich gibt es in den Städten inzwischen Suppenküchen für die besonders Bedürftigen.

Etwas humanitäre Hilfe leistet der schon erwähnte Oligarch Achmetow über eine Stiftung seines Konzerns, auch ein kleinerer Konvoi des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR erreichte die Region. Wesentlich für das Überleben im Donbass sind aber die inzwischen regelmäßigen Hilfskonvois aus Russland. Vor einigen Tagen brachte der siebzehnte von ihnen Grieß, Nudeln, Zucker und andere dauerhafte Lebensmittel ins Donbass, begleitet von Protesten der ukrainischen Regierung über die damit verbundene »Grenzverletzung«. Die Verteilung der Hilfsgüter bietet allerdings Anlass für Konflikte vor Ort. Denn es gibt offenbar keine politische Grundsatzentscheidung, ob diese Güter kostenlos an Bedürftige abgegeben werden, oder ob sie auf den Markt geworfen werden und so den Volksrepubliken Steuereinnahmen verschaffen sollen. Beide Varianten kommen vor, und das letztere führt immer wieder zum Verdacht, die Führung der Volksrepubliken bereichere sich auch privat an diesen Hilfslieferungen.

** Aus: junge Welt, Freitag, 6. März 2015


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