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"Der Krieg ist in Gang gekommen"

Andrej Kurkow wohnt nur 500 Meter weit vom Majdan und hat ein "Ukrainisches Tagebuch" verfasst

Von Irmtraud Gutschke *

Ein Augenzeuge: Am 21. November 2013 beginnt das Tagebuch, am 24. April 2014 endet es. Der Beginn wird vom Absturz eines Meteoriten über Sewastopol markiert und gleich mit dem Hinweis verknüpft, Russland baue künstliche Meteoriten, um die USA zu bombardieren. Aber denkwürdig wurde dieser 21. November vor allem durch die Erklärung des damaligen ukrainischen Premiers Asarow, man werde die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzen. »Gegen Abend versammelten sich die ersten Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Majdan«, schreibt Andrej Kurkow. Er geht ins Café Jaroslawna, nimmt einen Kaffee und 50 Gramm Cognak und öffnet, wieder zu Hause, facebook. Dort machen schon Aufrufe die Runde, zum Maidan zu gehen, warme Sachen, Isomatten, heißen Tee und Proviant mitzubringen. Keine Verwunderung bei ihm, wie sich das so plötzlich organisierte? Wer in einen Krieg zieht, glaubt sich schnellem Siege nahe. Ja, leider, Andrej Kurkow zieht in einen Krieg.

Man erwarte also von diesem Tagebuch nicht distanzierte Analyse, nicht mal tiefer gehende Reflexion. Geboten wird Stellungnahme. Kaum Fakten, die man nicht schon aus verschiedenen Nachrichtenkanälen kennen würde. Gern wüsste man mehr über Hintergründe – bei der Lektüre erstaunt die Fraglosigkeit. Es ist wirklich ein Bericht von innen heraus. Das Tagebuch gibt Stimmungen wieder. An jenem 21. November war es Enttäuschung von Hoffnungen, die Janukowytsch selber genährt hatte. Man würde also nicht nach Europa gehen, nicht in die lichte Zukunft, sondern in eine Vergangenheit zurücksinken, in der man sich allzu lange gefangen fühlte. Europa als Traumbild von einem Leben in Wohlstand und Ordnung, als eine Art Paradies, dem man lediglich beizutreten brauchte, als geräte ein armes, überschuldetes Land im neoliberalen System nicht noch unter zusätzlichen Druck. Den allerdings bekäme die Masse der Bevölkerung zu spüren, weniger die kleine Schicht der einigermaßen Wohlhabenden, die bereits zum Westen Verbindungen hat.

Andrej Kurkow erzählt, wie er zur Buchmesse nach Leipzig und zu einem Literaturtreffen nach Paris reist, wie er mit dem deutschen und dem französischen Botschafter speist. Er ist ein weltläufiger Mann, spricht sieben Fremdsprachen, ist Mitglied des Londoner PEN-Clubs, hat eine Zeit lang in London gelebt und hätte nun mit seiner Familie in Kiew auch gerne ein westeuropäisches Umfeld.

»Der Krieg ist in Gang gekommen«, schreibt er auf Seite 122. Das klingt ungerührt, fast befriedigt. »Der Majdan bittet um Glasflaschen für Molotowcocktails«, heißt es drei Seiten weiter. Dabei schätzt er doch Kiew als »eine ruhige, tolerante Stadt«, die man durch Aufmärsche und Megafonparolen nicht aufrühren sollte (62). Nur müsse sich das Land eben von »Amoralität und Korruption« reinigen (132), er möchte, dass es »ein Rechtsstaat« ist (149). Doch erst einmal fallen Schüsse, gibt es Straßenblockaden, die Metro ist gesperrt. Und es stört ihn, dass die Mehrheit der Bevölkerung nur Zuschauer ist.

