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"Wir lassen uns von niemandem etwas sagen"

Putins Bitte blieb in der Ostukraine ungehört

Von Ulrich Heyden, Moskau *

In Donezk und Lugansk laufen die Computerdrucker heiß. Millionen Wahlzettel werden gedruckt. Volkes Wille wiege schwerer als Putins Bitte, sagen Vertreter des »Volksrates der Donezker Republik«.

Das Referendum, um dessen Verlegung Wladimir Putin gebeten hatte, wird stattfinden. Daran lassen die Organisatoren keinen Zweifel. Auch das Donezker Bürgermeisteramt hat sich darauf eingestellt und die Lehrer angewiesen, Schulbesetzungen »nicht zu behindern«, aber an die Bildungsbehörde zu melden. Höchstes Ziel sei »die Sicherheit der Lehrer und der Schutz des Eigentums«. Die Regierungsgegner in den Gebieten Donezk und Lugansk wollen nämlich in Schulgebäuden abstimmen lassen. Man habe »keine Möglichkeiten«, dies zu verhindern, verlautete aus dem Bürgermeisteramt von Donezk.

Am Donnerstag hatte der Volksrat der »Donezker Volksrepublik« mit den Stimmen aller 78 Anwesenden beschlossen, das Referendum durchzuziehen. Die Wahlzettel zu drucken, sei »kein Problem« gewesen, berichtet der Journalist Alexander Dmitrijewski am Telefon aus Donezk. Mangels ausreichender Druckereikapazitäten waren Computerdrucker im Großeinsatz.

Durchgeführt wird das Referendum trotz Kriegsbedingungen in den Gebieten Lugansk und Donezk, in denen insgesamt 6,5 Millionen Menschen leben. Natürlich müsse viel improvisiert werden, gesteht Alexander. Es herrschten eben Kriegsbedingungen. Die Bewohner hätten sich jedoch schnell daran gewöhnt. »Selbst in Slawjansk (der Hochburg des Aufstands gegen Kiew – d. Red.) haben sich die Menschen die ersten zwei, drei Tage versteckt. Dann sind sie wieder auf die Straße gegangen.«

Das offizielle Wählerverzeichnis wurde auf Anweisung der Regierung in Kiew blockiert, berichtet der Journalist. Doch es gebe Einwohner-Meldelisten, die fast identisch mit dem Wählerverzeichnis seien. Jede Gebietsverwaltung der Polizei habe solche Meldelisten. Mit deren Hilfe werde man die Abstimmung abwickeln.

In Donezk lautet die Frage »Sind Sie für eine selbstständige Volksrepublik Donezk?« Im Gebiet Lugansk entsprechend. »Sind Sie für eine unabhängige Volksrepublik Lugansk?« Wenn die Mehrheit der Bürger mit Ja stimmt, werde es anschließend ein Referendum über eine gemeinsame Volksrepublik geben, erklärt Dmitrijewski. Der nächste Schritt könne ein Referendum über die Vereinigung mit Russland sein.

Man achte Putins Absicht, durch eine Verschiebung des Referendums Menschenleben zu retten. »Doch wir wollen Millionen Menschen nicht daran hindern, eine Heldentat zu vollbringen«, erklärte ein Sprecher des Volksrats der »Donezker Republik« am Donnerstag. Mit seiner Bitte, das Referendum zu verschieben, habe der russische Präsident zeigen wollen, »dass das, was im Donbass vor sich geht, allein die Initiative des Volkes ist«, glaubt Alexander Dmitrijewski. Die Menschen im Donbass seien sehr selbstbewusst. »Wir lassen uns von niemandem etwas sagen«, laute ein bekanntes Motto.

Die Parolen, mit denen für das Referendum geworben wird, sind deftig. Eine lautet »Nazistische Sklaverei oder Freiheit«. Für Ortsfremde klingt alles, was die Organisatoren sagen, reichlich pathetisch. Doch was erwartet man anderes in einer Region, in der seit vier Wochen Krieg herrscht, in der Panzer der Regierung durch die Städte fahren und jeden Tag auf beiden Seiten Menschen sterben. Die Ostukrainer fürchten sich vor den Enkeln der »Banderowzy«, jener Westukrainer, die im Zweiten Weltkrieg an der Seite der deutschen Faschisten kämpften und dieses Andenken bis heute mit neuen Denkmälern und Fackelmärschen in Ehren halten.

