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In trüben Gewässern

US-Dienst "Stratfor": Die Absetzung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch durch die Rada verstößt gegen die Verfassung. Aus Polen heißt es: Scheiß drauf

Von Rainer Rupp *

In der Ukraine beanspruchen zur Zeit zwei Männer gleichzeitig das Amt des Präsidenten, der vom Parlament in einem Staatsstreich am Wochenende eingesetzte Alexander Turtschinow und der rechtmäßig von der Bevölkerung gewählte Wiktor Janukowitsch. Was sagt dazu die ukrainische Verfassung? Selbst wenn man die Verfassung aus dem Jahr 2004 zugrunde legt, die von den Abgeordneten in der von Maidan-Aktivisten »bewachten« Rada am Wochenende im Blitzverfahren wieder eingeführt wurde, haben sich laut einer Analyse des privaten US-Nachrichtendienstes »Stratfor«, der mit ehemaligen US-Regierungsbeamten und Geheimdienstlern besetzt ist, sowohl das Parlament als auch der neue Präsident »außerhalb der Verfassung« gestellt. In der Bewertung vom 22. Februar heißt es: »Das ukrainische Parlament hat die ihm von der Verfassung gesetzten, rechtlichen Grenzen überschritten, indem es versucht, eine Regierung ohne den ukrainischen Präsident Wiktor Janukowitsch zu bilden. Nach Janukowitschs Weigerung, zurückzutreten, verfolgte das Parlament seinen Plan weiter, ihn gewaltsam zu stürzen. Allerdings hat das Parlament damit das vorgeschriebene, längere Amtsenthebungsverfahren umgangen und sich statt dessen für eine rasche Abstimmung entschieden, um ihn loszuwerden, indem es erklärt, Janukowitsch sei verfassungsrechtlich nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Dieses Vorgehen führt die Ukraine in sehr undurchsichtige und trübe politische Gewässer.«

Im Zug des bewaffneten Umsturzes hatte am Samstag das ukrainische Parlament seinen neuen Vorsitzenden Turtschinow zum Übergangspräsidenten bestimmt. Dieser hat sofort die Haftentlassung der wegen Korruption einsitzenden früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko verfügt, zu deren engsten Vertrauten er als Veteran des früheren, prowestlichen »orangen« Umsturzes gehört. Bis zum heutigen Dienstag soll eine neue Regierung gebildet werden. Als aussichtsreichste Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gelten der Fraktionschef von Timoschenkos Vaterlandspartei, Arseni Jazenjuk, und der Oligarch Pjotr Poroschenko, der bereits 2004 tatkräftig die »orange Revolution« mitfinanziert hatte.

Vom ostukrainischen Charkow aus verurteilte Janukowitsch am Wochenende in einer Fernsehsehansprache den Staatstreich. Er habe keine Pläne, »zurückzutreten oder das Land zu verlassen«, betonte er. »Ich bin der rechtmäßig gewählte Präsident.« Und er fügte hinzu: »Was derzeit geschieht, ist vor allem Vandalismus, Banditentum und ein Staatsstreich.« Janukowitsch beklagte auch »Verräter« unter seinen ehemaligen Anhängern, aber er lehnte es ab, sie zu benennen. Zugleich haben die Gouverneure der Ostregionen erklärt, daß sie weiter hinter Janukowitsch stehen.

»Laut Verfassung von 2004, die inzwischen vom ukrainischen Parlament wieder eingeführt wurde, kann der Präsident nur durch Rücktritt oder seiner gesundheitlich bedingten Unfähigkeit, seinen Aufgaben nachzukommen, im Rahmen eines ordentlichen Amtsenthebungsverfahrens abgesetzt werden«, kommentiert »Stratfor« die Rechtslage in der Ukraine. Um ein Amtsenthebungsverfahren in Gang zu bringen, bedürfe es als erstes einer Zweidrittelmehrheit im Parlament. Erst dann könne die vorgeschriebene Untersuchungskommission ihre Arbeit aufnehmen, was für die weiteren Überprüfungen u. a. auch die Ernennung eines Sonderstaatsanwalts und eines Ermittlers beinhalte, so der US-Dienst. Die Schlußfolgerungen und Vorschläge der Kommission würden dann an das Parlament geschickt, wo sie diesmal sogar einer Dreiviertelmehrheit bedürfen. Diese Gesamtentscheidung müsse dann vom Verfassungsgericht der Ukraine als verfassungskonform genehmigt werden.

