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Sirenen rufen zum Widerstand gegen Gewalt im Donbass

Oligarch Achmetow macht Front gegen »Banditen« / Russland zog Truppen von der Grenze ab / Moskau warnt vor zweitem Kalten Krieg

Von Klaus Joachim Herrmann *

Vor Gewalt fliehen in der Ukraine die Menschen. Doch es gibt auch Moskaus Truppenrückzug und die Forderung nach Gesprächen.

Mit Warnstreiks wollen seit Dienstag Beschäftigte der Kohle- und Stahlindustrie des ukrainischen Donbass der Ukraine Frieden zurückbringen. Zehntausende folgten dem Aufruf zum Widerstand gegen Gewalt und Blutvergießen. Dazu würden Sirenen über den von ihm kontrollierten Unternehmen im Osten der Ukraine rufen, hatte der Oligarch Rinat Achmetow in der Nacht zum Dienstag in einer Videobotschaft angekündigt.

Achmetow rief die Bürger zum friedlichen Widerstand gegen die Separatisten auf. Er sprach von »Banditen und Marodeuren«, die mit Maschinenpistolen durch die Städte zögen, Bürger verschleppten und Angst verbreiteten. »Das ist ein Kampf gegen den Donbass«, rief er aus.

Kiews Innenminister Arsen Awakow frohlockte: »Die Kraft und die Energie der Menschen wird den terroristischen Abschaum besser als jede Anti-Terror-Operation wegfegen.« Nach UNO-Angaben befinden sich in dem krisengeschüttelten Land 10 000 Menschen auf der Flucht.

Ein Antrag der »Volksrepublik Lugansk« auf Aufnahme in die UNO kursierte derweil in ukrainischen und russischen Medien. Begründet wurde das Ersuchen mit der Errichtung einer »profaschistischen Neonazi-Diktatur mit Hilfe des oligarchischen Kapitals« in der Ukraine.

Die NATO hatte es noch nicht bemerkt, doch ukrainische Aufklärer meldeten mittags den Rückzug russischer Truppen um zehn Kilometer von der Grenze. Russlands stellvertretender Verteidigungsminister Anatoli Antonow fragte über die BBC nach, welche Entfernung der Westen wünsche – fünf, zehn oder 100 Kilometer? »Niemand hat uns bisher gesagt, wie viel Kilometer ausreichen würden.« Eine Erklärung für den zögerlichen Abzug hatte die russische Truppenführung parat. Marschrouten und Marschordnung seien festzulegen, Zelte abzubauen, Ausrüstung zu verladen, Kolonnen zu formieren. Den Befehl seines Oberkommandieren Präsident Wladimir Putin vom Montag zum Rückzug in die ständigen Stationierungsräume gab laut seinem Pressedienst Verteidigungsminister Sergej Schoigu jedenfalls weiter. NATO und USA-Regierung hatten moniert, sie hätten für den Rückzug keine Anzeichen finden können.

Kritik kam aber auch von Russlands Premier Dmitri Medwedjew. Er warf in einem Fernsehinterview den USA vor, alle Errungenschaften der »Reset«-Politik der vergangenen Jahre durchkreuzt zu haben. Es sei viel Nützliches für die russisch-amerikanischen Beziehungen geleistet worden und deshalb sehr schade, dass alles »heute praktisch auf den Nullpunkt gebracht« werde. »Im Grunde genommen schreiten wir langsam, aber sicher einem zweiten Kalten Krieg entgegen, den niemand braucht«, wurde Medwedjew von RIA/Novosti zitiert.

