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"Die Ukraine ist tot"

Nach dem Angriff auf das Gewerkschaftshaus in Odessa: Hunderte besuchen den Ort des Pogroms vom 2. Mai. Viele sagen: mit denen in Kiew geht nichts mehr

Von Reinhard Lauterbach, Odessa *

Morgens um kurz nach sieben sind auf dem weitläufigen Platz vor dem Odessaer Gewerkschaftshaus schon einige Dutzend Menschen versammelt. Sie stehen stumm vor den verkohlten Balken der massiven Eingangstüren, schauen in das verwüstete Vestibül, legen Blumen nieder, entzünden Kerzen. Ein Besucher vom Vortag hat einen Sinn für bittere Ironie bewiesen: Auf seinem Blumenstrauß schmilzt eine Tafel Schokolade der Firma Roshen, die dem Präsidentschaftskandidaten Petro Poroschenko gehört, vor sich hin: 78 Prozent Kakao, extra bitter. Nimm das, Dreckskerl, ist die implizite Botschaft.

Tausende Sträuße roter Nelken liegen vor dem massiven Bau im sowjetischen Klassizismus, der 1948 für das Gebiets­parteikomitee errichtet wurde, und ständig kommen im Laufe des Tages Leute vorbei, die neue Blumen dazulegen: Mütter mit Kindern, Leute auf dem Weg ins Büro, Jugendliche. Eine der Besucherinnen des Orts schon am frühen Morgen, eine ältere Frau mit Goldzähnen, sagt: »Das hier ist schlimmer als der Maidan.« Sie kommt nach ihren Worten aus Tschernigow, einer Stadt im Norden der Ukraine und sei selbst auf den Demonstrationen in Kiew dabeigewesen. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Urlaubsort am Schwarzen Meer und hat die Umsteigezeit zur Regionalbahn genutzt, die paar hundert Meter vom Bahnhof herüberzukommen, um der Opfer zu gedenken. Manche der Besucher bekreuzigen sich, andere stehen nur schweigend da, fassungslos angesichts dessen, was hier am 2. Mai geschehen ist.

Wen sie für die Toten verantwortlich machten, frage ich eine Gruppe junger Leute. »Die Macht«, sagt eine junge Frau Anfang 20 mit nichts als kaltem Haß in der Stimme. Unter Präsident Wiktor Janukowitsch sei die Staatsmacht korrupt gewesen, aber sie habe die Leute leben gelassen, fügt ihr Begleiter hinzu; was jetzt herrsche, sei »bespredel« – Willkürherrschaft ist vielleicht die beste Übersetzung.

Andere sind gesprächiger. Im Laufe des Vormittags wächst die Menge vor dem Gewerkschaftshaus auf konstant vielleicht 200 Leute an. Sie stehen in Gruppen, diskutieren, das Wort führen meist ältere Leute. »Die waren schlimmer als die Faschisten«, erklärt eine Rentnerin und schließt gegenüber dem deutschen Reporter gleich die Geschichte an, wie sie im Winter 1941/42 ein deutscher Soldat vor dem Erfrieren gerettet habe. Gerüchte machen die Runde, sie sind nicht zu überprüfen und widersprechen sich teilweise: In den Kellern lägen noch Dutzende Opfer des Pogroms, sagt die eine. Nein, sagt ein anderer: Ihm habe ein Bekannter, der als Krankenwagenfahrer arbeite, erzählt, sie seien in der Nacht nach dem 2. Mai angewiesen worden, im Dunkeln Dutzende Leichen wegzuschaffen. Beim nächsten Redner werden aus den Dutzenden Hunderte. Der plausible Kern dieser Gerüchte: Die offizielle Zahl von 46 Toten ist wahrscheinlich zu niedrig. Die Mutter eines der ermordeten Aktivisten berichtete schon vor Tagen, ihr seien im Leichenschauhaus allein mindestens 60 Tote gezeigt worden. Andere Gerüchte berichten von Vergewaltigungen der Opfer, hetero- und homosexuellen, vor ihrer Ermordung – was mit der Situa­tion in einem brennenden Gebäude und der Tatsache, daß der Pogrom nach Augenzeugenberichten etwa 20 Minuten andauerte, nicht recht zusammenpassen will.

