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Am Rande des Krieges

In der Metropole Dnepropetrowsk drängen sich Flüchtlinge – und Studenten, die sich als Ukrainer fühlen

Von Margaryta Kirakosian *

Dnepropetrowsk ist inzwischen eine Art heimliche Hauptstadt der Ostukraine. Sie steckt nicht mitten im Konflikt, bleibt von Veränderungen aber nicht unberührt.

Auf dem Platz, wo in Dnepropetrowsk ein Lenindenkmal stand, steht jetzt nichts mehr. Während der Massendemonstrationen im Dezember wurde die Skulptur heruntergerissen. Den Platz benannte man später nach den »Helden des Maidan«. Den Führer der Bolschewiki werden mit ihrem künftigen Denkmal die im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getöteten »himmlischen Hundert« ersetzen. Der Platz ist von typischen »Stalinbauten« umgeben. In der Ferne spielt Sonnenlicht auf den goldenen Kuppeln der Kirche. Menschen gehen im modernen grauen Zentrum von Dnepropetrowsk einkaufen. Kinder fahren fröhlich auf einem französischen Karussell. Doch der Friede trügt. Zwar sind keine Schüsse und kein Kriegslärm zu hören. Doch die Atmosphäre des Krieges herrscht hier in der Ostukraine schon seit Monaten.

Dnepropetrowsk, benannt nach den Fluss Dnepr und dem sowjetisch-ukrainischen Revolutionär Petrowski, ist die drittgrößte Stadt der Ukraine und ein wichtiges Finanz- und Industriezentrum. Den dritten Platz im Land nimmt die Stadt jetzt auch als Zuflucht für Flüchtlinge von der Krim und aus der Ostukraine ein. Immer wieder schrecken die Martinshörner der Krankenwagen Passanten auf: Verletzte aus den Kämpfen im Donbass werden in örtliche Krankenhäuser gebracht. Das Gebiet Dnepropetrowsk grenzt an das Donezker. Wo früher um die Wette gelaufen, gesprungen und geworfen wurde, ist jetzt ein Landeplatz für Hubschrauber, die Verletzte bringen. Freiwillige kümmern sich um Lebensmittel, Medikamente und suchen Unterkünfte für Flüchtlinge. «Wir schaffen heran, was am wichtigsten ist«, sagt Oksana Gudoschnik. »Aber ein gutes Wort oder hausgemachte Piroschki können auch helfen.«

In Friedenszeiten vermittelt die Hochschullehrerin jungen Journalisten Geschichte der ausländischen Medien an der Dnepropetrowsker Nationalen Universität. Vom Hauptgebäude mit seinen zwölf Stockwerken kann man die ganze Stadt sehen. Sie ist voll von Studenten, die nach der Erklärung der Unabhängigkeit 1991 als Ukrainer aufwuchsen und ausgebildet wurden. Heute stärken sie eine pro-ukrainische Stimmung in der Stadt.

Irma, die Journalistik studiert, wundert sich, dass gerade Dnepropetrowsk eine starke Hilfe für Flüchtlinge und die Armee ist. »Die Stadt galt immer als pro-russisch oder pro-jüdisch, wie auch immer. Aber nicht als ukrainisch. Nun wurde sie plötzlich eine Art Zentrum des ukrainischen Patriotismus in der Ostukraine«, sagt sie. »Dutzende Männer melden sich freiwillig an die Front.« Die Juristin Anja machen fröhliche Freiwillige traurig. »Manche sind jünger als ich und sie werden sterben.«

Auch die Bereitschaft zu helfen ist besonders bemerkenswert. Die wirtschaftliche Lage ist schwierig. Anna ist 26 Jahre alt und sie bildet eine neue Generation aus. Aber für ihr monatliches Gehalt von 150 Euro kann sie sich kaum Kleidung kaufen. »Mein Mann bezahlt für unsere Wohnung. Mein Gehalt reicht nur für Essen und Transport«, sagt sie. Die offizielle Statistik bestätigt, dass Anfang Juni der Preis für die am meisten genutzten Richtungstaxis »Marschrutki« um 25 Prozent stieg. Die Lebensmittelpreise kletterten im Jahr 2014 durchschnittlich um 12,4 Prozent.

