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"Unverständlicher Krieg"

Dokumentation. Interview der Ukrainskaja Prawda mit Generaloberst Wladimir Ruban von den Ukrainischen Streitkräften über die Lage in der Ostukraine *


Am 20. August wurde in der Ukrainskaja Prawda ein Interview der Journalistin Jekaterina Sergazkowa mit Wladimir Ruban veröffentlicht. Ruban hat als Generaloberst den gleichen militärischen Rang wie der Verteidigungsminister. Seine Worte haben also einiges Gewicht. Das Kiewer Regime ernannte ihn zum Beauftragten für den Austausch von Gefangenen im Bürgerkrieg. jW dokumentiert das Gespräch in voller Länge. (jW)


Wie viele Menschen haben Sie schon herausgeholt?

Mehr als 100. Beim hundertsten haben wir aufgehört zu zählen.

Und wie viele Anrufe bekommen Sie täglich von Menschen, die Angehörige vermissen?

Ungefähr 300.

Nehmen Sie die selbst entgegen?

Nein, dafür haben wir eine Abteilung mit Fachleuten für solche Fragen. Vorher hatte sich bei uns eine zehnköpfige Gruppe mit dem Arbeitstitel »Offizierskorps« mit der Befreiung von Geiseln beschäftigt. Die Leute sammelten Informationen, aber es war kein System darin.

Was ist Ihre Rolle in dieser Struktur? Ich weiß, daß Sie der einzige professionelle Verhandlungsführer sind und daß alles letztlich auf Sie zuläuft. Mit Ihnen hat das alles ja auch angefangen. Wie geht es jetzt weiter?

Genau wie bisher. Ich leite dieses Zentrum schließlich.

Es beruht also alles auf Ihrer persönlichen Autorität?

Anders geht es an der Front auch gar nicht. Da beruht alles wirklich auf persönlicher Autorität. Wenn man sein Wort hält, wird mit einem zusammengearbeitet. Hält man es nicht, erfährt man Mißtrauen.

Und die Leute, mit denen Sie zusammenarbeiten – wird denen dort vertraut? Arbeiten sie autonom?

Nein. Für die Gespräche bin nur ich zuständig und führe sie persönlich. Es gibt ein Schlüsselwort, so etwas wie die Parole, die wirkt wie ein Handschlag, und dann beginnen wir mit der Arbeit: das Offiziersehrenwort. Wenn ich mein Offiziersehrenwort gebe, dann ist die Abmachung getroffen. Die andere Seite weiß dann, daß meine Mitarbeiter und ich alles tun werden, um unser Wort zu halten. Und so machen wir es auch, egal unter welchen Umständen. Wir können unser Ehrenwort auf keinen Fall brechen.

Da haben Sie ja viel zu tun. Denn in letzter Zeit hat die Zahl der Gefangenen zugenommen.

Das stimmt. Aber jetzt unterstützt uns auch die Präsidentenverwaltung und der Präsident (Petro Poroschenko; jW) persönlich, der Sicherheitsdienst und das Verteidigungsministerium haben alle verstanden, daß diese Arbeit notwendig ist. Sie haben gesehen, daß sie Erfolge bringt, und das hat sie von deren Nützlichkeit überzeugt.

War das früher anders?

Da gab es Zweifel. Es hat eine Weile gebraucht. Die meisten sind schließlich neu auf ihren Posten. Ein neuer Verteidigungsminister, eine neue Präsidialadministration, ein neuer Präsident.

Aber das Problem hat es doch schon im März auf der Krim gegeben. Damals lag diese ganze Arbeit auf den Schultern von Journalisten und freiwilligen Aktivisten. Wir fuhren dorthin und versuchten, die Menschen freizubekommen. Das war schwierig, weil wir auf diese Aufgabe nicht vorbereitet waren und wahrscheinlich viele Fehler begangen haben. Damals gab es, realistisch gesehen, keinen einzigen Menschen, der diese Rolle hätte ausfüllen können.