Ein Großteil der Ostukrainer hat das Vertrauen in die Kiewer Übergangsregierung verloren. Ein Sprecher des »Volksrats« der Donezk-Republik erklärte, man werde mit dieser Regierung keine Gespräche führen. Und aus Kiew hieß es, eine Beteiligung von Separatisten an Gesprächen etwa an einem Runden Tisch komme nicht in Frage.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 10. Mai 2014


Im Bürgerkrieg sind weder Wahlen noch Referenden möglich

Sergej Kirichuk: Die neuen Machthaber in Kiew müssen die Rechte der Bevölkerung im Südosten der Ukraine respektieren **

Sergej Kirichuk (32) ist Koordinator der Bewegung »Borotba« (Kampf), einer linken Organisation, die im Jahre 2011 von Mitgliedern verschiedener linker Gruppierungen gegründet wurde. »Borotba« zählt rund 1000 Mitglieder. Einer der Aktivisten, Andrej Brashewski, wurde vor einer Woche in Odessa von rechten Schlägern ermordet, nachdem er sich durch einen Sprung aus dem brennenden Gewerkschaftshaus zu retten versucht hatte. Mit Kirichuk sprach für »nd« in Berlin Stephan Lindner.

Ist mit den Geschehnissen der letzten Tage in der Ukraine die Schwelle zum Bürgerkrieg bereits überschritten?

Ja. Es gibt zwei Seiten, die bewaffnet sind und aufeinander schießen. Es ist ein richtiger Krieg.

Hat die Ukraine demnach noch eine gemeinsame Zukunft?

Wenn die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der Menschen im Südosten respektiert würden, dann ja. Aber die selbsternannte Regierung in Kiew denkt nicht im Traum daran. Sollte sie den militärischen Konflikt gewinnen, gäbe es wahrscheinlich eine Situation, in der die Regierung über weite Teile des Landes sehr viele Jahre keine wirkliche Kontrolle hätte, ähnlich wie das lange Zeit in Nordirland der Fall war.

In westlichen Medien ist immer von »Separatisten« die Rede, in russischen von »Föderalisten«. Was wollen die Menschen im Südosten der Ukraine wirklich?

Ich glaube, die meisten wollen nicht Teil Russlands sein, sie wollen vielmehr, dass ihre Rechte respektiert werden. Außerdem wissen die Leute, dass die Wurzel der Probleme die Oligarchie ist.

Was hat sich durch den Sieg des »Euromaidans« in Kiew im Südosten verändert?

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme sind geblieben und der Nationalismus ist als neues Problem dazugekommen. Oligarchen sind zu Gouverneuren gemacht worden und fangen an, Privatarmeen aufzustellen. Ein interessanter Widerspruch, da Kiew Föderalismus eigentlich strikt ablehnt.

Am 25. Mai soll es in der Ukraine Präsidentschaftswahlen geben. Was denken Sie darüber?

Diese Wahlen sollten nicht anerkannt werden, denn es herrscht eine Atmosphäre massiver Gewalt. Sowohl der Hauptsitz von »Borotba« als auch der der Kommunistischen Partei in Kiew waren von Neonazis besetzt. Ein prorussischer Kandidat wurde nach einer Fernsehansprache von Neonazis angegriffen und geschlagen. Mit Messern zerschnitten sie seine Kleidung.

Im Südosten wurden für diesen Sonntag Referenden anberaumt. Was halten Sie davon?

Das ist eine schwierige Frage. Als es den Machtwechsel in Kiew gab, war es eine gute Idee, die Leute zu befragen. Aber jetzt, da Kiew massiv mit der Armee angreift, will niemand einen Deal mit diesen Leuten machen. Einige wünschen sich, dass die russische Armee eingreift, nicht weil sie zu Russland gehören wollen oder Putin gut finden, sondern einfach, damit ihr Leben gerettet und ihre Sicherheit garantiert ist.

Welche Fragen sollten der Bevölkerung denn gestellt werden?

Ursprünglich standen drei Fragen zur Debatte: Ob man eine Föderalisierung der Ukraine unterstützt, ob man die Gleichheit der Sprachen unterstützt und ob man dafür ist, dass die Ukraine keinem Militärbündnis beitritt. Mittlerweile gibt es aber auch radikale Kräfte, die über einen Anschluss an Russland abstimmen lassen wollen. Wir wollen das nicht, sondern treten für die Souveränität der Ukraine ein. Während des offenen Bürgerkriegs ist ein solches Referendum aber völlig unmöglich.

Der Internationale Währungsfonds fordert von der Ukraine einen harten Sparkurs als Voraussetzung für neue Kredite. Hätte das Land unter diesen Bedingungen überhaupt eine wirtschaftliche Perspektive?

Nein. Und bei den Protesten muss man verstehen, dass es für viele Menschen auch um ihre Arbeitsplätze geht. Im Südosten werden immer noch viele Hochtechnologie-Produkte produziert, darunter Flugzeuge oder Weltraumraketen, die ihre Absatzmärkte in Russland oder asiatischen Staaten haben, aber nicht in der EU verkauft werden können.

Wie homogen ist eigentlich die Kiewer Regierung?

Da gibt es auch einen Bruch. Julia Timoschenko will unbedingt Präsidentin werden, ist aber in Umfragen weit abgeschlagen. Für Macht tut diese Frau alles. Außerdem hat die Regierung Rechtsradikale benutzt und bewaffnet. Mich würde es nicht wundern, wenn diese Kräfte irgendwann selbst putschen würden.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 10. Mai 2014


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