Seufzend berichtet Anna, dass die Kosten für kommunale Dienste um 40 Prozent schmerzlich anstiegen. Als Lehrerin macht sie sich auch Sorgen um Studenten, die hierher aus verschiedenen Städten kommen. »Alle Wohnheimen sind voll mit Flüchtlingen, es gibt kein Platz mehr für Studenten. Wohnungen kann man nicht mehr mieten, alle Preise haben sich verdoppelt.«

Über den Karl-Marx-Prospekt, die gepflasterte Hauptstraße der Stadt, lärmen die Autos. Grüne Akazien bieten Stadtbummlern Schatten. Das moderne Finanzzentrum zeigt viel Glas und Beton, hie und da auch renovierte Gebäude aus der Zeit der Zarin Katharina. Andrej ist privater Unternehmer und verdient sein Geld mit internationalem Güterverkehr. Seine Firma hat keine großen Probleme. Allerdings ist der Warenaustausch mit Donezk fast unmöglich. Warenladungen verschwinden. Deutsche Kunden sind ängstlich geworden. »Ihnen versuche ich zu erklären, dass Dnepropetrowsk im Zentrum und nicht im Osten der Ukraine liegt und es keine Gefahr gibt.«

Doch in größter Sorge sind russische Kunden. Mit »Faschisten«, »Banderowzi« und »der Junta« wollen sie nichts zu tun haben. Die russischen Sanktionen für ukrainische Waren machen die Lage noch schlimmer. Immerhin ist der Export nach Europa gestiegen. »Die Akzente in unserer Arbeit wurden verschoben«, sagt Andrej.

Die Lage der Schwerindustrie in Dnepropetrowsk ist besonders kompliziert. Für manche Betriebe der Stadt ist die Krise in den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine ausgesprochen gefährlich. Der örtliche Staatsbetrieb »Juschmasch« ist ein »strategisches Objekt«. Dort wurden in Sowjetzeiten und die Jahrzehnte danach Raketen, Satelliten und Raumfahrzeuge hergestellt. Die mächtigste ballistische Interkontinentalrakete der Welt, »SS-18 Satan«, wird hier gebaut. Aber der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat erklärt, dass ukrainische Betriebe Russland keine militärischen Güter mehr liefern werden. Nun muss sich »Juschmasch« neue Abnehmner suchen. Unter der Hand erfährt man in dem Werk, dass alle Verhandlungen mit Russland eingefroren sind. Während eines halben Jahres soll auch die gesamte Wartung der »SS-18 Satan« an Russland übergeben werden. Das werde für beide Seiten sehr teuer, sagen die Beschäftigten, und viele Arbeitsplätze kosten.

Die Lage im Land ist unklar. Viele Einwohner der Stadt machen sich Sorgen. Aber das Leben geht weiter. Wie jeden Abend werden auch heute viele Dnepropetrowsker zur Uferpromenade kommen, um zu entspannen. Die Promenade ist 23 Kilometer lang und gilt als längste in Europa. Die Lichter funkeln im Fluss, dort rauscht eine große Fontäne. Aus den zahlreichen Cafés dringen Musik und Stimmengewirr.

Von der Brücke aus sieht man im Zentrum der Stadt die sieben hohen Türme des jüdischen Zentrums »Menorah«, das wie eine Lampe in die Nacht strahlt. Am anderen Ufer leuchtet die »zweite Sonne«. Das Kunstobjekt wurde für »Interpipe«, den ersten seit Jahren wieder neu gebauten metallurgischen Betrieb, von einem dänischen Architekten entworfen.

Das alte Hotel »Parus« steht immer noch leer. Es wurde in den 1970er Jahren gebaut, aber niemals eingeweiht. Pläne, aus dem alten einen neuen modernen Komplex zu machen, lagen bereits vor. Doch mit dem Ausbruch der wirtschaftlichen Krise wurden alle Arbeiten wieder abgebrochen. Aber junge Aktivisten malten auf die Fassade des 16 Stockwerke hohen Gebäudes den Dreizack, das Wappen der Ukraine. Irgendwie erscheint auch die Stadt Dnepropetrowsk wie dieser Bau. Beide sind voll sowjetischer Geschichte und ukrainisch, benötigen eine Erneuerung.