Bei uns in der Hochschule des SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine; jW) gab es einen Lehrstuhl, wo Verhandlungsführer ausgebildet wurden. Wo sie jetzt sind, weiß niemand, ich auch nicht. Bei der Polizei gibt es … (Ruban korrigiert sich, Anm. der Autorin) sollte es eine besondere Abteilung für die Arbeit mit Geiselnehmern und für Verhandlungen in Krisensituationen geben. Aber wahrscheinlich hat das niemand für erforderlich gehalten, und deshalb sind diese Fachleute heute nicht vorhanden.

Das heißt, sie sind ausgebildet worden, aber es gibt keine derartige Dienststelle?

Vielleicht gibt es sie auch, aber dann ist sie gut getarnt.

Und Ergebnisse ihrer Arbeit sehen wir auch nicht.

Ja, und genau deshalb finden wir diese Leute ja auch nicht. Aber inzwischen ist immerhin auf beiden Seiten die Erkenntnis herangereift, daß es notwendig ist, Gefangene freizulassen. Das erleichtert nebenher viele Aufgaben, denn es ist mit einigem Aufwand verbunden, Gefangene zu versorgen. Wenn Leute ausgetauscht werden, schaue ich sie mir an. Ich bringe unsere Gefangenen mit, und wir nehmen kritisch unter die Lupe, wie sie bei uns ernährt wurden. Wir haben vereinbart, daß mit Gefangenen ordentlich umgegangen wird.

Alles fing damit an, daß wir verabredet haben, freizulassenden Gefangenen irgendwelches Schuhwerk zu geben und sie nicht barfuß oder auf Socken auszutauschen. Dann haben wir uns die Ernährungsbedingungen angesehen: Wer hat zu essen bekommen, wer nicht. Und wir haben verabredet: Gefangene bekommen zu essen. Weiter ging es mit der medizinischen Behandlung. Heute werden auf beiden Seiten Gefangene, die ärztliche Hilfe brauchen, medizinisch betreut.

In Lugansk gab es so einen Fall. Um einem Offizier die verletzte Hand zu retten, haben die Ärzte verlangt, ihn sofort stationär aufzunehmen. Bei dem Patienten begann schon der Wundbrand, die Behandlung war aus ärztlicher Sicht kompliziert. Ich konnte nicht rechtzeitig aus Kiew anreisen, um ihn zurückzuholen, so ist er nach Rußland gebracht worden. Dort ist das Leben des Gefangenen gerettet worden.

Und danach haben sie ihn zurückgegeben?

Noch nicht. Die Behandlung dauert noch an. Ich weiß nicht, wie sein weiteres Schicksal aussehen wird, ob sie ihn freilassen. Aber das Wichtigste ist, daß Gefangene nicht erschossen werden, sondern für den Austausch bereitgehalten werden.

Es gibt verschiedene Arten von Gefangenen: Zivilisten und Soldaten. Es gibt verschiedene Gründe, aus denen sie als Geiseln genommen werden. Vielfach sollen sie sich einfach freikaufen. Wie gehen Sie mit solchen Banden um, die Leute wegen des Lösegeldes entführen und nicht, um sie auszutauschen?

Dann muß man das Geld finden und diese Menschen freikaufen.

Aber das ist doch nach internationalen Kriterien nicht ganz human, weil die Entführer für dieses Geld nur wieder Waffen kaufen und weiter Menschen umbringen …

Hier muß man es so machen wie die Israelis. Israel hat sich lange gerühmt, daß es mit Terroristen nicht verhandelt und in solchen Situationen kein Lösegeld zahlt. Inzwischen haben sie verstanden, daß diese Taktik falsch ist, und haben ein Zentrum für Verhandlungen mit Geiselnehmern eingerichtet, wo man auf verschiedene Situationen bei der Befreiung von Gefangenen eingerichtet ist, auch darauf, sie freizukaufen. Solch eine Variante muß als Absicherung immer eine Option sein. Wenn die Geiselnehmer einen Handel vorschlagen und sagen, sie geben einen Menschen nur gegen Geld frei, dann muß man halt auf dieser Ebene mit ihnen arbeiten und das Geld bereitstellen.

