Ukraine noch keine Vertrauenszone
Steinmeier sieht Bereitschaft zur Deeskalation bei Treffen der Außenminister in Petersburg
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Gehen auch die Auseinandersetzungen
um die Ukraine weiter, mäßigt
sich doch der Ton. Es wächst
Hoffnung auf Krisenlösungen.
Er habe die »Bereitschaft von allen
Seiten« gesehen, zu einer »Deeskalation
« beizutragen, sagte Deutschlands
Außenminister Frank-Walter
Steinmeier am Dienstag im russischen
St. Petersburg nach einem
Treffen mit seinen Kollegen aus Russland
und Polen, Sergej Lawrow und
Radoslaw Sikorski. An die Stelle der
Zuspitzung sei eine »neue Atmosphäre
« getreten, erklärte Steinmeier
vor Journalisten. Lawrow bestätigte,
es seien ein Weg aus der Krise in der
Ukraine sowie die Beziehungen Russlands
mit EU und NATO besprochen
worden.
Zuvor hatte Steinmeier gemahnt,
der beginnende Dialog zwischen der
ukrainischen und der russischen Führung
dürfe auf keinen Fall »wieder
entgleisen«. Steinmeier, Sikorski und
Frankreichs Außenminister Laurent
Fabius hatten schon Ende Februar in
Kiew mit dem damaligen ukrainischen
Präsidenten Viktor Janukowitsch
von Russland mitgetragene
Abmachungen erzielt. Sie sahen eine
Verfassungsreform und vorgezogene
Neuwahlen von Parlament und Präsident
vor.
Doch die Proteste auf dem Maidan
eskalierten und zwangen Janukowitsch
zur Flucht. Moskau spricht
seither von einem Staatsstreich, bei
dem der eigens dazu nach Kiew geflogene
CIA-Chef John Brennan Regie
geführt habe. Europa habe sich
dem Druck aus Washington gebeugt,
ebenso bei den Genfer Verhandlungen
Mitte April. Hier suchten USA und
EU, Russland und die Ukraine nach
Wegen zur Deeskalation. Doch die
damals getroffenen Vereinbarungen
wurden gebrochen.
Nun soll eine Kontaktgruppe mit
Vertretern der Ukraine, Russlands
und der OSZE unter Leitung der krisenerfahrenen
Schweizer Diplomatin
Heidi Tagliavini versuchen, die Gewalt
zu stoppen und einen nationalen
Dialog an Runden Tischen fortzuführen.
Tagliavini leitete die Untersuchungen
zum Kaukasuskrieg im
August 2008, der Bericht bezeichnet
Georgien als Aggressor.
Dass sich Petro Poroschenko bei
der Ablegung des Amtseides am Wochenende
an die Bewohner der Ostukraine
auf Russisch wandte, sei ein
gutes Zeichen. So jedenfalls sieht es
Michail Surabow, Moskaus Botschafter
in der Ukraine. Er vertrat
Russland bei Poroschenkos Vereidigung
und war erst kurz zuvor nach
Kiew zurückgekehrt. Nach dem
»Staatsstreich« im Februar war er abberufen
worden.
Trotz gedämpfterer Töne hielt
Russland auch bei den gestrigen Verhandlungen
an Grundsätzen fest: Ein
Waffenstillstand in der Ukraine müsse
von Kiew ausgehen. Die Führung
dort müsse mit den »Anhängern der
Föderalisierung«, so Moskaus offizielle
Sprachregelung für die prorussischen
Separatisten, verhandeln.
Russland sei keine Konfliktpartei.
Steinmeier und Sikorski sehen das
nach wie vor anders. Der Durchbruch
an der Newa scheiterte zudem
daran, dass die Gasverhandlungen,
die Russland und die Ukraine in Brüssel
unter EU-Vermittlung führen, offenbar
bislang erneut ohne nennenswerte
Ergebnisse blieben.
»Leider haben wir keinen Schritt
nach vorn gemacht«, überbrachte der
ukrainische Energieminister Juri Prodan
nach fast achtstündigen Gesprächen
seine unfrohe Botschaft. Die Ukraine
fordere für sich weiter einen
Preis von 268,5 US-Dollar je 1000 Kubikmeter
Gas, erläuterte Minister
Prodan. Russland ist bereit, statt der
vertraglich vereinbarten 485 US-Dollar
unter Bedingungen einen Rabatt
von rund 100 US-Dollar zu gewähren.
»385 US-Dollar – das ist natürlich
ein Niveau, das uns nicht passt,
weil es zum heutigen Tag kein gerechter
Marktpreis ist«, sagte Prodan.