Es ist nun mal so: »Revolutionäre« denken immer zuerst an ihre Ziele und kaum an die Menschen, in deren Namen sie zu agieren trachten. »Wo gehobelt wird, fallen Späne« – der Ausspruch stammt nicht von Stalin, entspricht aber einem Denkmuster der Zeit. Sowjetische Ideologie, die sich umkehrt in Rigorismus für die Freiheit?

Andrej Kurkow wurde 1961 im Gebiet Leningrad geboren und lebt seit frühester Kindheit in Kiew. 1983 machte er am Staatlichen Pädagogischen Fremdspracheninstitut seinen Abschluss. Seinen Wehrdienst leistete er als Gefängniswärter in Odessa. Er wurde Kameramann, begann Drehbücher zu schreiben, nach denen 17 Filme gedreht worden sind. Noch größer ist die Zahl seiner Romane. Mehrere sind in Übersetzungen bei Diogenes und die zwei jüngsten – »Der wahrhaftige Volkskommandeur« und »Der unbeugsame Papagei« bei Haymon erschienen. Er liebt Ironie und Satire, das Absurde und Groteske, nutzt sie, um darzustellen, wie die »Sowjetmenschen damals dachten und lebten«. Unerhört reich an phantastischen Einfällen, versinnbildlicht er Zeitkolorit, wozu auch tieferes historisches Verständnis gehört. Aber oft genug ist es ja vorgekommen, dass der Künstler und der Politiker im Schriftsteller zwei verschiedene Menschen sind.

Außerdem: Wer 500 Meter vom Maidan wohnt, wird gern zu Lesungen und Diskussionen eingeladen, ein freiberuflicher Schriftsteller muss auf dem Markt agieren. Möglicherweise hat der Verlag zur Veröffentlichung des Tagebuchs geraten. Damit lassen sich viele Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum organisieren. Allerdings ist die Zeit auch etwas darüber hinweggegangen. Die Protestierenden auf dem Majdan haben nun einen neugewählten Präsidenten, aber ihr Ziel ist in weite Ferne gerückt. Was soll die EU mit einem Land im Kriegszustand? Krieg wurde jedoch von vornherein in Kauf genommen. »Weg mit der Bande« – Kurkow spricht von einem »Partisanenkrieg gegen die Macht« und macht sich dabei, wahrscheinlich ungewollt, einen sowjetischen Mythos zunutze, wie überhaupt das Szenario heutiger »Revolutionen« mit diesen Mythen spielt. Sie erscheinen als Aufstände von Unterdrückten gegen autokratische Herrscher. Gegen solche vornehmlich, die sich bestimmten geopolitische Interessen verweigern.

Dass es bezüglich der Ukraine um ein internationales Tauziehen geht, scheint Kurkow nicht bewusst zu sein. Das gehört ebenfalls zum Selbstverständnis und zur öffentlichen Inszenierung solcher »Revolutionen«: Alles wirkt wie aus sich selbst erwachsen, ganz spontan – und ist doch »auf Außenwirkung aus«, wie Kurkow immerhin feststellt. Der Maidan: Volksfest und Chaos. Popstars und Touristen kommen. Die Familie könnte zeitweise zu Freunden aus England oder Kanada ziehen. »Vielen Dank. Aber hier ist es spannender«, beantwortet die Frau solche Einladungen.

Man beobachtet ja gern, wie die Verhältnisse zu tanzen beginnen. Die Lektüre lässt eintauchen in eine Atmosphäre emotionaler Überhitzung, die auch manches im Agieren heutiger Kiewer Machthaber erklärt. Man kann es als Vorzug des Buches sehen, diese Denkweise zu spiegeln, mithin den eigenen Vorstellungen einen Kontrast zu geben. Man wird in Bewegung gebracht, für sich etwas zu durchdenken und zu recherchieren.

