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Geopolitisches Spiel

Aufstand in Kiew: Deutschland und die EU wollen die Ukraine in die eigene Hegemonialsphäre einbinden. Faschistische Gewalt wird dabei in Kauf genommen

Von Jörg Kronauer *

Horst Teltschik ist unzufrieden. »Ja, natürlich«, antwortet der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz auf die Frage, ob eine Spaltung der Ukraine droht. Die Massenproteste eskalieren, scheinen das Land in einen westlichen und einen östlichen Teil zu zerreißen. Das ist gefährlich, warnt Teltschik, ein abgebrühter Außenpolitiker, der einst Kanzler Helmut Kohl (CDU) beriet, im Gespräch mit der Internetplattform EurActiv: An einer Spaltung der Ukraine »kann keiner Interesse haben«. Nicht Rußland, nicht die Bundesrepublik.

Auf den Kampf um Kiew, der seit Ende November auf ukrainischen Straßen und Plätzen tobt, hat Berlin sich lange vorbereitet. Im Prinzip gehe es »um zwei grundsätzliche Fragen«, hatte Theo Sommer, Exherausgeber der Zeit und ehemaliger Leiter des Planungsstabs im Bundesverteidigungsministerium, kurz vor dem EU-Gipfel in Vilnius im Dezember erklärt: »Wo soll die östliche Grenze der EU liegen, wo die westliche Grenze des russischen Einflußgebiets?« Auf diese Fragen gedachten Berlin und Brüssel mit dem EU-Assoziierungsabkommen zu antworten, das die Ukraine in ihre Hegemonialsphäre einbinden sollte. Moskau hingegen warb in Kiew für seine Eurasische Union. Klar war: Beide Seiten suchten nach jahrelangen Auseinandersetzungen nun endlich eine abschließende Entscheidung herbeizuführen. Und was geschah? Unmittelbar vor dem EU-Gipfel in Vilnius gab Kiew Berlin und Brüssel einen Korb.

Das Assoziierungsabkommen war freilich nicht das einzige Eisen, das die Bundesrepublik im Machtkampf um die Ukraine im Feuer hielt. Seit Wiktor Janukowitschs Wahlsieg vom Februar 2010 schien Rußland leicht im Vorteil zu sein. Berlin stützte sich weiter auf Julia Timoschenko, verließ sich aber nicht allein auf sie. Im April 2010 gründete Witali Klitschko die Partei Udar (»Schlag«), die er mit intensiver Unterstützung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung aufbaute. Spätestens seit Anfang 2011 hielt Klitschko, in Kiew der »Mann der Deutschen«, auch Kontakt zum Auswärtigen Amt. Anfang 2012 begann die Adenauer-Stiftung dann auszuloten, ob man zusätzlich zu Klitschko auch auf die wohl erbittertsten Feinde Rußlands in der Ukraine bauen könne. Am 24. Februar 2012 lud sie, gemeinsam mit dem »National Democratic Institute« und dem »International Republican Institute«, die Vorsitzenden der wichtigsten Oppositionsparteien zu einem »Expertengespräch«. Mit dabei: Oleg Tjagnibok, der Vorsitzende der antirussischen Faschistenpartei Swoboda. Bei dem Treffen ging es, wie die Bundesregierung in der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion bestätigte, um »die Zukunft der ukrainischen Opposition«.

Nach der Parlamentswahl am 28. Oktober 2012 bildete sich das Oppositionsbündnis heraus, das man seit Ende 2013 von den Kiewer Massenprotesten kennt: das Bündnis von Klitschko mit Arseni Jazenjuk aus der Timoschenko-Fraktion und mit Tjagnibok. Berlin und Brüssel haben diesen Pakt systematisch gestärkt – gerade auch durch den Ausbau ihrer Beziehungen zu Swoboda. Am 23. Dezember 2012 lud der erste Botschafter eines EU-Staates – es war Litauen – Tjagnibok zum persönlichen Gespräch. 2013 folgten Treffen mit den Botschaftern weiterer EU-Staaten und der USA, am 29. April ein Gespräch mit dem Botschafter Deutschlands. Man habe sich über die »Notwendigkeit« ausgetauscht, »das Assoziierungsabkommen mit der EU« zu unterzeichnen, und über »Auswege aus der politischen Krise« diskutiert, teilte Swoboda anschließend mit. Tjagnibok habe vorgeschlagen, die »internationale Gemeinschaft« solle helfen, »die Herrschaft des Volkes durchzusetzen und das anti-ukrainische Regime zu stürzen«.