Aber wenn diese Leute in irgendeiner Weise der Führung der Donezker oder Lugansker Republik unterstehen, dann habe ich Möglichkeiten, die Gefangenen ausfindig zu machen, selbst Angebote zu machen und das dann der Führung mitzuteilen. Dann werden die Geiseln im Austausch gegen andere Gefangene freigelassen, ohne daß Geld fließt.

Wir haben anfangs vereinbart, daß wir uns an Lösegeldverhandlungen nicht beteiligen und keine Menschen freikaufen und nicht um sie feilschen. Diese Möglichkeit haben wir.

Und welchen Vorteil hat die Führung der Volksrepubliken davon?

Sie zeigen auf diese Weise gegenüber der eigenen Bevölkerung, daß ihnen das Schicksal der eigenen Leute in Gefangenschaft nicht gleichgültig ist. Genauso, wie es für unseren Präsidenten nützlich ist, dies zu demonstrieren. Auch er zeigt Fürsorge für seine Staatsbürger, und das ist richtig so. Die Wähler haben ihm die Macht anvertraut, auch diejenigen, die gefangengehalten werden, und er sollte sie dort herausholen. Genauso sieht es die Führung in Donezk und Lugansk hinsichtlich ihrer eigenen Leute. Sie würden am liebsten »alle gegen alle« austauschen, und das ist menschlich gesehen korrekt und verständlich.

Aber ist das möglich?

Sicher.

Das Endziel ist also, alle Gefangenen auszutauschen?

Das ist das Maximalprogramm. Meine Arbeit besteht darin, einzelne Menschen beider Seiten freizubekommen.

Erklären Sie mir bitte, worin der Unterschied zwischen der Befreiung von zivilen und militärischen Gefangenen besteht und was schwieriger ist. Verstehe ich Sie richtig, daß es mit Zivilisten schwieriger ist?

Da gibt es keinen besonderen Unterschied. Es gab nur zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr zivile Aktivisten als Soldaten unter den Gefangenen. Etwas einfacher ist es mit Soldaten, da werden keine besonderen Nachfragen gestellt, man tauscht sie halt aus. Wenn der Gefangene aber Zivilist ist, muß ich Nachforschungen anstellen und prüfen, ob es gerechtfertigt ist, ihn einseitig freizulassen, ihn auszutauschen oder die andere Seite zu überzeugen, ihn ohne Gegenleistung laufenzulassen.

Vor kurzem hat die Frau eines Gefangenen bei uns angerufen und erzählt, daß drei Mähdrescherfahrer abends von der Arbeit kamen, einen Kontrollpunkt passierten, wo sie für Spione gehalten und zum Verhör festgenommen wurden. Dabei haben sie jedem von ihnen ins Knie geschossen. Und in Gefangenschaft mit durchschossenem Knie gibt mancher zu, »Spion« zu sein. Sogar Anwohner.

Auch ohne durchschossenes Knie …

Ja, auch ohne durchschossenes Knie. Es hat sich bei diesen dreien herausgestellt, daß sie tatsächlich Mähdrescherfahrer waren, und man hat sie freigelassen. Solche Fälle kommen auf beiden Seiten vor; das ist nicht in Ordnung, das muß aufhören.

Und wie ist es mit den politisch motivierten Aktivisten, die in den Volksrepubliken festgehalten werden? Sind ihre Fälle schwieriger zu bearbeiten? Ist ein ziviler Aktivist, der für die Einheit der Ukraine eintritt, schwieriger loszueisen als ein Mähdrescherfahrer?

Das ist tatsächlich schwieriger. Er muß ausgetauscht werden. Wenn es ein Freiwilliger war, der Lebensmittel für die Soldaten gebracht hat, ist es verhältnismäßig einfach. Wenn er kugelsichere Westen oder Literatur transportiert hat oder gar allein mit Waffen unterwegs war, dann ist es schwieriger.

