Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Donbass wieder unter Feuer

Enttäuschung über Aufkündigung der Waffenruhe durch Präsident Poroschenko

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Waffenruhe in der Ukraine ist beendet. Verheißungsvolle Gespräche zwischen Kiew, Berlin, Moskau und Paris hatten eine andere Entscheidung des Präsidenten erwarten lassen.

Die Bürger mögen bitte keine Informationen, Fotos und Videos über die Bewegung von Truppen oder Kampftechnik im Rahmen der »Anti-Terror-Operation« in sozialen Netzwerken verbreiten, bat am Dienstag der ukrainische Sicherheitsrat. Das würde nur den Separatisten in die Hände spielen, warnte ein Sprecher. Andererseits sei die Truppe »äußerst dankbar« für Informationen über Stellungen des Gegners.

Verständlich, denn nach dem offiziellen Ende des Waffenstillstands in der Nacht zu Dienstag flammten die Kämpfe im Donbass insbesondere um die Städte Slawjansk und Kramatorsk wieder heftig auf. In Richtung Ostukraine wurden von Kiew Verstärkungen in Marsch gesetzt. So auch zwei Bataillone der »territorialen Selbstverteidigung« des Gebietes Lwiw im Westen des Landes. Die wurden mit Mitteln aus dem örtlichen Budget mit Schutzwesten ausgestattet.

In der Nacht war eine internationale Vereinbarung zur Entschärfung der Ukraine-Krise nach den Worten eines enttäuschten Bundesaußenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) nur knapp gescheitert. Den ganzen Montag über habe es Verhandlungen mit Russland, der Ukraine und Frankreich gegeben, sagte er. »Wir waren gegen zehn Uhr gestern Abend ganz nahe dran an einer Vereinbarung, die dann doch nicht gehalten hat.«

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte gegen Mitternacht aber mitgeteilt, er werde die ausgelaufene Feuerpause nicht verlängern und stattdessen Stellungen der Aufständischen angreifen lassen. Er warf den prorussischen Aufständischen vor, sie hätten die Waffenruhe nicht eingehalten und Dutzende Soldaten getötet.

»Die Operation im Osten läuft seit dem frühen Morgen wieder«, informierte der ukrainische Parlamentsvorsitzende Alexander Turtschinow. Er habe die Lage mit dem Verteidigungsminister besprochen. »Unsere Streitkräfte nehmen die Stützpunkte der Terroristen unter Feuer.«

Der ukrainische Staatschef habe mit seiner Entscheidung erstmals direkt die volle politische Verantwortung für das Blutvergießen auf sich genommen, betonte der russische Präsident. Wladimir Putin kritisierte in Moskau vor Diplomaten mit »tiefem Bedauern« den Rückschlag für die Friedensbemühungen. An die Adresse des Westens sagte Putin, er hoffe, dass bald eine Zusammenarbeit auf der Grundlage »gleicher Rechte und gegenseitigen Respekts« möglich sei. Die Angliederung der Krim begründete er laut ITAR/TASS mit dem Schutz der Bürger vor kampfbereiten Nationalisten und Radikalen. Russland habe nicht zulassen können, dass die NATO in den Stützpunkt Sewastopol einzieht.

Mit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen habe die ukrainische Führung die wichtige Initiative Deutschlands, Russlands und Frankreichs im letzten Moment »gesprengt«, beklagte das Außenministerium in Moskau. Es entstehe der Eindruck, dass die Entscheidung gegen die europäische Lösung »nicht ohne Einfluss von außen« erfolgt sei. Russland warnte mit Blick auf die Interessen der USA in der Ukraine vor geopolitischen Machtspielen. Als Grund für das Scheitern diplomatischer Bemühungen wurde auch ein »fordernder und ultimativer Ton« der ukrainischen Seite angeführt.

Frankreich und Deutschland bemühten sich weiterhin um eine Deeskalation der Lage, verlautete aus den Hauptstädten. Die Außenminister hätten mit ihren Kollegen aus der Ukraine und Russland beraten, wie der französische Außenminister Laurent Fabius mitteilte. Bislang sei das Resultat der Vermittlungsversuche »noch nicht zufriedenstellend«.

Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland bleiben allerdings im Gespräch. Doch ist sich die Gemeinschaft offenbar selbst nicht mehr ganz so sicher, ob sie wirklich empfehlenswert seien. Unter Hinweis auf eine unübersichtliche Lage wurde ein Beschluss auf kommenden Montag vertagt. Die EU-Botschafter hätten erst einmal Experten damit beauftragt, »weitere Sanktionen vorzubereiten«, sagten Diplomaten in Brüssel.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 2. Juli 2014


Kiew wählt den Krieg

Ukraine: Waffenruhe aufgekündigt. USA geben Staatschef Poroschenko freie Hand. Rußlands Präsident Putin für Verhandlungslösung

Von Reinhard Lauterbach **


Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat in der Nacht zum Dienstag die seit zehn Tagen andauernde Waffenruhe für den Donbass beendet und den Befehl gegeben, die »Antiterroroperation« wieder aufzunehmen. Als Folge verschärften sich im gesamten Industriegebiet wieder die Kämpfe. Die Kiewer Agenturen meldeten Vorstöße der Regierungstruppen an allen Frontabschnitten unter Einsatz von Kampfflugzeugen, Artillerie und Panzern. Die Aufständischen berichteten vom Abschuß eines Jets und mehrerer Panzer. Schon am Morgen wurden auch wieder Zivilisten Opfer der Kämpfe: In Artjomowsk wurde im Berufsverkehr ein Kleinbus beschossen; vier Insassen starben sofort, fünf kamen mit Verletzungen ins Krankenhaus.

In Donezk war die Lage unübersichtlich. Ein Trupp von Aufständischen versuchte, die Gebietsverwaltung zu stürmen; das Gebäude wurde aber von Kiew-treuen Polizisten verteidigt. Die Führung der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk meldete, eine Gruppe von Soldaten habe einen Putschversuch unternommen, der aber niedergeschlagen worden sei. Im Gebiet Lugansk wurden mehrere Grenzübergänge nach Rußland wegen der Kämpfe gesperrt. Aus anderen Teilen der Region wurde berichtet, daß aus Rußland schweres Militärgerät bis hin zu Panzern auf Tiefladern über die Grenze geschafft und den Aufständischen zur Verfügung gestellt werde. Dies hatte schon vor einigen Tagen ein Text auf der von den Aufständischen betriebenen Webseite rusvesna.su indirekt bestätigt.

Poroschenkos Kurs ist offenbar mit den USA abgesprochen. Die Sprecherin des Washingtoner Außenministeriums, Jen Psaki, sagte am Montag kurz vor dem offiziellen Ende der Waffenruhe, es sei Sache der Ukraine, ob sie diese verlängere. Die USA würden jede Entscheidung Kiews unterstützen, egal wie sie ausfalle. Poroschenko erklärte am Dienstag, er sei bereit, wieder zu einer Waffenruhe zurückzukehren, wenn die Gegenseite zusage, die wichtigsten Punkte seines Friedensplanes zu erfüllen. Auch das Angebot einer Amnestie für Kämpfer, die aufgeben, gelte weiter.

Der russische Präsident Wladimir Putin rief erneut zu einer Verhandlungslösung und zur Einstellung der Kämpfe auf. Bei einer Jahrestagung russischer Botschafter sagte er in Moskau, in der Ukraine kulminierten »sämtliche negativen Erscheinungen«. Das internationale Recht sei unwirksam geworden. Putin nannte Rußlands Politik gegenüber der Ukraine »überaus zurückhaltend«, verteidigte aber die Entscheidung zur Übernahme der Krim. Rußland habe nicht zulassen können, daß Landsleute den Angriffen ukrainischer Nationalisten ausgesetzt worden seien und daß sich möglicherweise NATO-Truppen auf der Halbinsel festgesetzt hätten. Der russische Staatschef differenzierte in seiner Kritik am Westen zwischen den USA und der EU. Mit den »europäischen Kollegen« habe er versucht, Poroschenko zu überzeugen, daß ein dauerhafter Frieden nicht auf dem Wege des Krieges zu erreichen sei. Dies sei leider nicht gelungen.

In Brüssel verschoben die Staats- und Regierungschefs der EU die Entscheidung über neue Sanktionen gegen Rußland ein weiteres Mal. Die Außenminister sollen sich am 7. Juli erneut treffen und über die Situation beraten. Die polnische Presse warf Frankreich »Verrat« vor, weil es die vereinbarte Ausbildung russischer Marinesoldaten auf dem ersten der beiden Hubschrauberträger der »Mistral«-Klasse begonnen hat, die bis zum Herbst an Rußland geliefert werden sollen.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 2. Juli 2014


Kein Friede im Osten

Klaus Joachim Herrmann über das Ende des Waffenstillstands in der Ukraine ***

Der ukrainische Präsident hat den Kriegsruf erhört – kein Friede im Osten! Ausgestoßen wurde er zuvor öffentlich auf dem Maidan vor allem von denen, die mit Besetzungen, Blockaden, bewaffnetem Kampf und allemal brutal kompromisslos erfolgreich waren. Ersetzt wurden immerhin demokratisch legitimierte durch Übergangsfiguren. Die nahmen strammen Kurs auf Westen und versuchen alle mitzunehmen – ob die nun wollen oder nicht.

