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Cool bleiben

Karlen Vesper über Moderatoren, Minister und Kriegsgeschrei *

Putin könnte eigentlich von Obama Alaska zurückfordern. Hatte dieses große rohstoffreiche Land doch dereinst ein selbstherrlicher Zar für einen »Appel und ein Ei« verschenkt. Und Deutschland könnte Anspruch auf das sonnige Sansibar erheben. Sollen die Briten doch Helgoland zurücknehmen. Was hatte sich unser Kaiser eigentlich bei diesem billigem Deal gedacht?

Leider ist es alles nicht so einfach mit der Weltgeschichte. Und in der großen Politik schon gar nicht. Das ist die Krux, die sich dieser Tage wieder mal besonders deutlich zeigt. Und die mit medialer Aufgeregtheit und Geschwätzigkeit nicht zu knacken ist. Eine Talkshow jagt die andere. Schlauer ist man hernach nicht. Wie auch, wenn sie nur Bühne der Selbstdarstellung sind, für aufstrebende Politstars, als deren Ausweis für Kompetenz Geburtsort und/oder eine doppelte Staatsbürgerschaft genügen sollen? Und die Moderatorin ohne Kinderstube, die mit nacktem Finger auf angezogene Leute weist, eigentlich gar nichts wissen will von ihren Gästen. Da sie ja alles weiß. Und ergo Maybrit Illner deren Rede, gerade wenn es mal doch unerwartet interessant wird, unterbricht.

Ach ja, Deutschlands Moderatoren. Das ist ein Slapstick für sich. Wulf Schmiese, ebenfalls vom ZDF, vom Frühstücksfernsehen, das dramatisches Geschehen in leichten Häppchen zum morgendlichen Kaffee reicht, belehrte uns neulich: »Die Ukraine ist kein Nationalstaat, weil es da nicht nur eine Nation gibt.« Da blieb einem das Brötchen im Halse stecken. Wie es sich mit Staat, Nation, Nationalität, Ethnie ... verhält, sprengt offenbar Schulweisheit. Wie die Moderatoren so die Minister. Deutschlands Ex-Agrarminister hat, als er noch Innenminister war, forsch verkündet: »Wenn unsere türkischen Mitbürger die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, hören sie auf, Türken zu sein.« Ach ja?

Wissen sollte Voraussetzung für Sprechen und Handeln sein. Darum bat »neues deutschland« zwei Historiker um Aufklärung über zwei Kapitel russischer und zugleich europäischer Geschichte. Auch wenn historische Vergleiche bekanntlich generell hinken, können sie nützlich sein. Und wenn die Medien, vor allem die flimmernden, einen neuen Krimkrieg regelrecht herbeischreien, kann man nur hoffen, dass die Politiker und Wirtschaftsgewaltigen cool bleiben, sich nicht kirre machen lassen. Spokoino. Ruhe und Besonnenheit, bitte. »Da alle Berichte, die aus Paris, Wien, Berlin, Konstantinopel und St.Petersburg eingetroffen sind, auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges hinweisen, sind die Preise an allen Börsen beiderseits des Kanals allgemein gefallen«, schrieb Karl Marx vor 160 Jahren, am 8. Februar 1854, in der »New-York Daily Tribüne«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 8. März 2014

Es folgen die beiden Artikel:

Pompej war nichts gegen Sewastopol

Vor 160 Jahren tobte Krieg auf der Krim

Von Gerd Fesser *


Ernest Hemingway meinte zu den »Sewastopol-Erzählungen« von Leo Tolstoi, es seien die eindrucksvollsten Kriegsberichte, die er je gelesen habe. Es lag an der Authentizität. Der später weltberühmte Schriftsteller hatte als junger Offizier in der Festung Sewastopol den Krieg hautnah miterlebt.

Die Krim gehörte seit 1783 zu Russland, wurde aber bekanntlich 1954 an die Ukraine verschenkt. Seitdem sie vor einigen Tagen von russischen Truppen besetzt wurde, bewegt viele Menschen die bange Frage, ob es zwischen Russland und der Ukraine zum Krieg kommen werde. Wie vor 160 Jahren.

Damals rechnete Zar Nikolaus I., ein düsterer Despot, mit einem baldigen Zerfall des türkischen Reiches, das offiziell Osmanisches Reich hieß und wollte bei dessen Aufteilung dabei sein. Als erstes forderte er, dass die Türkei Russland die unmittelbare Schutzherrschaft über die griechisch-orthodoxen Untertanen des Sultans übertragen solle. Die türkische Regierung weigerte sich. Daraufhin ließ der Zar im Sommer 1853 die Donaufürstentümer Moldau und Walachei, die unter türkischer Oberhoheit standen, besetzen. Die Türkei erklärte nun, von Großbritannien und Frankreich ermuntert, Russland im November 1853 den Krieg.