Es gibt eine delikate Frage: Wenn ein Mensch vermißt wird, wie sollten die Medien und die Blogger sich dann verhalten, um keinen Schaden anzurichten? Viele haben gesagt, es erschwere die Bemühungen um seine Freilassung, wenn die Sache breit publiziert wird.

Das ist unterschiedlich. Manchmal erschwert es die Arbeit des Unterhändlers, manchmal die Lebenssituation des Gefangenen. Man muß die Informationen dosiert verbreiten, aber ohne Ungenauigkeiten. Manchmal heißt es in der Presse, es sei ein Aktivist des »Rechten Sektors« gefangengenommen worden, und der Junge weiß überhaupt nicht, was der »Rechte Sektor« ist. Vielleicht hatte er eine schwarz-rote Fahne, aber das heißt noch nicht, daß er auch Aktivist ist. Für die Gegenseite aber sind solche Meldungen Anhaltspunkte dafür, den Gefangenen länger festzuhalten und härter zu foltern.

Aber die Gefangenen selbst müssen sich auch vernünftig verhalten. Ich hatte einen Fall zu bearbeiten, da haben sie dem Mann, den wir austauschen wollten, angekündigt, daß sie ihn freilassen würden. Und dann gesagt: Na, nun erzähl mal, was du wirklich gemacht hast. Und er hat dann viel Überflüssiges erzählt. Es führte dazu, daß er drei Wochen länger einsaß.

War das so eine Falle des Gegners?

Das war wohl keine bewußte Falle, sie haben einfach gefragt, und er hat sich so um Kopf und Kragen gequasselt. Sehr viele Gefangene verfallen in diesen Fehler, sich wichtiger zu machen, als sie waren, um zu überleben. Ihnen scheint es, daß sie sowieso gleich erschossen werden, und dann wollen sie lieber als Märtyrer sterben. Zum Beispiel erzählen sie, sie seien Artilleriebeobachter. Von denen werden ungefähr zehn in Donezk festgehalten. Keiner von denen hat eine Ahnung, was ein Artilleriebeobachter treibt.

Und wie sollten sich Gefangene verhalten?

Schwierig zu sagen. Das muß jeder Gefangene nach den Umständen und nach seiner Verfassung selbst entscheiden.

Aber sollte man ehrlich sein?

Das ist besser, solange man kein Soldat und kein professioneller Aufklärer ist.

Vor zwei Tagen sind Leute auf mich zugekommen und haben mitgeteilt, daß in Makijiwka (östlich von Donezk; jW) ein Blogger festgehalten worden sei, der angeblich das ukrainische Artilleriefeuer gelenkt habe. Seiner Mutter haben sie gesagt, daß sie ihn erschießen würden. Wie soll man sich in einer solchen Situation verhalten?

Erstens: unbedingt unser Zentrum verständigen. Wir sind in der Lage, sofort mit dem Menschen Verbindung aufzunehmen, der ihn festhält, oder mit seinen Vorgesetzten. Dann können wir das Problem besprechen. Niemand wird »am Dienstag um 12 Uhr« erschossen, und niemand kann die Bedingung stellen, jemanden bis Samstag abend freizulassen. So läuft das nicht. Genau dafür gibt es Unterhändler, daß sie die Verfahren bei der Freilassung erläutern und mit der anderen Seite sprechen.

Solche Drohungen sind ein Trick, um sich in die Position des Stärkeren zu bringen. Aber man muß verstehen, daß wenn der Kommandeur die Leute einfach austauscht, dann wird diese Position übernommen. Wenn der Kommandeur sagt, daß er den Gefangenen am Dienstag erschießt, dann wird er automatisch zum Terroristen, weil er das Leben eines Gefangenen bedroht.

Wissen Sie, wie viele Menschen in dieser ganzen Zeit in Gefangenschaft erschossen worden sind?

