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Sturmzeichen über der Ukraine

Fortgesetzte unkritische Parteinahme des Westens für die Opposition ist kontraproduktiv

Von Manfred Schünemann *

Nach den relativ ruhigen politischen Grabenkämpfen während der Feiertage zum Jahreswechsel stehen die Zeichen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew wieder auf Sturm.

Am Wochenende eskalierten die Protestaktionen der Opposition, gewaltbereite Oppositionsgruppen griffen massiv die Sicherheitskräfte an. Bei diesen Gruppierungen handelt es sich vor allem um Anhänger radikal-nationalistischer Organisationen aus der Westukraine, die der Partei »Swoboda« (Freiheit) nahe stehen. Durch Gewaltaktionen gegen Gedenkveranstaltungen anlässlich der Befreiung von der Naziokkupation, durch die Zerstörung von Denkmälern aus der Sowjetzeit und Attacken gegen Veteranen der Sowjetarmee traten sie bereits wiederholt in Erscheinung.

Bisher wurden diese Kräfte von den anderen Oppositionsparteien wohlwollend in die Proteste gegen die Regierung einbezogen, Gewaltaktionen wurden in Kauf genommen. Spätestens die tätlichen Angriffe auf Vitali Klitschko am vergangenen Wochenende sollten zu einer Änderung dieser Haltung und zu klarer Abgrenzung von gewaltbereiten Kräften führen.

In den zurückliegenden Wochen gerieten die ursprünglichen Ziele der Proteste – sofortige Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, Rücktritt der Regierung, vorzeitige Präsidentschaftswahlen, Freilassung Julia Timoschenkos – immer mehr in den Hintergrund. Die Oppositionsparteien mussten erkennen, dass Aktionen auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew nicht ausreichen, um im ganzen Land eine Volksbewegung gegen Präsident Viktor Janukowitsch und die Regierung unter Mikola Asarow zu initiieren. Andererseits erfüllte sich auch die Hoffnung des Regierungslagers nicht, dass sich die Proteste über die Feiertage von selbst auflösen würden und die Opposition dann bereit wäre, in einen ernsthaften Dialog über die Politik gegenüber der EU und Russland einzutreten.

Beiden Lagern fehlt es offensichtlich an realistischen Konzepten zur Beendigung der politischen Krise. Das bisherige Vorgehen zeugt vielmehr von Mangel an Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Die chaotisch verlaufene Parlamentssitzung in der vergangenen Woche bewies dies erneut. Seit Wochen blockieren die Oppositionsparteien eine ordnungsgemäße Parlamentsarbeit und scheuen auch rechtswidrige Aktionen nicht. So wurde Parlamentspräsident Wolodymyr Rybak in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, Abstimmungskarten von Abgeordneten der Regierungspartei wurden entwendet. Daher wurden die Gesetze über den Staatshaushalt 2014, zur Strafrechtsänderung und zur stärkeren Kontrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen teilweise unter Umgehung der Geschäftsordnung verabschiedet. Die scharfe Reaktion der Opposition und des Westens ließ nicht auf sich warten: Die neuen Gesetze wurden als »Eingrenzung fundamentaler Bürgerrechte«, Schritt zur »Errichtung eines diktatorischen Regimes« und Abkehr von den »demokratischen Grundwerten Europas« gewertet. Radikale Oppositionspolitiker sehen in den neuen Gesetzen gar einen »Rückfall in die Stalinzeit«.

Eine Lösung der innenpolitischen Krise wird angesichts der jüngsten Ereignisse immer weniger wahrscheinlich. Viele Zeichen deuten auf eine Dauerkonfrontation bis zur Präsidentenwahl 2015. Deren Ausgang ist offen, denn die Wählerpotenziale beider Lager sind seit Jahren etwa gleich stark. Selbst bei einem Wahlsieg der jetzigen Opposition bliebe die tiefere Ursache der Krise, die Zerrissenheit der Gesellschaft in Sachen Weg und Ziel des Wandels seit Erlangung der Unabhängigkeit, unverändert bestehen. Wohl ist sich die Gesellschaft weitgehend einig, was die Eigenständigkeit der Ukraine und ihren »Kurs der europäischen Orientierung« betrifft. Dieser Kurs gehört seit der Amtszeit des Präsidenten Leonid Kutschma (1994-2005) zu den Grundsätzen der ukrainischen Politik. Doch immer noch fehlt ein nationaler Konsens über die konkrete Ausgestaltung.

Realistisch betrachtet, wird sich daran in absehbarer Zeit nichts Wesentliches ändern. Zu groß sind die geistig-kulturellen Unterschiede zwischen der Masse der Bevölkerung im Osten und den Ukrainern im Westen des Landes, wie sich immer wieder an der Haltung zu Russland zeigt. Dazu kommt die Verflechtung großer Teile der ukrainischen Wirtschaft mit Russland, die nicht nur im Energiebereich zu gravierenden Abhängigkeiten führt.