Das Vorgehen Russlands kam den Regierenden in Großbritannien und Frankreich gelegen. Das riesige Osmanische Reich war der Hauptabnehmer britischer Industrieerzeugnisse. Die Briten sahen jede Beeinträchtigung der türkischen Souveränität als Angriff auf eigene vitale Interessen an. Die Türkei wurde bereits Ende 1853 zu Lande und zu Wasser geschlagen. Großbritannien und Frankreich erklärten nun im März 1854 Russland den Krieg. Napoleon III. ging es darum, durch einen erfolgreichen Krieg den Anspruch Frankreichs auf eine Führungsrolle in Europa zu bestätigen.

Bei ihrem Entschluss zum Kriege hatte für die britische Regierung auch der Druck der öffentlichen Meinung eine Rolle gespielt. In Großbritannien sah man die Türkei als eine schwache, liberale Nation an, die von einer starken autokratischen Nation angegriffen worden sei. Diese Stimmung wurde durch die antirussisch eingestellte Presse angeheizt.

Von Oktober 1854 bis September 1855 belagerten französische und britische Truppen die Seefestung Sewastopol, den historischen Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Die stoische Standhaftigkeit der russischen Verteidiger von Sewastopol, darunter der junge Tolsto, sollte hernach im Geschichtsbild vieler Russen eine große Rolle spielen. Der Schriftsteller schrieb über die Eingekesselten: »Über ihren Köpfen wölbte sich der Sternenhimmel, über den unaufhörlich die feurigen Streifen der Granaten glitten.«

Dank ihrer großen materiellen Überlegenheit gewannen die französischen und britischen Truppen allmählich die Oberhand. Im September 1855 mussten die russischen Verteidiger Sewastopol aufgeben. Der Kampf auf der Krim hatte gewaltige Opfer verschlungen: 450 000 Russen, 100 000 Franzosen und 20 000 Briten waren gefallen oder an Verwundungen und Krankheiten gestorben. Sewastopol war durch die einjährige Kanonade fast völlig dem Erdboden gleichgemacht. »Das zerstörte Pompeji befindet sich in einem guten Zustand verglichen mit Sewastopol«, notierte Mark Twain, als er bei seiner Reise auf die Krim 1865 den Hauptschauplatz der Kampfhandlungen besuchte. »Hier kann man in jede beliebige Richtung blicken, und das Auge trifft kaum auf etwas anderes als Zerstörung, Zerstörung, Zerstörung! Häuserruinen, zerbröckelte Mauern, zerfetzte und zerklüftete Hügel, Verwüstung überall. Nicht einmal hundert Jahre später, nach der Schlacht um Sewastopol vom 30. Oktober 1941 bis zum 4. Juli 1942, bot die Stadt ein ähnliches Bild.

Im März 1856 musste Russland Frieden schließen. Es durfte fortan im Schwarzen Meer keine Flotte und an dessen Küste keine Festungen unterhalten. Zar Nikolaus I. war noch während des Krimkrieges am 18. Februar 1856 gestorben. Die Niederlage in diesem Krieg verdeutlichte, wie rückständig Russland und wie wenig effektiv sein Staatsapparat und seine Streitkräfte waren. Der neue Zar, Alexander II., war im Unterschied zu Nikolaus lernfähig und für Ratschläge zugänglich. Er begriff, dass es für das Zarenreich eine Existenzfrage war, tief greifende Reformen einzuleiten. Am 4. März 1861 tat er den ersten großen Schritt und hob die Leibeigenschaft auf.

Doch nochmals zurück zum Kriegsgeschehen. Der Krimkrieg war der erste moderne Stellungskrieg. Er forderte zahlreiche Opfer, auch durch Seuchen und Krankheiten sowie eine unsachgemäße Versorgung der verwundeten Soldaten und Zivilisten. Bekannt ist der aufopferungsvolle Einsatz der Florence Nightingale, die zur Begründerin des modernen Sanitätswesen wurde. Im Krimkrieg gab es zudem erstmals Kriegsberichterstatter, die mittels der neuartigen Telegrafie die Öffentlichkeit ohne größere Zeitverzögerung über das Geschehen informieren konnten. Davon profitierten in London auch Karl Marx und Friedrich Engels, die in der »New-York Daily Tribune« allerdings damals die Kriegspartei gegen das Zarenreich, in ihren Augen Hort der Reaktion in Europa, publizistisch unterstützten.