Ich kenne eine ungefähre Größenordnung, aber ich werde sie nicht nennen.

Können Sie sagen, wo es zur Zeit am gefährlichsten ist? Wo am härtesten gefoltert wird?

Solche Unterscheidungen nach »viehisch« und »weniger viehisch« oder »am gefährlichsten« sind Unsinn. Wir arbeiten seit drei Monaten, und die Haftbedingungen sind im Prinzip überall gleich. Es gibt seltene Fälle von Übergriffen, aber die gibt es immer und in allen Kriegen. Dem einen gehen die Nerven durch, der andere ist vielleicht sowieso psychisch daneben. Jemand will Gefangene erschießen und läuft mit der MP herum, ein anderer will eine Handgranate in den Raum mit den Gefangenen werfen, um sich an ihnen zu rächen. Das sind in der Regel Leute mit niedrigem moralischen Niveau, ungebildet, die das große Wort führen. Oder die durch ihren psychischen Zustand oder nach Alkoholgenuß auf solche Ideen kommen.

Was sind das für Menschen, mit denen Sie verhandeln? Was für einen Charakter haben sie? Wofür tun sie das? Wahrscheinlich haben Sie sich ein Bild von ihnen machen können.

Und zu welchem Zweck macht die ukrainische Armee Gefangene? Was sind das für Menschen in der ukrainischen Armee und in den Freiwilligenbataillonen?

Das heißt, für Sie sind die einen wie die anderen?

Für Sie nicht? Sind für Sie sechs Millionen Bewohner der Region um Donezk und Lugansk plötzlich zu Feinden geworden?

Nein, friedliche Anwohner sind keine Feinde.

Und die 15000, die bewaffnet sind – sind das für Sie Feinde?

Alles in allem schon. Das sind schließlich Leute, die Leben und Gesundheit friedlicher Bürger bedrohen.

Jede Armee bedroht Leben und Gesundheit friedlicher Bürger. Dafür gibt es sie. Offiziere, die die Militärakademie abgeschlossen haben, sind professionelle Mörder, oder ist Ihnen das neu? Haben Sie das nicht gewußt? Das sind keine Leute, die auf Paraden Flaggen tragen, das sind Leute, die im Schützengraben andere Menschen umbringen. Das ist der Inhalt ihrer Ausbildung, so wie ich von meiner Ausbildung Jagdflieger bin. So ein schönes Wort, klingt so harmlos. Nehmen Sie das Wort »Flieger« weg, und es bleibt Jagd. Was ist mein Job? Zu jagen und zu töten.

Für mich sind diese Menschen dort keine Feinde. Ihnen fällt das leicht, sie aus Ihrer Position als Feinde zu betrachten. Aber ich kenne diese Leute seit langem. Unter ihnen sind Offiziere, Afghanistan-Veteranen, mit denen wir gemeinsam gegen (den geputschten Präsidenten Wiktor; jW) Janukowitsch protestiert haben. Dort gibt es Leute, mit denen wir auf dem Maidan gestanden haben. Auf dem Euromaidan. Aber wir haben ihn nicht so genannt.

Was meinen Sie mit »dort«?

Auf der anderen Seite. Die mit den Georgsbändchen, in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk.

Diese Leute haben also mit Ihnen auf dem Maidan gestanden?

Ja, und jetzt kämpfen sie gegen die ukrainische Armee. Es gibt jetzt zwei Seiten.

Aber warum tun sie das?

Und warum hat der »Rechte Sektor« »das« auf dem Maidan getan? Oder warum haben die Leute auf dem Maidan gestanden?

Wenn sie auf demselben Maidan waren, warum stellen sie sich jetzt gegen dieselben Menschen, mit denen sie Seite an Seite gestanden haben?

Weil die Leute, die auf dem Maidan waren, sich mit der Absetzung Janukowitschs zufriedengegeben haben. Weiter ist bisher keine einzige Forderung von damals erfüllt worden. Und die Leute im Donbass haben entschieden, bis zum Schluß zu kämpfen. Ihnen hat es nicht gereicht, daß Janukowitsch weg war, sie wollen reale Veränderungen im Land. Die meisten Punkte, die sie fordern, sind dieselben, die auch auf dem Maidan vorgetragen wurden.