Die Verhandlungen sollten fortgesetzt
werden. Ein Moskauer Ultimatum,
das die Begleichung von Schulden
forderte, lief am selben Tage ab.
Für den berühmtem »Ruck nach
vorn« könnte politisch wie wirtschaftlich
eine Initiative sorgen, für
die russische Experten schon sehr früh
in der Krise warben: Eine »Zone des
Vertrauens« zwischen Russland und
Europa, zu der neben Georgien und
der Ukraine auch der ewige EU-Kandidat
Türkei gehören sollte.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch 11. Juni 2014
Kiew: Rußland bestrafen
Der neue Präsident der Ukraine will »starke Armee« und »Verständigung«. Kämpfe in Ostukraine gehen weiter. Korridor für Flüchtlinge angekündigt
Von Arnold Schölzel **
In seinem ersten Interview nach Amtsantritt erklärte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, er wolle Rußland für die »Tragödie« in seinem Land bestraft sehen. Das teilte das US-Nachrichtenmagazin Time, das mit Poroschenko gesprochen hatte, am Dienstag auf seiner Internetseite mit. Der Politiker habe demnach erklärt, eine »starke Armee« und eine »blühende Wirtschaft« seien die beste Methode, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin davon zu überzeugen, daß die Ukraine das Recht habe, innerhalb ihrer gegenwärtigen Grenzen zu existieren. Seine Regierung habe allerdings allein aufgrund der geographischen Situation keine andere Wahl, als »eine Verständigung« mit Moskau zu suchen.
Ebenfalls am Dienstag ordnete Poroschenko an, einen Fluchtkorridor für Bewohner der Ostukraine einzurichten. Dort führen die Kiewer Machthaber seit Mitte April eine militärische Strafaktion durch. Beim Beschuß von Wohngebieten durch schwere Artillerie und Kampfflugzeuge kamen dabei zahlreiche Zivilisten ums Leben, Zehntausende flüchteten aus den Großstädten der Region. Noch am Montag hatte Kiew behauptet, es gebe keine Fluchtbewegung. In westlichen Medien wird die durch den Krieg gegen die Bevölkerung entstandene Situation weitgehend ignoriert. Nun teilte die ukrainische Präsidialverwaltung mit, durch den Korridor sollten friedliche Einwohner das Gebiet der »Antiterroroperation« ungehindert verlassen können. Es handele sich um eine Rettungsaktion – und nicht um eine Initiative für eine möglichst ungehinderte Militäraktion gegen die Aufständischen. Durch den neuen Korridor sollten weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung vermieden werden.
Gleichzeitig setzten Armee, Nationalgarde, bewaffnete faschistische Trupps und von Oligarchen gesponserte Banden den Kampf gegen die Widerstand leistenden Kräfte im Donbass fort. Vertreter der Verwaltungen mehrerer ostukrainischer Städte berichteten am Dienstag von zahlreichen Verletzten und Toten. In Slowjansk seien am Montag abend vier Wohnhäuser beschossen worden, wobei zwei Kinder im Alter von zwölf und sechs Jahren durch Splitter tödlich verwundet worden seien. Es herrsche Mangel an Medikamenten und medizinischem Personal in den Krankenhäusern. Strom- und Wasserversorgung sind seit Tagen ausgefallen. Nach Angaben der Truppen Kiews gab es in der Nacht zum Dienstag um einen Flugplatz nahe der Stadt Kramatorsk nördlich von Donezk bewaffnete Auseinandersetzungen. Dabei seien etwa 40 gegnerische Kämpfer getötet worden.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow forderte am Dienstag zum wiederholten Mal ein Ende des Krieges in der Ostukraine. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), der sich mit ihm und seinem polnischen Amtskollegen in St. Petersburg traf, sah bereits Chancen für eine Entspannung. Er habe die »Bereitschaft von allen Seiten« gesehen, zu einer »Deeskalation« beizutragen. An die Stelle der Zuspitzung sei eine »neue Atmosphäre« getreten. Lawrow trat der Einschätzung entgegen. Zwar sagte er zur Ankündigung der humanitären Korridore: »Wir begrüßen das.« Aber »an einigen Orten werden wir Zeugen einer Eskalation von Militäreinsätzen«. Er sei überzeugt, daß die Aufständischen einer Waffenruhe folgen würden. Alles andere führe in eine »Katastrophe«.
** Aus: junge Welt, Mittwoch 11. Juni 2014
Zurück zur Ukraine-Seite
Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)
Zur Russland-Seite
Zur Russland-Seite (Beiträge vor 2014)
Zurück zur Homepage