Die als Wegbereiter der Veränderungen vom Rechten Sektor dominierten »Selbstverteidigungskräfte« wären als illegale Formationen laut Genfer Vereinbarung zu entwaffnen gewesen. Doch nun ziehen sie legal als ukrainisch-nationalistische »Freiwillige« weiter gen Osten. Dort haben die prorussischen »Volkswehren« viele üble Beispiele des Kampfes ihrer Gegner längst übernommen, wenn auch unter der Losung »Zurück nach Russland!«.

Der Waffenstillstand war immer ein knallhartes Ultimatum. Doch offenbarte er Eigendynamik. Europäischer Wille, den Konflikt auf dem Kontinent durchaus im eigenen Interesse zu entschärfen, traf auf die Bereitschaft des beschimpften Russland zu Kompromissen. Der Druck, eine kriegerische Lösung zu wählen, war aber stärker. Auf den ersten Blick innenpolitisch. Die Ukraine bleibt aber begehrtes geostrategisches Filetstück für USA und NATO. Deren stets kämpferischer »Rat« wurde in Kiew auch gehört.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 2. Juli 2014 (Kommentar)


Zwei Herren dienen

Ende der Waffenruhe in der Ukraine

Von Reinhard Lauterbach ****


Man könne nicht zwei Herren dienen, heißt es an einer Stelle in der Bibel. Petro Poroschenko, auf ein Exemplar dieses Buches vereidigter Präsident der Ukraine von des Westens Gnaden, hat es zehn Tage lang versucht. Er verkündete eine Waffenruhe, die alle Anzeichen einer Mogelpackung trug, weil sie dem Gegner die Vorabkapitulation abverlangte. Es hat sich dann auch konsequent keine der Parteien des Bürgerkriegs an sie gehalten. Er hat, »ermutigt« durch etliche Oligarchen seines Landes, Verhandlungen mit den Aufständischen zugestimmt, die nicht so heißen durften. Das hat ihn von der anderen Seite unter Feuer gebracht, durch die militanten Rechten, die aus den Maidan-Selbstverteidigungstruppen in die Nationalgarde und diverse Freiwilligenbataillone übergegangen sind. Bei diesen Formationen liegt heute die reale Macht in der Ukraine; sie kommt halt doch aus den sprichwörtlichen Gewehrläufen. Die vermummten Gestalten von den Bataillonen »Asow« und »Donbass« haben es Poroschenko am Sonntag in Kiew nachdrücklich klargemacht – das »letzte Mal im Guten«, wie ihr Kommandeur erklärte.

Dagegen kamen selbst die Appelle mehrerer Oligarchen – darunter Igor Kolomoiski, der für die Kiewer Machthaber die wichtige Region Dnipropetrowsk unter Kontrolle hält, und Sergej Taruta, Poroschenkos eigener Statthalter in Donezk – zu einer Verhandlungslösung nicht an. Ihnen ist als Unternehmern klar, daß eine Fortsetzung des Krieges die Volkswirtschaft und die Staatsfinanzen endgültig zerrüttet und – nicht zuletzt – ihr eigenes im Kampfgebiet investiertes Vermögen bedroht. Was sich am Wochenende gerüchteweise herauskristallisierte, wäre ein Kompromiß nach echt ukrainischer Art gewesen: der Donbass bleibt als autonome Region formal im ukrainischen Staatsverband, wird de jure von örtlichen Unternehmern gesteuert, und dient praktisch als eine gigantische Duty-Free-Zone mit Möglichkeiten zu jeder Art von Schattenwirtschaft und Schmuggel nach Osten und Westen. Aber immerhin ohne daß weiter geschossen und gebombt würde.

Doch diese Lösung war an wirklich maßgeblicher Stelle nicht gewollt. Es ist charakteristisch, wie Jen Psaki, die Sprecherin des US-Außenministeriums, am Montag antwortete, als sie nach dem Schicksal der Waffenruhe gefragt wurde: Es sei die Sache der Ukraine, »wir akzeptieren jede ihrer Entscheidungen«. Und das von einer Institution, die ansonsten alltäglich den Rest der Welt schurigelt und belehrt. Das kann nur einen Grund haben: die Gewißheit, daß der Klient das in Washington geschriebene Drehbuch abspielt, weil er keine andere Wahl hat. Die rechten Schlägergarden auf dem Maidan am Sonntag waren in diesem Film die Komparsen. Daß mit der Rückkehr zum Krieg auch die Versuche von EU-Größen wie Angela Merkel und François Hollande brüskiert wurden, sich über eine mit Rußland ausgehandelte Lösung auch selbst wieder ins politische Spiel zu bringen, war mit Sicherheit mehr als nur billigend in Kauf genommen.

**** Aus: junge Welt, Mittwoch 2. Juli 2014 (Kommentar)


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