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Putsch in Raten

"Rechter Sektor" errichtet Kontrollpunkte um Lwiw und Kiew

Von Reinhard Lauterbach *

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat die Entwaffnung des sogenannten Rechten Sektors (RS) angeordnet. Keine politische Partei in der Ukraine dürfe bewaffnete Formationen unterhalten, so der Präsident in einer Erklärung, die allerdings bisher keine praktischen Folgen hatte. Denn der Rechte Sektor denkt nicht daran, sich der Staatsmacht unterzuordnen.

Am Dienstag errichteten Einheiten des Sektors Kontrollpunkte an den Ausfallstraßen der westukrainischen Millionenmetropole Lwiw und übernahmen faktisch die Aufgaben der Polizei in der Stadt. Seine Leute würden auf den Straßen Streife fahren und zur Stelle sein, wenn etwas passiere, so der regionale RS-Chef. Das Ziel der Aktion ist offiziell zu verhindern, dass »kriminelle Autoritäten« bezahlte Schläger und Provokateure in die Stadt schickten, um Unruhe zu stiften. Faktisch wirken die Sperren aber genauso gut in die andere Richtung und hindern die Polizei daran, Verstärkung in die Transkarpatenregion zu entsenden, wo sich der Rechte Sektor am Samstag ein Feuergefecht mit Sicherheitskräften geliefert hatte, bei dem drei Menschen starben und neun verletzt wurden. Die Kontrolle über Mukatschewe, die Hauptstadt der Region, liegt offenbar nur noch bedingt bei der Staatsmacht.

Bewaffnete RS-Angehörige errichteten auch an der Ausfallstraße von Kiew in Richtung Lwiw einen Kontrollpunkt, um die Verlegung von Truppen in den Westen zu verhindern. In etwa 20 anderen ukrainischen Städten demonstrieren kleine Trupps von RS-Kämpfern teils mit, teils ohne Waffen vor den Verwaltungsgebäuden. Sie werden unterstützt von Angehörigen anderer Faschistenbataillone wie »Asow«, »Aidar« und des unlängst wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung aufgelösten Bataillons »Tornado«.

Polen, die Slowakei und Ungarn verstärkten indes die Kontrolle der EU-Außengrenzen zur Ukraine, um ein Übertreten der nach den Schusswechseln vom Samstag in die Wälder der Karpaten ausgewichenen RS-Leute in die Nachbarländer zu verhindern. Der RS-Sprecher dementierte allerdings solche Pläne und sagte, die Kämpfer seien dafür ausgebildet, monatelang in den Wäldern zu überleben. Solange sie auf Unterstützung der Bevölkerung rechnen können, was in der nationalistisch geprägten Westukraine nicht ausgeschlossen ist, oder sich das Nötige zusammenrauben.

Auch hierfür ist der RS qualifiziert. Die Organisation soll für einen Großteil des Anstiegs der Kriminalität ukrainischer Soldaten in den vergangenen Monaten verantwortlich sein. Das geht aus angeblich von einem Verbindungsmann in Kiew übergebenen Dokumenten der ukrainischen Staatsanwaltschaft hervor, die die Behörden der »Volksrepublik Donezk« am Mittwoch vorstellten. Danach haben Angehörige der Streitkräfte im weitesten Sinne im ersten Halbjahr 2015 insgesamt 20.000 Straftaten verübt. In Charkiv gingen 60 Prozent dieser Straftaten auf das Konto des RS, im Transkarpatengebiet knapp die Hälfte. Bedenkt man, dass die Mitgliederzahl des RS auf maximal 10.000 geschätzt wird und die Zahl der ukrainischen Soldaten im Kriegsgebiet auf 50.000 bis 60.000, ergibt sich daraus eine starke Überrepräsentation des Rechten Sektors im Bereich der uniformierten Kriminalität.

Interessant ist, dass die US-amerikanischen Protektoren des Kiewer Regimes bisher die Aktionen des Rechten Sektors nicht verurteilten. Im Gegenteil: Sowohl der US-Propagandasender Radio Liberty als auch Vizepräsident Joe Biden übernahmen die Rhetorik, mit der der RS sein Vorgehen in Mukatschewe gerechtfertigt hat. Der Sender veröffentlichte eine Analyse, wonach das Transkarpatengebiet immer schon ein Ziel russischer Infiltration gewesen sein soll, und dass der Kreml »Korruption exportiere«, um sich Teile der ukrainischen Staatsmacht gefügig zu machen.

Biden erklärte beim Besuch des ukrainischen Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk, Russland wolle das Scheitern der ukrainischen Staatlichkeit und den Zusammenbruch ihrer Wirtschaft. Doch noch sei nicht alles verloren. Der Befehlshaber in Europa, General Ben Hodges, kündigte laut Radio Liberty an, dass die US-Army ab November auch Einheiten der regulären ukrainischen Streitkräfte trainieren werde. Der Erfahrungsaustausch sei wechselseitig: Die ukrainischen Militärs hätten Erfahrungen mit der Taktik »russischer« Truppen und der Wirkung ihrer Waffen, die den USA fehlten. Früher nannte man so etwas einen Stellvertreterkrieg.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 16. Juli 2015


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