Gazprom vertagt Vorkasse
Kiew zahlte Schulden an, will Preisnachlässe und in Stockholm klagen
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Im Gasstreit Russland-Ukraine gibt
es einen Aufschub der Vorkasse um
eine Woche. Kiew zahlte Schulden
an, will aber klagen.
Knapp 800 Millionen US-Dollar seien
auf dem Konto von Gazprom eingegangen,
bestätigte am Montag der
russische Gaskonzern. Von einer ersten
Tranche für nicht bezahlte Gaslieferungen
hatte Moskau die Fortsetzung
von Verhandlungen mit der
Ukraine unter Vermittlung der EU abhängig
gemacht, die am Montag in
Brüssel in eine weitere Runde gingen.
Gazprom setzte die angedrohte
Vorkasse um eine Woche aus.
Russland, so erklärte Präsident
Wladimir Putin schon im April, habe
der Ukraine für lau bisher mehr Gas
geliefert als dem zahlenden Polen im
gesamten letzten Jahr. Das könne
nicht endlos so weitergehen. Beim
politischen Wochenrückblick Sonntagabend
im Staatsfernsehen rechnete
Moderator Dmitri Kisseljow vor,
die Führung in Kiew würde – im
Wortsinn – täglich rund drei Millionen
Dollar bei der Strafexpedition gegen
die pro-russischen Separatisten in
der Ostukraine verballern. Das sei in
etwa der Betrag, der täglich für russische
Gasexporte fällig werde.
Konzernchef Alexei Miller sprach
von einem »fantastischen Entgegenkommen
« Gazproms. Aus russischer
Sicht steht Kiew mit über 3,5 Milliarden
Dollar für Lieferungen in der
Kreide. Dazu kommen Vertragsstrafen
von über 10 Milliarden Dollar für
verbindlich vereinbarte, aber vom
ukrainischen Versorger Naftagaz
nicht abgerufene Mengen. Dieses Eisen
ist so heiß, dass es bei den Dreier-
Verhandlungen in Brüssel bisher
weitgehend ausgeklammert wurde.
Moskau legt bei der Preisbildung
ein Abkommen zugrunde, das die damaligen
Ministerpräsidenten Putin
und Julia Timoschenko 2009 aushandelten.
Demzufolge werden für
1000 Kubikmeter 485 Dollar fällig.
Beide vereinbarten jedoch Rabatte,
die den Preis zunächst auf 385 Dollar
senkten. Für die Verlängerung das
Abkommens über die Stationierung
der russischen Schwarzmeerflotte auf
der Krim drückte der frisch gewählte
Präsident Viktor Janukowitsch 2010
die Kosten sogar auf 268 Dollar pro
1000 Kubikmeter.
Nach dem Russland-Beitritt der
Krim kündigte die Duma das Abkommen
als gegenstandslos und
Gazprom den Flotten-Rabatt. Die Ukraine
will dennoch nur zum ermäßigten
Preis zahlen, wobei Kiew sogar
diese Verpflichtungen selten
pünktlich bediente. Das geschah nur
dann, wenn Gazprom zuvor Verhandlungen
über neue Rabatte zustimmte.
Der ukrainische Energieminister
Juri Prodan kündigte aber
an, Kiew werde das Internationale
Schiedsgericht in Stockholm anrufen.
Pikant, dass er selbst den Vertrag
von 2009 einst mitverhandelte.
Gazpromchef Miller blieb ruhig.
Vertrag sei Vertrag. Russland wolle
seinerseits zunächst auf Klage verzichten
und sei zu Verhandlungen
über Preise bereit. Aber erst dann,
wenn die Ukraine ihre Schulden bezahlt
habe. Ein Kompromiss sei ohnehin
nur bei Exportzöllen möglich.
Diese betragen 30 Prozent vom Gesamtpreis.
Mit Beitritt der Ukraine zur
pro-russischen Zollunion oder bei
Abschluss eines Assoziierungsabkommens
mit ihr würden sie entfallen.
Für Moskau wäre das Assoziierungsabkommen,
das die Ukraine nun
mit der EU unterzeichnen will, kein
Hindernis. Für Brüssel schon.