Ukrainische Unabhängigkeitsbewegungen gibt es ja schon lange, mit dem Nationalbegriff ist es schwieriger, weil die südlichen und östlichen Gebiete der heutigen Ukraine seit dem 17. Jahrhundert russisch waren, die Kern-Ukraine wurde als »Kleinrussland« bezeichnet, Kiew war ein wichtiges Zentrum im Zarenreich. Die westlichen Gebiete gehörten zum Habsburgerreich und sind entsprechend geprägt. Lemberg/Lwow/ Lwiw zum Beispiel ist mal österreichisch, mal polnisch gewesen und kam erst 1945 zur Ukrainischen SSR.

Bei so verschiedenen Traditionen liegt eine Föderalisierung des Landes eigentlich auf der Hand. Das würde doch nicht den Zerfall des ukrainischen Staates bedeuten, sondern wäre erst einmal auch einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg. Es wäre eine »Tschechowsche Lösung«, wie sie der israelische Schriftsteller Amoz Oz auch im Nahostkonflikt als Hoffnung sieht: Alle wären ein bisschen traurig, weil keiner ganz erreicht hätte, was er wollte, aber alle sind am Leben geblieben.

Aber Tschechow war Russe, und Putin schlägt ja schon lange eine Föderalisierung der Ukraine vor. Will er sich die Ostukraine einverleiben, werden prorussische Truppen gar gen Kiew marschieren, wie Andrej Kurkow auf Seite 172 zu verstehen gibt?

Was von hier aus wie Paranoia wirkt, hat historische Wurzeln. Die »Ukrainische Volksrepublik«, im November 1917 gegründet, schloss im Februar 1918 einen Separatfrieden mit den »Mittelmächten«. Deutschland und Österreich-Ungarn marschierten mit Truppen ein und unterstützten eine nationalistische Politik. Die Gründung der Ukrainischen SSR war eine Folge der Eroberung durch die Bolschewiki.

Historische Wurzeln hat aber auch, dass die Menschen in der Ostukraine sich vor einer Kiewer Regierung fürchten, die alles Russische diskriminieren will (dazu kein Wort im Tagebuch des Autors, der doch Russisch schreibt), die einen Fackelzug für Bandera unterstützt und den Rechten Sektor für ihre Zwecke nutzt. Ob Kurkow das versteht? Wie auch immer, er bedauert, dass der Geheimdienst SBU nicht schon früher ein Auge auf prorussische Aktivisten hatte und begrüßt es, wenn nun Truppen in den Osten und Süden des Landes geschickt werden. Er schlägt sogar vor, in der Ukraine vorerst keine Literaturpreise zu vergeben, weil die Mittel für das Verteidigungsministerium gebraucht werden.

Aber wie soll die Ukraine als Ganzes weiterbestehen, wenn die Regierung gegen Landesteile im Osten Waffen einsetzt? Die Bevölkerung dort wird es nicht vergessen, man wird nie wieder Frieden haben. Oder will man gar eine russische Intervention provozieren, um die ungeliebten Landesteile loszuwerden?

Ist dieser Band womöglich kein Tagebuch, sondern ein Kunstwerk Kurkowscher Art? Eine subversive Provokation für den Leser, um zu solchen Gedanken zu kommen, wie sie mir durch den Kopf gingen? Wenn man die Unterzeile »Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests« in »Aufzeichnungen vom Beginn eines Krieges« ändert, begreift man: Es ist ein denkwürdiges Dokument.

Auf Seite 210 ist zu lesen, dass der Autor zu einer Sitzung des Aufsichtsrats der »Soros-Stiftung« geht. Dazu kein Wort in den fast 40 Seiten Anmerkungen, die allerdings mit einem knappen Satz zu »Aspen Ukraine« beginnen, »einer international vernetzten Denkfabrik«. Die steht auch mit George Soros im Zusammenhang. Weiterlesen per Internet.

Andrej Kurkow: Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests. Aus dem Russischen von Steffen Beilich. Haymon Verlag. 280 S., geb., 17,90 €.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 24. Juni 2014


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