Zweifler haben es schwer. Ein junger Mann auf einem Mountainbike fragt die Diskutierenden, woher sie das denn alles wüßten, was sie erzählten. Sofort fangen die Älteren an, ihn zu schubsen: Hau doch ab auf deinen Maidan, ist noch das Mildeste, was der Radfahrer zu hören bekommt. Sein blau-gelb gesprenkeltes Kopftuch wird spontan als Emblem der anderen Seite wahrgenommen. Das Mißtrauen gegen Medienvertreter ist groß. Als am Abend ein Reporter der Nowaja Gaseta aus Moskau Fotos macht, drehen sich die Leute weg und versuchen, ihn abzudrängen.

Nebenan steht ein Ehepaar in den Vierzigern, sie kommen aus Donezk, sind auf dem Rückweg von einem Familienbesuch in der Westukraine. »Es war unerträglich dort«, erzählt die Frau. »Alle haben uns als Terroristen und Separatisten beschimpft, sogar die Verwandten – die sind vollkommen benebelt da im Westen.« Dabei wollten sie nur so leben, wie sie es gewohnt seien, und ihre Sprache sprechen können.

Die Westukrainer bildeten sich ein, die Herren im Lande zu sein, verweist jemand anderes auf einen wirtschaftlichen Aspekt des Konflikts; dabei finanziere allein Odessa über die Hafengebühren fast den halben Staatshaushalt. »Wir brauchen Kiew nicht, Kiew braucht uns, deswegen sind sie gegen die Föderalisierung.« Im Donbass rechnen die Leute ähnlich vor, daß allein die Steuern des Gebiets Donezk die Summe der staatlichen Subventionen für die drei besonders nationalistischen Bezirke Lwiw, Ternopil und Ivano-Frankivsk überstiegen. Egal, ob die Berechnungen stimmen – und sie stimmen im wörtlichen Sinne sicher nicht, schließlich gibt es auch im Osten aus dem Staatsbudget finanzierte Schulen und Rentner –, sie sind Argumente für ein Gefühl. »Die Ukraine, die wir kannten, ist tot«, faßt der Mann aus Donezk die Diskussion zusammen. Er ist nicht der einzige, der sich so äußert an diesem Maitag, an dem in Odessa der Flieder und die Kastanien blühen, als wäre nichts gewesen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 9. Mai 2014


Hintergrund: Gedeckter Mord

Am frühen Nachmittag des 2. Mai kam es in der Innenstadt von Odessa rund um das Einkaufszentrum »Afina« am Griechischen Platz zu Auseinandersetzungen zwischen »proukrainischen« und »prorussischen« Demonstranten (siehe jW vom 5. Mai). Dabei fielen offenbar Schüsse, und zwar auch auf die blau-gelben Aktivisten. Wer sie abgefeuert hat, ist unklar. Anwohner berichten, daß mehrere hundert Polizisten aus Lwiw – der Nationalistenhochburg im Westen – nach Odessa kommandiert gewesen seien. Sie seien in Uniform gewesen und hätten zusätzlich rote Armbinden getragen – ebenso wie schwerbewaffnete und maskierte Männer in Tarnanzügen im Innern der »proukrainischen« Demonstration.

Als schweren Fehler analysieren örtliche Linke inzwischen, daß sich aus dem seit Wochen unbehelligt vor dem Gewerkschaftshaus stehenden Protestcamp des »Antimaidan« am frühen Nachmittag etwa 200 bis 300 Aktivisten in die Innenstadt begeben hätten, um die etwa zwei Kilometer entfernt stattfindende proukrainische Demonstration zu stoppen. Wer diese Parole ausgegeben hat, weiß in diesen Tagen niemand zu sagen. Im nachhinein, meint Aleksej Albu, örtlicher Chef der »Borotba«, wäre es sicher am klügsten gewesen, die Rechten unbehelligt marschieren und sich nicht provozieren zu lassen. Es bleibt die Tatsache, daß die Provokation erfolgreich war. Nach Albus Angaben gab es keine einheitliche Leitung des Antimaidan; jedes Zelt habe seinen eigenen Leiter gehabt, und so ganz genau habe man nicht gewußt, wer da wofür stehe.