* Aus: neues deutschland, Dienstag, 3. Juni 2014
Moskau fordert Hilfskorridor für Zivilisten. Gefechte in der Ostukraine
Russland will einen Resolutionsentwurf zur Ukraine-Krise in den UN-Sicherheitsrat einbringen **
Wie Außenminister Sergej
Lawrow am Montag in Moskau
mitteilte, verlangt Russland
die Einrichtung eines »Hilfskorridors
«, damit »friedliche Bürger«
die umkämpften Gebiete in der
Ostukraine verlassen können. Es
müsse die Lieferung von Hilfsgütern
ermöglicht werden. Er hoffe,
dass die Resolution »aufgegriffen
und sofort befolgt« werde, sagte
der Minister. Russland beschuldigt
die Führung in Kiew, bei ihrer
Militäroffensive gegen die
Genfer Konvention zum Schutz
von Zivilisten in Kriegsgebieten zu
verstoßen.
Die NATO und Russland sind
über die Ukraine-Krise völlig uneins.
Es gebe »grundlegend unterschiedliche
Ansichten«, ließ
NATO-Generalsekretär Anders
Fogh Rasmussen nach einem
Treffen des NATO-Russland-Rates
erklären.
Bei Gefechten von prorussischen
Separatisten und Regierungseinheiten
in der Ostukraine
kam es in Lugansk zu neuem Blutvergießen.
Bei einem Angriff auf
die Zentrale der Grenztruppen
seien mindestens sieben Soldaten
verletzt worden, teilten die örtlichen
Behörden mit. Auf der Gegenseite
seien fünf Aufständische
getötet und acht verletzt worden.
Aus Slawjansk gab es Berichte
über fünf verletzte Aufständische
bei Schusswechseln.
Von den beiden verschleppten
OSZE-Teams gab es keine Nachricht.
** Aus: neues deutschland, Dienstag, 3. Juni 2014
Besser anonym im »sicheren« Dnepropetrowsk
Vertreterin der KP der Ukraine sieht einen Ausweg aus der Krise in der Föderalisierung des Landes und Russisch als zweiter Staatssprache
Von Tina Schiwatschewa ***
Von einer »Atmosphäre der Angst«
in vorgeblicher Demokratie und Sicherheit
berichtet eine Kommunistin
aus dem ostukrainischen
Dnepropetrowsk.
Auch in Dnepropetrowsk, der Millionenstadt
westlich des unruhigen Donezker
Gebiets, sprechen 90 Prozent
der Bewohner im Alltag russisch.
Doch Dnepropetrowsk gilt als sicher.
Nicht zuletzt »dank« Gouverneur Igor
Kolomoiski, der nicht nur einer der
reichsten Ukrainer ist, sondern mit
seinem Geld auch eigene Milizen bezahlt,
die für Sicherheit sorgen sollen.
So sicher ist Dnepropetrowsk,
dass unsere Gesprächspartnerin ihren
Namen nicht in der Zeitung veröffentlicht
haben will. Denn sie vertritt
die Kommunistische Partei der
Ukraine (KPU).
Nach ihrer Sicht auf die gegenwärtige
Lage befragt, beklagt sie zunächst
die wirtschaftliche Lage: »Die
ukrainische Industrie liegt am Boden,
wir haben unsere wirtschaftliche
Souveränität verloren und schulden
dem Internationalen Währungsfonds
Milliarden.« Historisch sei die
Ukraine ethnisch nie homogen gewesen.
Doch in der unabhängigen
Ukraine sei jeder akzeptiert worden,
niemand sei danach beurteilt worden,
wer seine Vorfahren waren und
was sie getan hatten.
Erst ab 2004 hätten die Kiewer Politiker
aktiv eine Spaltung betrieben.
Die Regionen im Osten seien als »Roter
Gürtel« bezeichnet worden, wegen
der vielen Anhänger der KPU.
Man habe versucht, den »Roten Gürtel
« zu schwächen und zu zerstören.