Jeder realistische Politikansatz muss diesen unterschiedlichen Befindlichkeiten Rechnung tragen und um einen nationalen Konsens in den Hauptfragen der Gesellschaftsentwicklung und der Bindungen des Landes an Ost und West bemüht sein. Nur sind bisher leider alle politischen Kräfte in der Ukraine diesbezüglich ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie hatten oder haben stets nur das eigene Machtstreben oder ihren Machterhalt im Auge, was zu Politikverdrossenheit, Misstrauen und politischer Instabilität geführt hat.

Wesentliche Verantwortung für die anhaltende innenpolitische Konfrontation in der Ukraine tragen die USA, die EU und auch Russland mit einer Politik, die Kiew stets vor die Entscheidung stellt, sich entweder für den Westen oder für Russland zu entscheiden. Dazu unterstützen sie jeweils »ihre« politischen Kräfte im Lande finanziell, logistisch und medial. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat bei seinem Amtsantritt im Auswärtigen Amt zu Recht betont, dass sich »die Europäer mit Blick auf die Ukraine-Politik auch an die eigene Nase zu fassen haben« und sich fragen müssen, »ob wir nicht gesehen haben, dass es dieses Land überfordert, wenn es sich zwischen Europa und Russland entscheiden muss«.

Die Frage ist völlig berechtigt. In der praktischen Politik werden die einseitige Schuldzuweisung an die Regierung in Kiew und die unkritische Parteinahme für die Opposition jedoch unverändert fortgesetzt. Das zeigen die offiziellen Stellungnahmen aus Berlin, Brüssel und Washington zur jüngsten Entwicklung.

Die EU und auch die deutsche Politik haben immer noch keine sachliche Analyse der Ursachen des Scheiterns des Assoziierungsabkommens vorgenommen und keine realistischen Konzepte zur Einbindung der Ukraine entwickelt. Ein Ansatz könnten die von Janukowitsch vorgeschlagenen Dreierverhandlungen zwischen der EU, der Ukraine und Russland sein. Die Ergebnisse solcher Verhandlungen könnten ein wesentlicher Beitrag zur Lösung der Krise und zur dauerhaften Stabilisierung der ukrainischen Gesellschaft sein. Dazu dürfte man sich freilich nicht allein auf das Schmieden einer »Einheitsfront« der Opposition und die Forderung nach einem gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten konzentrieren, sondern müsste die Opposition auffordern, die demokratisch legitimierte staatliche Ordnung zu respektieren, extremistische Kräfte zu isolieren und einen nationalen Dialog über Grundfragen der Gesellschaftsentwicklung zu beginnen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 21. Januar 2014


Chaos in Kiew

Ukrainische Nationalisten liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei

Von Reinhard Lauterbach **


Die ukrainische Hauptstadt Kiew war am Sonntag und in der Nacht zum Montag Schauplatz der größten Straßenschlachten seit der Unabhängigkeit des Landes vor 22 Jahren. Nachdem am Sonntag mittag eine der routinemäßigen Demonstrationen der EU-Anhänger mit etwa 100000 Teilnehmern begonnen hatte, lösten sich am frühen Nachmittag einige tausend radikale Nationalisten aus der Menge und versuchten, das Regierungsviertel zu stürmen. Es liegt auf einem Hügel oberhalb des Unabhängigkeitsplatzes. Auf der Gruschewskistraße vor dem Stadion des Fußballklubs Dynamo Kiew kam es zu stundenlangen Straßenschlachten. Die gut organisierten Militanten – ihre Unterstützer rissen im Umkreis von mehreren hundert Metern Pflastersteine heraus, zerkleinerten sie in wurfgerechte Stücke und gaben sie nach »vorn« weiter – warfen Steine und Molotowcocktails auf die Polizei; die schoß Blend- und Gasgranaten sowie Gummigeschosse zurück. Die Zahl der Verletzten – auf beiden Seiten ungefähr gleich viel – wurde am Montag vormittag mit 200 angegeben. Nach Angaben der Opposition soll ein Demonstrant ein Auge verloren haben, einem anderen habe eine Blendgranate der Polizei eine Hand abgerissen. Die Fahrzeuge, mit denen die Polizei die Straße ins Regierungsviertel abgesperrt hatte, gingen in Flammen auf. Reporter bezeichneten den Ausgang der Kämpfe am Montag als unentschieden: Weder sei es den Angreifern gelungen, die Polizeikette zu durchbrechen, noch habe diese die Menge zerstreuen können.