Die Kontakte wurden weiter ausgebaut, gerade auch nach Deutschland. An »Studienreisen« für ukrainische Parlamentarier nach Berlin, die die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) organisierte, nahmen auch Abgeordnete von Swoboda teil. Eine Swoboda-Aktivistin durfte bei der Adenauer-Stiftung die Seminarreihe »Höhere Schule der Politik« besuchen, wenngleich sie sich als Mitglied einer Nichtregierungsorganisation anmelden mußte – so sah’s halt besser aus. Klitschko sprach sich im Juni und im Oktober 2013 mit Außenminister Guido Westerwelle (FDP) persönlich ab. Die Beziehungen nahmen an Intensität zu.

Als sich dann die ukrainische Regierung gegen das Assoziierungsabkommen entschied und sich in Kiew erste Proteste entzündeten, da setzten die Bundesrepublik und die anderen westlichen Staaten alles auf eine Karte – auf Janukowitschs Sturz. Wurde auf dem Maidan zunächst nur die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens gefordert, so änderte sich dies, als Klitschko, Jazenjuk und Tjagnibok von Gesprächen am Rande des EU-Gipfels in Vilnius heimkehrten. Erstmals habe das Führungstrio der Opposition nun »intern vorgetragen«, berichtete die FAZ, »ihr Ziel sei ein politischer Machtwechsel: Rücktritt der Regierung, vorgezogene Parlamentswahl«. Daß Swoboda in den Straßenprotesten, mit denen dies erzwungen werden sollte, eine herausgehobene Rolle spielen würde, das muß allen Beteiligten klar gewesen sein. Schließlich verfügen auch in der Ukraine nur die wenigsten über die geballte Demonstrations- und teils auch Wehrsporterfahrung, auf die man bei Aktivisten einer faschistischen Partei eben zuverlässig bauen kann.

Tatsächlich haben Swoboda und andere faschistische Organisationen ihre Fähigkeit bewiesen, die Proteste in Kiew mitzutragen und sie vor allem auch exzessiv eskalieren zu lassen – und sie haben ihre Stellung im Land damit deutlich gestärkt. Der Westen, der das Aktionsbündnis mit ihnen seit 2012 vorbereitet hat, hat bislang zuverlässig seine schützende Hand über sie gehalten: »Kein Vermummungsverbot!«, »Keine Polizeigewalt!«, »Amnestie!«, so lauteten stets die Forderungen aus Berlin, Brüssel und Washington. Schließlich geht es in Kiew um »ein neues und großes geopolitisches Spiel« (Theo Sommer), das kurz vor der Entscheidung steht und gewonnen werden soll – mit welchen Mitteln auch immer. Faschistische Gewalt nimmt Berlin dabei offenkundig in Kauf. Nur eine Grenze gibt es: Das Ziel des »geopolitischen Spiels« darf nicht in Gefahr geraten. Daran erinnert Horst Teltschik: Die Spaltung der Ukraine, die mittlerweile droht, gilt es unbedingt zu vermeiden. Denn langfristig, so sieht es Teltschik, »gehört die Ukraine in die Europäische Union« und nicht in ein eurasisches Bündnis. Und zwar die ganze Ukraine.

* Aus: junge Welt, Montag, 3. Februar 2014


Militärkooperation mit Kiew

Von Jörg Kronauer **

Am 22. Januar stach die Fregatte »Hetman Sagaidachny« in See. Während von den Protesten in Kiew die ersten Toten gemeldet wurden, verließ das ukrainische Kriegsschiff den Militärstützpunkt in Djibouti und startete seine zweite Patrouillenfahrt im Golf von Aden. Am 3. Januar war es in die EU-Operation »Atalanta« eingegliedert worden, die vor dem Horn von Afrika die Piraterie bekämpft. Die Ukraine, so lautet die Botschaft, ist bereit, die EU-Militärpolitik mit eigenen Truppen zu unterstützen. Präsident Wiktor Janukowitsch hat die »Hetman Sagaidachny« trotz des Machtkampfs mit dem Westen nicht zurückgezogen. Schon 2011 hatte er auch die Integration ukrainischer Soldaten in eine EU-Battle Group gebilligt. Dies könne sich, hieß es anläßlich des EU-Gipfels in Vilnius, 2014 und 2016 wiederholen.