Der Trend deutet aber auf etwas Entspannung. So forderten China und Russland in einer Erklärung alle politischen Gruppen in der Ukraine zu Gesprächen und einer Deeskalation auf. Eine von Russland vorgeschlagene Sitzung des NATO-Russland-Rates dürfte kommende Woche stattfinden.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 21. Mai 2014


Granaten auf Wohnhäuser

Ukraine: Kiewer Truppen beschießen Slowjansk. Oligarch Achmetow organisiert Proteste gegen »Separatisten«. Die verstaatlichen seine Unternehmen

Von Reinhard Lauterbach **


Wenige Tage vor der für Sonntag geplanten Präsidentschaftswahl in der Ukraine gehen die Truppen der Kiewer Machthaber immer rücksichtsloser gegen die Zivilbevölkerung des Donbass vor. Einwohner der Stadt Slowjansk, einer Hochburg der Widerstandsbewegung gegen die Junta, verbreiteten am Dienstag im Internet Bilder von Wohnhäusern ohne Dachstuhl. Die Beschädigungen seien die Folge des Einsatzes von Artillerie durch die Armee, die Slowjansk seit Tagen umstellt hat. Nach Angaben der Chefärztin des örtlichen Krankenhauses werden dort derzeit 14 Verletzte mit Schuß- und Splitterverletzungen behandelt. Vier von ihnen seien im Laufe der Nacht zum Dienstag eingeliefert worden. Der Bürgermeister von Donezk, Olexander Lukjantschenko, teilte mit, der Aufstand im Donbass habe bereits mehr als 100 Menschenleben gekostet, darunter auch mehrere Dutzend Zivilisten.

Die westliche »Qualitätspresse« interpretierte die Eskalation auf ihre Weise. So verbreitete die führende Tageszeitung Polens, Gazeta Wy­borcza, die Bilder aus Slowjansk mit dem Untertext »Häuser in Slowjansk nach dem heutigen Schußwechsel«. In der mitgesendeten Originalunterschrift steht freilich das russische Wort für »Beschuß« (obstrel) und nicht für »Schußwechsel« (perestrelka).

In den Bezirken Donezk und Luhansk besetzten Einheiten der Aufständischen derweil elf von insgesamt 34 Wahlkommissionen, darunter die in den größeren Städten. Vertreter der »Volksrepublik Donezk« hatten erklärt, die Präsidentenwahl am kommenden Sonntag werde in den von ihnen kontrollierten Städten nicht stattfinden. Weiter kündigte die Volksrepublik an, alle Unternehmen des Oligarchen Rinat Achmetow zu verstaatlichen. Dieser hatte zuvor öffentlich erklärt, er werde keine Steuern an die neue Macht abführen, sondern weiter an die Finanzbehörden Kiews zahlen. Zudem rief er die Beschäftigten seiner Unternehmen zu »Warnstreiks« auf, die in den nächsten Tagen täglich um 12 Uhr mit bis zu drei Stunden Dauer stattfinden sollen. Ziel sei »die Verlagerung des Konflikts an den Verhandlungstisch«. Achmetows Unternehmensgruppe SCM forderte die Geistlichen aller Konfessionen auf, mittags für fünf Minuten die Glocken zu läuten, während an die Autofahrer appelliert wurde, stehenzubleiben und fünf Minuten lang zu hupen.

Rußlands Premierminister Dmitri Medwedew erregte unterdessen mit einem Interview für die US-amerikanische Wirtschaftsagentur Bloomberg Aufsehen. Darin weigerte er sich auf Nachfrage, die territoriale Integrität der Ukraine zu garantieren. Rußland habe nie derartige Verpflichtungen übernommen, so Medwedew, wobei er das »Budapester Memorandum« von 1994 stillschweigend überging. In diesem Dokument hatten Rußland, die USA und Großbritannien die Grenzen und die Unabhängigkeit der Ukraine im Austausch dafür garantiert, daß diese die von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen abgegeben hatte. Moskau wirft dem Westen vor, seinerseits durch die Unterstützung des Putsches in Kiew das Abkommen gebrochen zu haben.

Wie die Nachrichtenagentur dpa meldete, hat die EU-Kommission am Dienstag 100 Millionen Euro an Kiew überwiesen. Das Geld sei der erste Teil einer »Budgethilfe« in Höhe von insgesamt 1,6 Milliarden Euro.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 21. Mai 2014


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