Jedenfalls seien am späteren Nachmittag, nach 17 Uhr, plötzlich mehrere hundert Rechte auf das Protestcamp zugestürmt und hätten sofort Molotowcocktails in die Zelte geworfen. Vor dem ausbrechenden Feuer seien die Aktivisten in das vermeintlich sichere Gewerkschaftshaus geflohen. Abgesehen davon, daß die vor dem Haus stehenden Rechten sofort Brandsätze ins Innere geworfen hätten, seien andere auch durch einen Seiteneingang in den Bau eingedrungen und hätten im Innern auf die Antifaschisten eingeprügelt. Albu sagt, er habe persönlich vor dem Seiteneingang einen Anführer der Rechten mit gezogener Pistole gesehen. In dieser Situation, berichtet Albu, der auch Abgeordneter des Gebietsparlaments ist, habe er den örtlichen Polizeichef angerufen und ihn aufgefordert, durch seine Beamten wenigstens eine Gasse bilden zu lassen, um Frauen und Ältere zu evakuieren. Der Polizeichef habe den Anruf zweimal weggedrückt. Später habe es dann tatsächlich eine Polizeigasse gegeben, allerdings im Innern durch Rechte verstärkt, so daß die abziehenden Antifaschisten hätten Spießruten laufen müssen und schwer mißhandelt worden seien. (rl)




»Volksrepubliken« wollen abstimmen

Referendum in der Ostukraine soll stattfinden. Gedenken an Jahrestag des Sieges **

Die »Volksrepubliken« in Donezk und Lugansk wollen trotz eines Appells des russischen Präsidenten Wladimir Putin an den für Sonntag geplanten Volksabstimmungen über eine »staatliche Unabhängigkeit« der ostukrainischen Regionen festhalten. Der Vizechef der Donezker Volksrepublik, Denis Puschilin, erklärte gegenüber Journalisten, man sei Putin dankbar, daß er sich um Wege aus der gegenwärtigen Krise bemühe, »aber wir sind die Stimme des Volkes«. Alle Mitglieder des »Volksrates« hätten dafür votiert, das Referendum am Sonntag durchzuführen, betonte Puschilin.

Derweil setzen die Machthaber in Kiew weiter auf Eskalation. Man werde den Militäreinsatz gegen die »Separatisten« fortsetzen, kündigte Regierungschef Arseni Jazenjuk an und verstieg sich dazu, die gegenwärtige Lage mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion zu vergleichen: »Erstmals seit 1941 hat der Feind die Grenzen der Ukraine überschritten.« Zugleich will das Regime die traditionellen Gedenkfeiern zum Jahrestag des Sieges 1945 weitgehend verhindern. Offiziell werden in Kiew Geldmangel und die Angst vor Provokationen als Gründe für die Absage der Feiern angeführt. »Die Staatsführung ist über schwarze Pläne russischer Saboteure und ihrer Handlanger informiert«, behauptete Jazenjuk und rief die Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben. Mehrere Städte vor allem im Westen des Landes haben den 9. Mai sogar ganz offen zu einem »Tag der Trauer« erklärt. Im staatlichen russischen Fernsehen wurde das als weiterer Hinweis darauf gewertet, daß in der Ukraine Faschisten regierten.

In Moskau wird der Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland am heutigen Freitag mit der traditionellen Militärparade auf dem Roten Platz gefeiert. Auch in Sewastopol auf der Krim soll ein Aufmarsch stattfinden. Die Befreiung der bis März ukrainischen und seither russischen Halbinsel jährt sich 2014 zum 70. Mal.

** Aus: junge Welt, Freitag, 9. Mai 2014


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