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Kiews falscher Frieden

Ukrainischer Präsident Poroschenko verkündet einseitigen Waffenstillstand. Aufständische lehnen ab. Artillerieangriffe auf Wohnviertel im Donbass gehen weiter

Von Reinhard Lauterbach *

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat eine Feuereinstellung seitens der ukrainischen Regierungstruppen im Donbass angekündigt. Auf einer Pressekonferenz in Kiew sagte er, dies solle den bewaffneten Aufständischen erlauben, die Waffen niederzulegen, und den »russischen Söldnern« den Abzug ermöglichen. Das Feuer werde nur für kurze Zeit eingestellt, erklärte Poroschenko. Die sogenannten Söldner müßten ihre Waffen zurücklassen. Er stellte auch eine Amnestie für diejenigen Aufständischen in Aussicht, die »keine schweren Straftaten« begangen hätten. Da allein die Teilnahme an dem Aufstand vermutlich mindestens den Tatbestand des Landfriedensbruchs, wenn nicht den des Hochverrats, erfüllt, dürfte dieses Angebot ein sehr theoretisches sein. Wann die Feuerpause in Kraft treten sollte, sagte Poroschenko nicht.

Vertreter der Aufständischen wiesen den Vorschlag umgehend zurück. Denis Puschilin, Regierungschef der Volksrepublik Donezk, sagte dem Moskauer Fernsehsender Doschd, das Angebot sei ohne einen vorherigen Rückzug der Kiewer Truppen aus dem Donbass unannehmbar. Es laufe darauf hinaus, daß die Aufständischen ihre Waffen abgeben und sich dann wehrlos gefangennehmen lassen sollten. Ein Militärsprecher der benachbarten Volksrepublik Lugansk forderte die Entsendung internationaler Friedenstruppen, um die Waffenruhe zu kontrollieren. Er warf Kiew eine Vertreibungspolitik gegen die Arbeiterbevölkerung des Industriegebiets vor. Ziel sei, das Donbass mit Bewohnern der Westukraine neu zu besiedeln und es so politisch auf Linie mit Kiew zu bringen. Die Kiewer Truppen setzten nach Angaben der Aufständischen derweil ihre Artillerieangriffe gegen Wohnviertel im Donbass fort. In Kramatorsk im Bezirk Donezk seien zehn Zivilisten getötet worden. »Die Antiterroroperation (ATO) wird zur Terroroperation (TO)«, twitterte ein Aktivist aus Slawjansk zum Foto eines zerstörten Wohnhauses.

In Kiew forderte der von dem Faschisten Andrij Parubij geleitete Sicherheitsrat erneut das Verbot der Kommunistischen Partei (KPU) wegen »separatistischer Aktivitäten«. Er berief sich darauf, daß territoriale Gliederungen der Partei im Gebiet Lugansk Freiwillige für die Streitkräfte der Aufständischen rekrutiert und daß ihre Fraktion im Regionalparlament in das der Volksrepublik umgezogen sei.

Rußland verlangte unterdessen eine Untersuchung des Todes zweier russischer Fernsehjournalisten an einer Barrikade der Aufständischen bei Lugansk am Dienstag. Aus Augenzeugenberichten ergibt sich die Vermutung, daß der Reporter des ersten staatlichen Fernsehprogramms und sein Tontechniker durch direkten Beschuß aus einem Granatwerfer getötet wurden. Die ukrainische Militärführung erklärte, die beiden hätten weder Helme noch kugelsichere Westen getragen und sich inmitten der Kämpfer aufgehalten. Auch seien sie nicht bei der ukrainischen Seite akkreditiert gewesen. Präsident Petro Poroschenko bedauerte in einem Telefongespräch mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin den Tod der beiden Journalisten. Er beantragte im übrigen im Parlament die Entlassung von Außenminister Andrij Deschtschizja, der Putin vor Demonstranten sinngemäß als »Arschgesicht« bezeichnet hatte. Der undiplomatische Chefdiplomat soll durch den bisherigen Botschafter Kiews in Berlin, Pawlo Klimkin, ersetzt werden.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. Juni 2014

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UNESCO chief denounces killing of journalists in eastern Ukraine

19 June 2014 – The head of the United Nations agency tasked with defending press freedom today denounced the killing earlier this week of two journalists covering the fighting in eastern Ukraine.

Television journalist Igor Kornelyuk and sound engineer Anton Voloshin, working for the Russian public broadcaster VGTRK, were reporting on fighting near the city of Lugansk when they were hit by mortar fire.

The Director-General of the UN Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), Irina Bokova, urged all parties to respect the civilian status of journalists.

“The work of journalists, especially in situations of tension, is essential to nourish the informed public debate necessary for promoting renewed dialogue and mutual understanding,” she stated in a news release.

“I call on all parties to respect the civilian status of journalists and let them carry out their important professional activities in safe conditions in keeping with the Geneva Convention and its Protocols.”

The two deaths bring to five the number journalists who have been killed in Ukraine since January this year, according to the Paris-based UNESCO.