Das sieht aber ganz anders aus.

Dafür muß man sich bei den Journalisten bedanken und bei all den anderen, die sie als Terroristen verschrien haben. Auch diejenigen, die sich den Begriff »Antiterroroperation« haben einfallen lassen, statt »Krieg« zu sagen.

Aber Rußland erkennt das nicht als Krieg an …

Was hat Rußland damit zu tun?

Sind Sie etwa der Meinung, Rußland sei an diesem Konflikt nicht beteiligt?

Haben Sie dort russische Truppen gesehen?

Ich habe Soldaten aus Rußland gesehen.

Haben Sie die Beteiligung russischer Truppen gesehen?

Offiziell nicht.

Sie werden sie auch inoffiziell nicht sehen, weil es dort keine gibt. Und sogar, wenn Sie irgendeinen Russen oder irgendeinen Soldaten gesehen haben, ist das noch keine Beteiligung Rußlands.

Wie soll man das denn sonst nennen?

Wie Sie wollen. Wissen Sie, daß auf beiden Seiten Söldner kämpfen?

Ja.

Auf beiden Seiten. Auf der ukrainischen und auf der Lugansker und Donezker Seite. Sagen Sie jetzt auch, daß Polen oder Schweden auf unserer Seite kämpfen? – Es gibt so einen traurigen Witz: »Rußland kämpft mit Amerika bis zum letzten Ukrainer.« Das kommt der Wahrheit sehr nahe. Aber das ist Geopolitik, und da werden die Entscheidungen ganz woanders getroffen. Spezialisten für nationale Sicherheit können lange darüber diskutieren.

Wir arbeiten direkt an der Front und bedienen uns unserer Erfahrung und unseres Wissens. Wir sind gewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn dort russische Waffen geliefert werden, ist es das eine. Putin kann da vieles verbieten, das ist eine andere Frage. Wenn da russische Offiziere sind, ist es eine dritte. Das ist keine offizielle Beteiligung Rußlands als Kriegspartei.

Wie soll man das denn nennen?

Waren Sie dort?

Ich beschäftige mich das letzte halbe Jahr mit nichts anderem. Und, sind alle Offiziere dort Russen? Am Ende noch Tschetschenen?

Nicht alle, aber der harte Kern. Die Anführer der Bewegung. Gott sei mit Ihnen. Russen mit ukrainischen Pässen?

Mit vollkommen russischen Pässen.

Das sind sogenannte »Berater«.

Ausbilder.

Wir sind schon zu Sowjetzeiten als »Bergleute zum Erfahrungsaustausch« in andere Länder gefahren und waren Militärberater. Genauso sind bei uns heute Spezialisten aus verschiedenen Ländern als Ausbilder tätig. Nicht deswegen, weil ihr Land sie schickt, sondern weil unsere Seite darum gebeten hat. Nehmen Sie an, wir wollen zusammen ein nettes kleines Ding drehen, aber wir wissen nicht, wie das geht. Was machen wir? Wir laden uns irgendeinen Banditen als »Spezialisten« ein, damit er uns berät, wie man in die Bank und wieder herauskommt.

Aber die Leute, die »sagen, wie es geht«, kommen alle aus Rußland. Wie soll man denn von einer inneren Auseinandersetzung reden, wenn sie von außen gesteuert wird?

Nennen Sie es, wie Sie wollen.

Nein, ich versuche mir darüber klarzuwerden.

Dann werden Sie sich mal klar. Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt. Alle Fragen werden innerhalb der Ukraine entschieden. Jede Seite hätte schon mehrmals den Krieg gewinnen können.

Aber?

Wenn man hätte gewinnen wollen und nicht den Krieg in die Länge ziehen. Man hätte ja wohl innerhalb von drei Monaten das Feuer einstellen und sich einigen können. Das kann man immer, in jeder Situation.