Die beispiellose Eskalation der Gewalt am Sonntag macht deutlich, daß die parlamentarischen Oppositionsparteien mit ihrer Strategie in Richtung vorgezogener Neuwahlen einen Teil der Demonstranten nicht mehr überzeugen. Als Exboxweltmeister Witali Klitschko zu Beginn der Auseinandersetzungen versuchte, persönlich für eine Deeskala­tion der Situation zu sorgen, wurde er von den Nationalisten ausgebuht und mit Feuerlöschschaum bespritzt. Erst nach Klitschkos Drohung, dem nächsten, der ihn anrühre, persönlich aufs Maul zu hauen, ließen ihn die behelmten und mit Eisenstangen bewaffneten Demonstranten wieder abziehen – und machten weiter wie gehabt. Russische Medien, die die Vorgänge in der Ukraine ohne besondere Sympathie beobachten, kamen nicht umhin, Klitschkos persönlichen Mut zu würdigen. Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei distanzierte sich in sicherer Entfernung auf dem Maidan von den Ausschreitungen und nannte sie eine »Provokation« der Regierung – was wiederum ein Vertreter der Radikalen zurückwies, dem der US-Sender Radio Liberty Gelegenheit zu einem Statement gab. Die Fiktion der einheitlichen Volksbewegung gegen Präsident Wiktor Janukowitsch ist jedenfalls dahin.

Auslöser der neuerlichen Eskala­tion waren Vorgänge im ukrainischen Parlament am vergangenen Donnerstag. Da hatte die Regierungsmehrheit mit den Stimmen der Kommunisten und einiger fraktionsloser Abgeordneter eine Reihe von Verschärfungen des Versammlungsrechts beschlossen. Mit manchen dieser Regelungen schließt die Ukraine zu bundesdeutschen Standards auf: etwa mit einer Bannmeile um die Sitze von »Verfassungsorganen« und dem Verbot von Vermummung und passiver Bewaffnung (Schutzhelme) auf Demonstrationen. Andere Bestimmungen orientieren sich an russischen Vorbildern, wie die Forderung an »Nichtregierungsorganisationen«, ihre ausländischen Sponsoren offenzulegen. Die Abstimmung verlief chaotisch und unter Handgreiflichkeiten. Daß das Chaos wesentlich ihr eigenes Werk war, hinderte die Opposition nicht daran, später zu behaupten, die Gesetze seien unter Verletzung der parlamentarischen Geschäftsordnung beschlossen worden.

Auf Präsident Janukowitsch machten die Unruhen vom Sonntag erkennbar Eindruck. Noch in der Nacht lud er die Oppositionsvertreter zu Verhandlungen über eine Beendigung der Krise im Lande ein. Nach bisher unbestätigten Angaben von Oppositionspolitikern soll er auch angeboten haben, die Gesetze von letzter Woche vorerst nicht in Kraft treten zu lassen.

Daß die Gewalt am Sonntag eindeutig von der Oppositionsseite ausging, hinderte deren politische Patrone in Westeuropa und Übersee nicht daran, ein weiteres Mal der ukrainischen Regierung Zugeständnisse abzuverlangen. Die USA drohten mit Sanktionen, falls die »antidemokratischen« Gesetze nicht zurückgenommen würden.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 21. Januar 2014


Kiews letzter Ausweg ist Dialog

Klaus Joachim Herrmann über Gewalt im Richtungsstreit der Ukraine ***

Brutale Gewalt hat unübersehbar in den ukrainischen Konflikt Einzug gehalten. Geht das so weiter, wird es Tote geben. Sicher ist keine Seite allein in Haftung zu nehmen. Nicht alle Demonstranten sind friedlich, nicht alle Polizisten Ordnungshüter, nicht alle Anliegen von Regierung, Opposition oder etwas ferner Beteiligten sind allzeit edel.

Weiter tobt der große Richtungsstreit. Die Ziele der Beteiligten bleiben entgegengesetzt. Die einen wollen die Ukraine nach Europa, andere sie nach Osten ziehen – das bleibt die strategische Machtprobe der USA und der EU mit Russland. Das ist auch der Konflikt einer gespaltenen ukrainischen Bevölkerung, und in Kiew will die Opposition ultimativ per Neuwahl an die Macht. Die Regierenden wollen mit Macht dort bleiben.

Unversöhnlichkeit und stures Beharren haben bislang die Auseinandersetzung geprägt. Der Westen kann nicht mit Russland und Janukowitsch. Der Präsident kann nicht mit Klitschko. Nicht miteinander können Demonstranten und die Polizei – schon gar nicht gewalttätige Extremisten. Die sehen ihre Stunde der Knüppel und Molotow-Cocktails gekommen. Mit provokanter Einseitigkeit hat auch der Westen eine Lage angeheizt, die nun außer Kontrolle gerät. Dialog ohne Vorbedingungen wäre jetzt vielleicht noch letzter Ausweg – es hätte schon der erste sein müssen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 21. Januar 2014 (Kommentar)


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