Einerseits führen damit jahrelange deutsche Bemühungen militärpolitischer Art zum Erfolg. So betreibt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) seit 1993 einen »Streitkräftedialog« mit der Ukraine. Ziel sei es, »einen erfolgversprechenden Zugang zu hochrangigen, wenn möglich noch jungen militärischen Führern der Streitkräfte zu schaffen«, erläutert die SWP. Unter anderem gehe es darum, »einen kritischen Dialog über aktuelle außen- und sicherheitspolitische Themen« herzustellen. Damit fördere man das »Interesse« an einer »bilateralen Kooperation im Verteidigungsbereich«. An einer Kooperation der Ukraine mit Deutschland, wohlgemerkt, nicht an einer Kooperation mit dem Westen ganz allgemein.

Denn andererseits zielt Berlin gezielt darauf ab, ukrainische Truppen ganz speziell für Operationen der EU zu nutzen. Den NATO-Beitritt der Ukraine, den Washington lange Zeit durchsetzen wollte, hat die Bundesrepublik verhindert – natürlich nicht, weil sie die Kooperation mit den ukrainischen Streitkräften ablehnen würde, sondern weil sie sie für EU-Operationen einsetzen will. Dies gelingt ihr inzwischen. Die »Hetman Sagaidachny« liefert dafür ein prägnantes Beispiel: Als sie sich am 3. Januar in die EU-Operation eingliederte, hatte sie soeben die Operation »Ocean Shield« verlassen. Das ist die parallel zu »Atalanta« durchgeführte NATO-Intervention gegen Piraterie.

** Aus: junge Welt, Montag, 3. Februar 2014

Warnungen vor Klitschko-Fixierung

Berliner Außenpolitikexperten gehen davon aus, daß der Abschluß des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Kiew gravierende Folgen für die ukrainische Bevölkerung gehabt hätte. Bereits im November hieß es in einer Publikation der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), »die Umsetzung des Abkommens« werde »scharfe und zum Teil äußerst schmerzhafte Anpassungen« erforderlich machen. Die aktuelle Ausgabe der DGAP-Zeitschrift Internationale Politik bestätigt nun, die ukrainische Wirtschaft sei zu großen Teilen »kaum wettbewerbsfähig«. Wäre das Assoziierungsabkommen im November geschlossen worden, dann wären mit der Öffnung der Märkte umgehend »enorme Anpassungskosten angefallen und die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt«. Vermutlich wären schon »innerhalb eines Jahres die Zustimmungsraten« nicht nur »zu Präsident Janukowitsch«, sondern auch »zu einer Integration mit der EU… massiv gesunken«.

In deutschen Thinktanks werden Warnungen laut, die massive Fokussierung der Berliner Außenpolitik auf die Proteste in Kiew und insbesondere auf Witali Klitschko könne auf lange Sicht zu Schwierigkeiten führen. So sei die demonstrativ »einseitige« Unterstützung für Klitschko bereits »als unerwünschte Einmischung wahrgenommen« worden, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus der DGAP. Außerdem müsse man stärker realisieren, wo die tatsächliche Macht in der Ukraine liege: Die EU-Staaten täten gut daran, »als Grundlage ihres außenpolitischen Handelns gegenüber der Ukraine die entscheidende Rolle und die unterschiedlichen Interessen der großen Oligarchen-Gruppen« des Landes zu erkennen. Die Oligarchen stünden »nicht geschlossen hinter Präsident Janukowitsch«. Einige von ihnen sympathisierten mit den Protesten, »denn sie sehen sich durch den Einfluß der russischen Oligarchen bedroht«. Eine »internationale Öffnung ihres Landes, auch gegenüber der EU«, komme den ökonomischen Interessen mancher von ihnen sogar entgegen. (jk)




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