Und warum passiert das dann nicht?

Es gibt Leute, die sind an einem Ende des Krieges nicht interessiert. Ich bin das nicht, ich kann mich mit der anderen Seite einigen.

Und werden Sie das tun?

Ja. – Wir haben ja offiziell keinen Krieg. In Kiew fürchtet man den Kriegszustand, und niemand weiß, was das bedeutet. Die Zivilisten an der Macht fürchten sich vor den Militärs, denn wenn das Kriegsrecht ausgerufen wird, dann verlieren die Zivilisten an der Macht diese womöglich an das Militär. Das Ergebnis ist, daß die gesamte Infrastruktur vor die Hunde geht und die Menschen leiden.

Sind Sie der Meinung, man müßte das Kriegsrecht einführen?

Wenn Krieg herrscht, muß man das Kriegsrecht einführen. Den Dilettanten unter den Journalisten muß man verbieten, über den Krieg zu schreiben, weil sie keine Ahnung haben, was er bedeutet. Über den Krieg schreiben dürften nur Spezialisten. Es muß deshalb eine strikte Zensur geben, damit kein Schaden entsteht. Ich bin ein Gegner der Zensur, aber ich sage das auf der Grundlage dessen, was ich weiß.

Die Steuern müssen ordentlich eingezogen werden, nicht so von Fall zu Fall, wie das (Ministerpräsident Arseni; jW) Jazenjuk beim Parlament zusammenbettelt: ein neues Gesetz, eine neue Steuer.

Im Krieg ist alles sehr einfach. Es herrscht Krieg, es müssen Probleme gelöst werden, es gibt ein Ziel: den Sieg. Bei uns weiß man nicht, was das Ziel ist.

Kiew versucht einfach, den Krieg zu ignorieren und zu leben wie im Frieden.

Die Kiewer sind darum bemüht. Aber auch die Regierung?

Vom Kriegszustand hat doch niemand Vorteile. In der Westukraine hat man den Eindruck, daß es keinen Krieg gäbe.

Und was passiert mit Ihrer Wohnung, wenn in der Küche der Kriegszustand herrscht? Ist dann im Schlafzimmer alles in Ordnung? Das ist schließlich Ihre Wohnung, die müssen Sie als Ganzes betrachten. Deshalb muß der Kriegszustand sowohl im Schlafzimmer als auch in der Küche ausgerufen werden.

Ob es der Westukraine gefällt oder nicht: sie hat Teil am Krieg, sie schickt ihre Kinder dorthin. Ich sehe sie, wenn ich sie aus der Gefangenschaft heraushole, sie können kein einziges Wort Russisch. Die sind so etwas von betroffen vom Krieg. – Das ist keine Antiterroroperation. Das ist ein Krieg.

Was für ein Krieg?

Ein neuer, unverständlicher, hybrider Krieg. Beinahe ein Bürgerkrieg.

»Beinahe« … Warum gibt es die »Berater«?

Berater gibt es immer. Ich habe von einem »Beinahe-Bürgerkrieg« gesprochen, weil beide Seiten ideologisch kaum zu unterscheiden sind. Beide kämpfenden Seiten wollen ordentlich leben. Sie wollen vernünftige Straßen und daß ihre Familien gut ernährt sind. Für sie macht es keinen großen Unterschied, ob die Ukraine in Richtung Rußland oder EU gleitet oder ob sie allein bleibt. Alle wollen besser leben, und alle, beide Seiten, sind durch diese Führungsfiguren ins Elend gestürzt worden.

Aber der Krieg beschleunigt das doch nur.

Der Krieg ist immer eine Quelle des Fortschritts und der Klärung – in den Seelen und hinsichtlich der Zukunft. Die Ukraine ist ein reiches Land, sie wird niemals ins Elend stürzen. Ich denke, der Krieg nimmt irgendwann ein Ende, und die Leute werden wohlhabender.