Als am Unabhängigkeitstag in Donezk die ukrainische Fahne niedergerissen wurde, marschierten in Dnepropetrowsk Einwohner in Nationaltracht und mit ukrainischen Fahnen zum früheren Leninplatz, um getötete ukrainischen Kämpfer mit Blumen zu ehren. Um wieder wachsen zu können, meint Anja, brauche Dnepropetrowsk aber Frieden in der ganzen Ukraine.

* Die Autorin studiert Journalistik an der Universität Dnepropetrowsk, z.Z. an der Freien Universität Berlin. Sie absolviert derzeit ein Praktikum beim »neuen deutschland«

Aus: neues deutschland, Freitag 19. September 2014



Kiew schickt Ukraine in die Assoziierung

Nationales Programm plant Details der Liberalisierung **

José Manuel Barroso hatte der Ukraine quasi in einer letzten Amtshandlung als Kommissionspräsident eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Damit verärgerte er vermutlich nicht nur seinen Amtsnachfolger Jean-Claude Juncker, der einen EU-Beitritt des Landes auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verlegt hatte. Auch Mitgliedsländer, die sich die Euro-Zuwendungen der EU mühevoll durch einen Wettbewerb sogenannter Strukturanpassung, also neoliberalen Umbaus der Wirtschafts- und Sozialstrukturen verdienen und weitere Konkurrenz eifersüchtig beäugen, dürften nicht erfreut sein. Die Ukraine hat sich ihnen angeschlossen.

Auch wenn eine Mitgliedschaft derzeit nicht zur Debatte steht – das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union, das noch der Zustimmung jedes der 28 Mitgliedsstaaten bedarf, wird derzeit in einem »Nationalen Programm« in handliche Planungsstücke zerlegt. Ganz nach Wunsch der westlichen Ratgeber wird EU-Unternehmen der Boden für einen erleichterten Zugang geebnet. Linke Kritiker im Land sprechen davon, dass mit dem Abkommen sämtliche Voraussetzungen geschaffen werden für die Entwicklung eines freien Marktes, nicht aber des freien Menschen.

Als Liberalisierung umschrieben, wird die ukrainische Wirtschaft von allen Schutzmechanismen befreit, die sie gegenüber der westlichen Konkurrenz am Leben halten könnten – durch die Abschaffung von Zollbarrieren und Subventionen, kurz durch die Öffnung für den Wettbewerb. Darin wird sie absehbar den Kürzeren ziehen. Wo dies nicht gesichert ist, können sich westliche Unternehmen auf vertraglich vereinbarten Investitionsschutz berufen.

Der Bankensektor soll liberalisiert werden, ebenso die Telekommunikationsbranche und die Versicherungen. Dem staatlichen Postunternehmen »Ukrposchta« sind Filialschließungen und Personalkürzungen schon vorausgesagt – noch in Form gutgemeinter Warnungen von Eingeweihten. Die Kosten des Umbruchs würden vor allem auf die privaten Haushalte umgelegt, Großunternehmen jedoch geschont. Tarife für Gas, Strom und Heizung sollen von sozial begründeten Subventionen befreit und nach wirtschaftlichen Kriterien gestaltet werden.

Angesichts der auf die Bevölkerung zukommenden Belastungen werden die vereinbarten Maßnahmen zum »Schutz« der EU vor Flüchtlingen, die die Ukraine als Transitland nutzen, nur noch als Marginalie erscheinen. Das Zwischenlager für Flüchtlinge in der Stadt Jahotyn (Gebiet Kiew) soll dafür mit Mitteln der EU saniert, die Unterkünfte für illegale Migranten in den Gebieten Donezk und Mykolajiw fertiggestellt werden. uka

** Aus: neues deutschland, Freitag 19. September 2014


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