** Dr. Gerd Fesser, Jg. 1941, studierte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig und arbeitete am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Aus: neues deutschland, Samstag, 8. März 2014



An einer kulturellen Grenze

Wie die Kiewer Rus entstand und unterging – Akteur und Objekt eines Ost-West-Konflikts

Von Armin Jähne ***


Im 11. Jahrhundert, während ihrer größten Ausdehnung, umfasste die Kiewer Rus ein Territorium, das vom Schwarzen Meer den Dnjepr aufwärts bis an die Ostsee reichte, im Osten über den Don hinausging und im Westen Gebiete an der oberen Weichsel einschloss sowie im Nordosten an die Nördliche Dwina stieß. Das Kernland bildete die mittlere Dnjeprregion mit Kiew als Herz. In drei Jahrhunderten war ein gewaltiges Reich mit einem großen geopolitischen Potenzial entstanden, das bis heute eine schwer zu leugnende historisch-politische Nachhaltigkeit beweist. Als späte Erben der Rus können sich Russland, die Ukraine und Belarus betrachten. Folglich gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf die Entstehung und historische Rolle dieses mittelalterlichen Staatsgebildes.

Umgeben war die Kiewer Rus von nicht weniger starken Reichen: von Byzanz, dass sich in Nahost bereits der anstürmenden Araber und Türken zu erwehren hatte, dem 1. Bulgarischen Königreich (bis 1018), dessen Einfluss auf die Rus von der russisch-sowjetischen Geschichtsschreibung teilweise verschwiegen wurde, das Khanat der Chasaren im Osten, die Reiche der Ungarn und Polen im Westen. Hinzu kamen die unruhigen Steppenvölker der Petschenegen und Polowzer, die eine ständige Bedrohung darstellten. Insofern befand sich die Rus an der kulturellen Grenze von Asien und Europa und wurde selbst Akteur wie Objekt eines uralten Ost-West-Konfliktes.

Träger der Kultur und Staatlichkeit der Kiewer Rus waren vornehmlich die ostslawischen Völker, deren Zusammenschluss im 9. Jahrhundert sich erstmals in einem Feldzug gegen Byzanz bewährte. Am Ende dieses Jahrhunderts übernahm Oleg die Herrschaft in Kiew (882-911). Er war als Anführer einer Gefolgschaft von Warägern gekommen, um offenbar ein Machtvakuum an der Spitze der Kiewer Gesellschaft auszufüllen. Dieser unbestrittene Umstand hat in Zusammenhang mit der Frage, welche Funktion den Nordmännern bei der Formierung ostslawischer Staatlichkeit zufiel, immer wieder zu Irritationen geführt; er sollte heute jedoch vorurteilsfrei und ohne nationale Empfindlichkeiten beurteilt werden. Am Anfang des Problems steht der zum Symbol gewordene Name Rurik. Dieser Rurik, aus Skandinavien stammend, wurde Fürst von Nowgorod und soll damals die Zwistigkeiten unter den Völkern Nordrusslands beendet haben. Im Grunde genommen hatte sich damit – in jener Zeit nichts Unübliches – lediglich ein Machtwechsel vollzogen. Nicht eine neue politische Struktur war geschaffen, sondern eine bereits vorhandene wieder hergestellt worden. Seit Urzeiten gab es ein Wegenetz aus Flüssen mit dem Dnjepr als Hauptachse, aus Landbrücken, sogenannten Schleppstellen für Boote und kleinere Schiffe, und Seen, das von den Nordmännern genutzt wurde, um in den »griechischen« Süden zu gelangen. Insofern waren die Waräger für die Ostslawen keine Unbekannten, was ihre Integration erleichterte.

Auf Oleg, der Nowgorod, Smolensk und Kiew vereint hatte, folgte Igor, der Sohn Ruriks. Er setzte die aktive Außenpolitik seines Vorgängers fort, unternahm zwei Heerfahrten gegen Byzanz und festigte die Verbindungen zum Chasarenreich. Dessen Besonderheiten bestanden in einer – inmitten von Nomadenvölkern – erstaunlich ausgeprägten städtischen Kultur und dem mosaischen Glauben, der neben Islam und Christentum unter den Chasaren weit verbreitet war. Sollte der Schriftsteller Arthur Koestler mit seiner Hypothese vom dreizehnten Stamm der Judäer – die mosaischen Chasaren – Recht haben, dann wären sie die Vorfahren der späteren osteuropäischen Juden, denn nach dem Zusammenbruch des Khanats am Ende des 10. Jahrhunderts zogen viele der Chasaren mosaischen Glaubens westwärts, wo sie vornehmlich in der Kiewer Rus ansässig wurden, auch als bäuerliche Produzenten.