Gemeinsam mit dem Donbass?

Gemeinsam.

Es wird also kein »Transnistrien 2« geben?

Nein. Die Infrastruktur ist zerstört, ein solches Transnistrien 2 könnte sich nicht halten. (1990 hatte sich die überwiegend russische und ukrainische Bevölkerung in dem hauptsächlich östlich des Dnjestr/Dnister gelegenen Industriegebiet von Moldawien abgespalten und die Republik Transnistrien [Eigenbezeichnung: Pridnestrowische Moldauische Republik] ausgerufen; jW)

Die Ukrainer sind ein fleißiges Volk und können gescheit arbeiten. Unsere Ingenieure sind erstklassig, und in Donezk steht eine der besten Technischen Hochschulen des Landes.

Gerade ist der Bau von einer Granate getroffen worden …

Das ist eine interessante Frage, woher die Granate gekommen ist. Es gibt eine »dritte Seite« – wir nennen sie jetzt so –, die diese Granaten verschießt und die Schuld der einen oder anderen Seite zuschreibt.

Wer ist diese »dritte Seite«?

Ich weiß es noch nicht, ich habe keine entsprechenden Informationen. Wir nennen das, als Arbeitstitel, »dritte Seite«. Besler von den Aufständischen nennt sie so, und die Leute in Donezk sagen es auch. Nach diesen Leuten wird gefahndet, um herauszubekommen, wer diese Saboteure geschickt hat.

Sie sagen, daß die Leute auf beiden Seiten gleich sind. Und dann haben Sie die Situation einer Mutter, der mitgeteilt wird, daß ihr Sohn erschossen werden soll. Die Kämpfer haben den Henker und einen Geistlichen zu ihm gebracht, und sie ist bereit, auf den Knien dorthin zu rutschen, um die Aufständischen anzuflehen, daß sie ihren Sohn statt ihn zu erschießen, wenigstens Schützengräben ausheben schicken. Ist das in Ordnung?

Ja, das ist in Ordnung, wenn die Verwandten sich um ihre Angehörigen kümmern, die in Gefangenschaft sind. Dafür gibt es die Familie. Die Mutter hätte nicht gedankenlos abstimmen dürfen, und beim nächsten Mal wird sie mit dem Herzen abstimmen und dabei berücksichtigen, was sie erlebt hat. Und ihr Sohn wird auch die richtige Wahl zu treffen wissen.

Das heißt, wir sind auf einem Weg der Selbstreinigung?

Ja. Wir haben aufgehört, zu unseren Eltern zu fahren und häufig an sie zu denken.

Und die Aufständischen – werden die »mit dem Herzen abstimmen«? Können sie lernen, in solchen Kategorien zu denken?

Die Aufständischen sind genau solche Ukrainer wie Sie und ich. Sie sind nicht aus anderem Teig gebacken, sie haben dieselben Blutgruppen, ihr Blut ist genauso rot wie unseres. Sie haben dieselben Schulen besucht wie wir und gemeinsam mit uns die Schulbank gedrückt.

Aber ihre Lage ist etwas anders. Sie sind in der Minderheit.

Was heißt hier Minderheit? Wie viele Menschen soll man denn umbringen, damit der Donbass als ukrainisch durchgeht? Hundert- oder zweihunderttausend?

Am besten keinen einzigen.

Eben. Deshalb muß man verhandeln und sich einigen. Man muß lernen zuzuhören. Ein guter Unterhändler redet wenig und hört viel zu.

Glauben Sie, daß die Leute aus dem Donbass, die sich in der Vergangenheit politisch und im Leben immer alles haben bieten lassen, etwas lernen werden?

Selbstverständlich. Sie haben schon einiges gelernt. Nach dem Maidan ist die Ukraine nicht mehr dieselbe, und nach diesem Krieg erst recht nicht. Wir sind jetzt alle andere Menschen geworden.

Übersetzung aus dem Russischen von Reinhard Lauterbach

* Aus: junge Welt, Freitag 22. August 2014


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