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Tschernobyl immer teurer

Internationale Geberkonferenz macht weitere 530 Millionen Euro für Reperaturarbeiten locker. Ob es reicht und wirkt, weiß niemand

Von Reinhard Lauterbach *

Eine internationale Geberkonferenz in London hat in der vergangenen Woche zusätzliche Mittel in Höhe von 530 Millionen Euro für die Fertigstellung des neuen Sarkophags um den Katastrophenreaktor von Tschernobyl zugesagt. Das Treffen war auf Betreiben des Bundesumweltministeriums einberufen worden, weil Deutschland gegenwärtig den Vorsitz in der G7 innehat. Den Großteil der Mittel steuert die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) bei; andere »internationale Geldgeber« zahlen 180 Millionen Euro, davon die Bundesrepublik 18 Millionen.

Das Geld soll für eine gigantische Stahlkonstruktion von 162 Metern Länge, 257 Metern Breite und 108 Metern Höhe dienen. Die Stahlkuppel entsteht in zwei Teilen und wird aus Sicherheitsgründen in einiger Entfernung von der Ruine des 1986 explodierten Reaktors montiert. Wenn sie fertig ist, sollen die beiden Teile auf Schienen über die Ruine geschoben und dort verschweißt werden. Unter dieser Hülle soll dann mit Hilfe ferngesteuerter Kräne und Roboter an der Demontage der Reste des Unglücksreaktors gearbeitet werden. Wie lange das dauern wird und ob es überhaupt klappt, kann gegenwärtig noch niemand sagen.

Der Plan zur Errichtung dieser »Schutzhülle« entstand schon 1997, die Realisierung verzögerte sich aber über Jahre, weil Unternehmen aus Deutschland, Frankreich und den USA und die jeweiligen Regierungen sich um die Auftragsvergabe und damit um den Rückfluss der in die Sanierung investierten Staatsgelder stritten. Mitte der neunziger Jahre war klargeworden, dass der kurz nach dem Unglück in aller Eile hochgezogene »Sarkophag« keinen dauerhaften Schutz vor der Strahlung bieten würde. Schon damals, zehn Jahre nach dem Unglück, waren metergroße Löcher in der Stahlhülle, rostende Armierungen und andere Baumängel festgestellt worden.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die »Schutzhülle« über der Ruine zwar vielleicht die Verbreitung radioaktiver Isotope über die Luft bremsen kann, aber dass auch dies wieder nur eine teilweise Abhilfe bieten kann. Denn Hydrologen haben festgestellt, dass etliche der radioaktiven Verbindungen im Innern der Reaktorruine wasserlöslich sind und allmählich in die grundwasserführenden Schichten des Untergrunds einsickern. Der bescheidene Trost, den die Wissenschaftler lieferten: Dieses Einsickern geschehe so langsam, dass es noch rund 800 Jahre dauern werde, bis die Radioaktivität auf diesem Weg in die Flüsse Pripjat und Dnipro gelangt.

Das kann aber nur denjenigen beruhigen, der nicht auf den ehemaligen Kühlwasserteich des Kraftwerks schaut. Der gilt als eines der am höchsten belasteten Gewässer der Welt, zumal seinerzeit bei den Sanierungsarbeiten tonnenweise verstrahlter Bauschutt hineingekippt wurde. Sollte der Deich, der diesen See auf ein Niveau von sieben Metern über dem daneben verlaufenden Fluß Pripjat aufstaut, aus irgendeinem Grunde brechen, würde das strahlende Wasser innerhalb weniger Tage in dem Stausee ankommen, der unter anderem die Trinkwasserversorgung der Millionenstadt Kiew sichert.

Die Kosten für den Bau der Schutzhülle kannten von Anfang an nur eine Richtung: nach oben. Ursprünglich waren Aufwendungen von 650 Millionen Euro geplant; Mitte der 2000er Jahre waren es schon 1,1 Milliarden, und zuletzt hatte das Konsortium, das die Hülle baut, 2014 seinen Geldgebern Kostensteigerungen um 45 Prozent von 1,4 auf nun 2 Milliarden Euro präsentiert. Das mag daran liegen, dass die Konstrukteure technisches Neuland betreten und es auch für die Ablauforganisation solcher Projekte keine Vorbilder gibt. Das bedeutet aber auch, dass es für den Bau solcher Konstruktionen praktisch keine Konkurrenz gibt. Wer den Auftrag bekommt, kann letztlich verlangen, was er will. Projekte wie das der »Schutzhülle« haben experimentellen Charakter: Sie können dazu dienen, Technologien für die Bewältigung künftiger Strahlenkatastrophen zu erarbeiten, und vor allem deshalb finden sich immer auch internationale Sponsoren für solche Arbeiten.

Keine Schutzhülle kann freilich Gefahren wie jenen Waldbrand verhindern, der in der vergangenen Woche in der Ukraine für Aufregung sorgte. Etwa 20 Kilometer vom Unglücksort entfernt waren mehrere hundert – nach Angaben von Greenpeace Russland Tausende – Hektar Wald in Brand geraten und erst nach einigen Tagen durch einen Großeinsatz gelöscht worden. Dabei kamen Löschflugzeuge zum Einsatz, Anwohner und Feuerwehrleute versuchten buchstäblich zu Fuß, die Feuerfront mit frischen Kiefernzweigen auszuschlagen. Die Arbeiten wurden dadurch erschwert, dass der ukrainische Katastrophenschutz den größten Teil seiner Spezialfahrzeuge für die Bedürfnisse der sogenannten »Antiterroroperation« an die Armee abtreten musste. Nach offiziellen Angaben ist das Strahlungsniveau in Kiew durch den Waldbrand nur unwesentlich gestiegen. Wenn das stimmt, dürfte die Ukraine schlicht und einfach Glück gehabt haben: Der Wind blies in den entscheidenden Tagen von Süden, und die in den abbrennenden Bäumen gespeicherte Radioaktivität wurde in Richtung Belarus getrieben – genau wie 29 Jahre zuvor.

* Aus: junge Welt, Montag, 4. Mai 2016


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