Umso mehr gelte das jetzt, da die
KPU die Übergangsregierung in Kiew
entschieden kritisiere. Die habe versprochen,
die Verfassung noch vor der
Präsidentenwahl zu verändern und
die Macht des Präsidenten zugunsten
der des Parlaments zu beschneiden.
»Aber das ist nicht geschehen. Und die
Korruption ist eher noch schlimmer
geworden als vorher«, sagt die Kommunistin.
Übergangspräsident Alexander
Turtschinow hatte die KPU als »potenzielle
Gefahr für die nationale Sicherheit
« bezeichnet, er lässt die
Möglichkeit eines Verbots prüfen. Die
Dnepropetrowsker Kommunistin bestreitet
die »Gefahr« energisch. Die
KPU sei keine Partei von »Separatisten
«, als die man sie darzustellen versuche.
Die Regierung brauche aber
offenbar einen Sündenbock, dem sie
ihre Fehler zuschreiben könne. Kiew
führe einen politischen Kampf gegen
jene, die einen anderen Blickwinkel
auf das Ziel des Regierens haben. Im
Übrigen sei die KPU schon einmal
verboten gewesen, aber sie habe
überlebt und arbeite weiter, denn sie
vertrete die Interessen der arbeitenden
Mehrheit.
Sie selbst repräsentiere Tausende
Menschen im Gebiet Dnepropetrowsk,
sagt meine Gesprächspartnerin.
»Wenn sie die KPU verbieten,
nehmen sie allen diesen Menschen
das Recht auf Meinungsäußerung.«
Als sie selbst gewählt worden sei, habe
die Partei kein Geld gehabt, Fernseh-
oder Rundfunkwerbung zu betreiben
oder große Werbeposter an
jeder Ecke aufzustellen. Dennoch
hätten die Leute die KPU gewählt. Die
Anschauungen, Ideale und Bestrebungen
Tausender Menschen könne
man nicht per Gesetz verbieten, auch
wenn man sie aus dem öffentlichen
Leben verbanne. »Gegenwärtig
herrscht in der Ukraine absolut keine
Demokratie. Welche demokratische
Regierung würde die per Verfassung
garantierte Freiheit der Rede und der
friedlichen Versammlung verbieten?
Tatsächlich finden wir uns unter dem
Banner der Demokratie in einer Diktatur.«
Derzeit habe es die Partei zweifellos
schwer, eben wegen ihrer harten
Kritik an der Kiewer Regierung.
KPU-Mitglieder wurden verprügelt,
einige ermordet, Parteibüros wurden
in Brand gesetzt. Es herrsche eine Atmosphäre
der Angst. Der KPU-Vorsitzende
Petro Simonenko, der auch
als Präsidentschaftsbewerber angetreten
war, wurde nach einer Fernsehdebatte
körperlich attackiert. Er
habe schließlich kurz vor der Wahl
seine Kandidatur zurückgezogen.
»Das war keine Wahlkampagne, sondern
ein Krieg um den Thron des Präsidenten
«, sagte er. Allerdings blieb
Simonenko auf den Wahlzetteln.
Mitglieder der Kommunistischen
Jugend, die im Zentrum von Dnepropetrowsk
Flugblätter verteilen
wollten, wurden von einer anderen
Jugendgruppe angegriffen und geschlagen.
Die Polizei nahm jedoch
nicht die Schläger fest, sondern die
jungen Kommunisten.
Am 26. Mai, berichtete unsere Gesprächspartnerin,
besetzten Männer
mit schwarzen Masken und schwarzer
Kleidung das KPU-Büro in Dnepropetrowsk.
Erst nach zwei Tagen
verließen sie das Gebäude, das völlig
verwüstet worden war. Die Computer
nahmen sie mit.
Die unmittelbare Zukunft der Ukraine
sei unvorhersehbar, gesteht die
Kommunistin. Ihre Partei schlage vor,
alle Machtambitionen beiseite zu lassen
und über die Föderalisierung, vor
allem die wirtschaftliche Dezentralisierung
des Landes zu sprechen. Das
Amt des Präsidenten sollte am besten
abgeschafft werden, und dem Russischen
müsse der Status einer zweiten
Staatssprache zugebilligt werden.