Igors Frau Olga war eine der ersten aus der Kiewer Führungsschicht, die sich in Konstantinopel taufen ließ. Damit war ein Zeichen gesetzt – für die Zukunft, aber auch in Anerkennung jenes Vorganges, der als Christianisierung von unten bezeichnet werden darf. Seit Längerem schon hatte sich der christliche Glaube in der Bevölkerung der Rus verbreitet: von Byzanz, Bulgarien und dem Chasarenreich her und über den Apostel Andreas, der von der Südküste des Schwarzen Meeres via Krim an die Dnjeprmündung gelangte, flussaufwärts zog und an der Stelle des späteren Kiew, so heißt es, ein großes Holzkreuz aufrichtete. Großfürst Wladimir (980-1015) war es dann, der 988 den entscheidenden und wohlbedachten Schritt vollzog, als er das Christentum zur Staatsreligion erhob. Die Wahl der Konfession war Ausdruck eines gewachsenen Machtbewusstseins der Kiewer Führung. Dabei stand nicht der Glaube im Vordergrund, sondern die Ideologie. Speziell die orthodoxe, die rechtgläubige Art der christlichen Religion, die ihr eigene Unbeweglichkeit, das Starre und Entwicklungsfeindliche, schließlich ihre Totalität entsprachen in höchstem Maße dem Selbstverständnis der feudalen Autokratie, verkörpert im Kiewer Großfürstentum. Ins Gewicht fielen ebenso das rein Äußerliche, ihr Prunk, der den Menschen demütigende Ritus und seine Erhabenheit. Noch wichtiger jedoch war, dass die Ostkirche nicht wie die römische den Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht um Dominanz kannte.

Nach Wladimirs Tod durchlebte die Rus eine erste schwere Krise. Anno Domini 1024 wurde das Reich mit dem Dnjepr als Trennlinie zweigeteilt. Die rechts des Flusses liegenden Gebiete mit Kiew erhielt Jaroslaw, Sohn des Wladimir, die Gebiete links davon sein Bruder Mstislaw. Nach dessen Tod wurde die Rus wiedervereint. Mit Jaroslaw, genannt auch »der Weise«, war ein hochgebildeter Herrscher an die Spitze der Rus gelangt, der ein ausgesprochenes Machtgespür besaß. Zwar blieb nach wie vor die Abwehr der Steppenvölker seine vorrangige Aufgabe, dennoch gelang es ihm mit viel Geschick und ganz auf der Höhe seiner Zeit, die Rus neu zu positionieren, indem er sie dynastisch, politisch und wirtschaftlich mit den Feudalstaaten Westeuropas vernetzte. Für seine Söhne besorgte er Bräute aus dem Norden. Die Lieblingstochter wurde Frau des norwegischen Königs. Eine der Schwestern sollte Polens Herrscher ehelichen. Die Tochter Anna wollte er mit dem späteren Kaiser Heinrich III. vermählen, um so dem Deutschen Reich näher zu kommen. Da Heinrich sich anders entschieden hatte, ging Anna an den französischen Hof. Dafür heiratete einer der Söhne Jaroslaws in die deutsche Dynastie ein. Eine weitere Tochter nahm sich der Ungarnkönig zur Frau.

Nun waren solcherart dynastische Verbindungen nicht ungewöhnlich, zeugen in dieser Dichte aber vom starken Streben Jaroslaws nach europäischer Integration. Einen Rückschlag brachte im Jahr seines Todes das große Schisma, als sich 1054 die Ostkirche mit der römischen Papstkirche entzweite. Der radikale Bruch von Orthodoxie und Katholizismus ist bis heute nicht überwunden.

Mitte des 12. Jahrhunderts schließlich zerfiel die Kiewer Rus. Eine Phase feudaler Zersplitterung begann, in deren Verlauf sich nun Moskau zum neuen politische Zentrum Russlands erhob.

*** Professor Armin Jähne, Jg. 1941, studierte Ende der 1960er Jahre an der Lomonossow-Universität in Moskau und war Dozent für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; er ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.

Aus: neues deutschland, Samstag, 8. März 2014



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