>UN News Centre, 19 June 2014; http://www.un.org




Cholera in den Zeiten des Krieges

Im Donbass droht eine Katastrophe – der Zusammenbruch der Wasserversorgung

Von Tina Schiwatschewa **


Im ostukrainischen Donezk wird das Wasser knapp. Ärzte warnen vor einer Katastrophe für Millionen Einwohner, denn es droht ein Ausbruch der Cholera.

Seit nach Angaben örtlicher Journalisten die ukrainische Armee mit schwerer Artillerie einen Mörserangriff prorussischer Milizen beantwortete, muss Donezk den Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung fürchten. Auf lebenswichtige Anlagen des Kanals Sewerski Donez-Donbass wurde bei dem Waffeneinsatz keine Rücksicht genommen. Am 10. Juni wurden Teile des Kanals und zwei der vier Pumpstationen zerstört, die der Reinigungsanlage frisches Wasser zuführen.

Zur Zeit wird der Wasserbedarf – unter anderem für die Millionenstadt Donezk – noch aus Notfallreserven gedeckt. Sie werden in wenigen Tagen aufgebraucht sein. Dann dürfte nur noch Wasser zur Verfügung stehen, dessen Verbrauch höchst riskant ist. Es kann stark verschmutzt und sogar mit Cholerakeimen verseucht sein.

Schon jetzt müssen sich Teile der über 100 000 Menschen zählenden Bevölkerung von Slawjansk mit Wasser aus Springbrunnen und anderen öffentlichen Gewässern versorgen. »Die Bürger sind durch Schäden am Wasserrohrsystem und wegen des Fehlens von Trinkwasser von einer Epidemie bedroht«, warnte der Direktor des Staatlichen Ukrainischen Gesundheitsdienstes vor Wochenfrist. Eine Leserin fragte in der Zeitung »Dialog«: »Warum schweigen alle? Es ist Sommer mit Hitze und Ungeziefer, und wenn die Situation so bleibt, wie sie seit einer Woche ist, werden wir hier die Ruhr oder eine andere Seuche bekommen.«

Die Direktorin des Gesundheitsamtes der Donezker Region, Dr. Elena Petrjajewa, bezeichnete auch die allgemeine humanitäre Lage in Slawjansk als »tragisch«. In der belagerten Stadt sei die medizinische Versorgungslage außerordentlich ernst. Fast alle Krankenhäuser seien geschlossen. »Viele Ambulanzen können nicht ausfahren – es gibt keinen Treibstoff.«

In Slawjansk und dem 165 000 Einwohner zählenden Kramatorsk, wo über 1000 Menschen eine akute Behandlung benötigten, herrsche drastischer Mangel an Medikamenten, Antibiotika und Desinfektionsmitteln. Ärzte und medizinisches Personal verließen wegen der Zustände das Gebiet. Sie würden nicht selten ihr Leben riskieren, um Patienten zu retten: »Oft müssen sie unter ihren Ambulanzwagen Deckung suchen.«

Die Ärztin informierte, dass die Kiewer Regierung den Behörden in Slawjansk, Kramatorsk und Snejnoe sämtliche staatliche Finanzierung blockiere. Den medizinischen Angestellten werde das Gehalt verweigert. Trotzdem machten einige Mediziner weiter Dienst, vier von neun Ambulanzen wären noch einsatzbereit. Dr. Petrjajewa bestätigte, dass wegen des Zusammenbruchs der Wasserversorgung das Gebiet von Epidemien bedroht sei. Unterbrochen sei auch die Anti-Malaria-Behandlung des Trinkwassers. Damit drohe auch diese Erkrankung.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


Waffenruhe als Angebot zur Kapitulation

Bergleute demonstrierten gegen den Krieg im Donbass ***

Als »ersten Schritt eines Friedensplans« bezeichnete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Mittwoch eine einseitige Waffenruhe in der Ostukraine. Schon in wenigen Tagen könnten in einer kurzen Feuerpause die Aufständischen ihre Waffen niederlegen, bot er an. Im Donbass wurde das als Angebot zur Kapitulation zurückgewiesen: »Sie stellen das Feuer ein, wir geben die Waffen ab und sie schnappen sich uns. Das ist sinnlos«, sagte der Wortführer der Separatisten Denis Puschilin.

Am Vorabend hatten Poroschenko und Russlands Präsident Wladimir Putin telefonisch über einen »möglichen Waffenstillstand« gesprochen, wie der Kreml mitteilte. Putin habe sich besorgt über den Tod zweier russischer Journalisten in der Ostukraine geäußert. Poroschenko schlug am Mittwoch dem Parlament vor, den bisherigen ukrainischen Botschafter in Deutschland, Pawlo Klimkin, zum neuen Außenminister zu ernennen. Der 46-jährige Diplomat soll Andrej Deschtschiza ablösen, der Russlands Präsidenten kürzlich unflätig beschimpft hatte.

Aus Donezk berichtete die russische Agentur RIA/Nowosti von einer Demonstration der Bergleute gegen die andauernden Kampfhandlungen. Mehrere Hundert Kumpel hätten verschiedene Zechen der Region vertreten und gefordert: »Anti-Terror-Operation stoppen«.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


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