*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 3. Juni 2014
Bomben auf Lugansk
Ukrainische Luftwaffe greift Zentrum der ostukrainischen Stadt an. Heftige Kämpfe am Boden. Moskau fordert Sitzung des UN-Sicherheitsrats
Von Arnold Schölzel ****
Bei einem Angriff der ukrainischen Luftwaffe auf das Gebäude der Regionalverwaltung von Lugansk in der Ostukraine am Montag gegen 16 Uhr Ortszeit wurden mindestens zwei Personen getötet. Augenzeugen berichteten von vielen Verletzten und Toten im Innern des Gebäudes. In dem Bürokomplex, in dem ein Brand ausbrach, befindet sich die Führung der »Volksrepublik Lugansk«. Nach Angaben von deren Sprecher griffen Kampfflugzeuge auch einen Straßencheckpoint in der Region an. Örtlichen Medien zufolge wurden außerdem mehrere Häuser am Rand von Lugansk beschädigt. Zahlreiche Bewohner hätten die Stadt fluchtartig verlassen, hieß es. Lugansk hat etwa 430000 Einwohner. Der Presseoffizier der sogenannten Antiterroristischen Operation Kiews gegen die Ostukraine, Wladislaw Selesnjow, hatte kurz zuvor erklärt, die Regierungstruppen griffen bewohnte Gebiete nicht an. Am späten Nachmittag verlautete allerdings aus Kiew, die ukrainische Armee habe eine »umfassende Militäroperation« zur »Neutralisierung der terroristischen Gruppen« in Lugansk begonnen.
Am frühen Montag morgen hatten insgesamt etwa 400 aufständische Milizionäre versucht, das Hauptquartier des Grenzschutzes der Ukraine in Lugansk zu stürmen. Dort hielten sich Kämpfer des faschistischen »Rechten Sektors« und der Nationalgarde auf. Die heftigen Kämpfe dauerten den ganzen Tag an. Nach Angaben der Kiewer Regierung wurden sieben Grenzsoldaten verletzt und fünf Milizionäre getötet, acht von ihnen verletzt. Der Angriff sei mit Hilfe eines Suchoi-Kampfjets zurückgeschlagen worden.
Aus Slowjansk meldeten Agenturen, bei Schußwechseln habe es fünf Verletzte gegeben. Nach Angaben einheimischer Medien beschoß ukrainische Artillerie wie an den Vortagen die Stadt.
Das russische Außenministerium bezeichnete den Militäreinsatz der Kiewer Regierung im Südosten der Ukraine am Montag als »schwere Verletzung« des humanitären Völkerrechts, das den Schutz von Zivilisten in Kriegsgebieten regelt. Außenminister Sergej Lawrow kündigte der Agentur Interfax zufolge einen Resolutionsentwurf zur Ukraine-Krise im Weltsicherheitsrat an: »Darin werden unter anderem Forderungen nach einem sofortigen Ende der Gewalt und einem Beginn von Verhandlungen enthalten sein«. Rußland sei »tief beunruhigt«, daß bei der »Antiterroroperation« der ukrainischen Führung Unbeteiligte getötet würden. Lawrow erläuterte: »In unserem Entwurf schlagen wir einen Fluchtkorridor vor, damit Zivilisten die Kampfzone verlassen können«. Westliche Länder hätten versichert, daß sich die Lage in der Ukraine nach der Präsidentenwahl vom 25. Mai verbessern werde. Das genaue Gegenteil sei der Fall. Die Regierung in Moskau hat den designierten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko wiederholt aufgefordert, den Militäreinsatz in den Regionen Donezk und Lugansk zu stoppen. Auf Wunsch Rußlands kam am Montag erstmals seit drei Monaten in Brüssel der NATO-Rußland-Rat zusammen, um über die Ukraine-Krise zu beraten. »Es ist klar, daß es grundlegend unterschiedliche Ansichten über diese Krise gibt«, ließ NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen anschließend erklären.
Von den beiden Beobachtergruppen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in der Ostukraine verschwunden sind, gab es weiter keine Nachricht.
**** Aus: junge Welt, Dienstag, 3. Juni 2014
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