Erst nach diesem umfassenden, gegen Willkür schützenden Verfahren kann ein ukrainischer Präsident, der direkt vom Volk gewählt wird, seines Amtes enthoben werden. Das Amtsenthebungsverfahren selbst könne im günstigsten Fall mehrere Monate bis zu einer endgültigen Entscheidung des Verfassungsgerichts dauern. Aktuell setzt sich dieses Gericht noch relativ gleichmäßig aus Richtern aus den Ost- und Westregionen des Landes zusammen. 2010 sind von diesem auch die Verfassungsänderungen genehmigt worden, welche dem Präsidenten mehr Machtbefugnisse zubilligten. Diese sind anschließend von der Opposition im Westen des Landes heftig bekämpft und nun eigenmächtig, also verfassungswidrig, wieder abgeschafft worden.

Roman Kuzniar, Sicherheitsberater des polnischen Präsidenten, stellte am Wochenende fest: »Wir betrachten Janukowitsch als ehemaligen Präsidenten. Verfassungsrechtliche Verfahren haben keine Bedeutung mehr.« Er brachte damit den Rechtsnihilismus der USA und der EU auf den Punkt.

* Aus: junge welt, Dienstag, 25. Februar 2014


Putschisten anerkannt

Westen akzeptiert neue ukrainische Regierung, die es noch gar nicht gibt. Rußland: Verirrung. Neuer Klientelstaat wird teuer

Von Reinhard Lauterbach **


Die aus dem Staatsstreich vom Samstag hervorgegangene Regierung der Ukraine ist von den wichtigsten westlichen Staaten anerkannt worden, bevor sie auch nur berufen wurde. Das amtierende Staatsoberhaupt Alexander Turtschinow teilte am Montag mit, er habe sich mit Vertretern der USA und der EU getroffen; diese hätten ihm zugesichert, daß sie die neuen Machthaber als die einzigen ansähen, die für die Ukraine zu sprechen berechtigt seien. Der Sicherheitsberater des polnischen Präsidenten, Roman Kuzniar, erklärte in einem Radiointerview, verfassungsrechtliche Formfragen dürften dabei nicht im Wege stehen. Der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedjew nannte diese Vorabanerkennung des Putschregimes eine »Verirrung«. Rußland werde die neuen Machthaber in Kiew einstweilen nicht anerkennen; ihre Legitimation sei zweifelhaft, und die Situation stelle eine Gefahr für russische Interessen sowie Leib und Leben russischer Bürger dar. Die neue Regierung soll am heutigen Dienstag vom Parlament gewählt werden.

Die bisher regierende Partei der Regionen erklärte, sie werde sich an dem Übergangskabinett nicht beteiligen und in die Opposition gehen. Dafür sollen die rechten Aktivisten des Maidan offenbar mit Regierungsposten versehen werden. Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei schlug vor, in jedem Ministerium einen Staatssekretär aus den Reihen des Maidan zu berufen.

Polens Außenminister Radoslaw Sikorski erklärte, er habe von Anfang an nicht damit gerechnet, daß die Vereinbarung vom Freitag über die Wahlen erst zum Jahresende eingehalten werden würde. Mit dem Termin habe er vielmehr den hinter Expräsident Janukowitsch stehenden Oligarchen ein Signal geben wollen, sich beizeiten von ihm zu trennen. Dieser Prozeß sei dann viel schneller abgelaufen als erwartet. Den neuen »Geist der Freiheit« in der Ukraine kommentierte er via Twitter auf seine Art.

Über Janukowitschs Verbleib war am Montag mittag nichts bekannt. Das letzte Gerücht lautete, er befinde sich auf einer russischen Militärbasis auf der Krim und solle mit einem Kriegsschiff nach Rußland evakuiert werden.

Die Einrichtung des neuen Klientelstaats in Osteuropa wird seine westlichen Förderer viel Geld kosten. Der kommissarische Leiter des ukrainischen Finanzministeriums, Juri Kolobow, nannte am Montag einen Finanzbedarf des Landes für 2014 und 2015 von etwa 35 Milliarden Dollar (25,5 Milliarden Euro). Die Summe ist mehr als doppelt so hoch wie die letzten bekanntgewordenen Schätzungen.

* Aus: junge welt, Dienstag, 25. Februar 2014


Sitzt der Westen am kürzeren Hebel?

Von Rainer Rupp **

Im Osten und Süden der Ukraine widersetzt sich die Bevölkerung dem prowestlichen Kurs der von Faschisten durchsetzten Putschisten aus der Westukraine, die in Kiew die Macht übernommen haben. Die ostukrainische Stadt Charkow wird dabei zunehmend zum Zentrum dieses Widerstandes. Rufe nach Sezession vom Westen des Landes werden laut. Der Drang zur Teilung der Ukraine wird noch dadurch verstärkt, daß am Sonntag das Parlament in Kiew, bewacht vom »Rechten Block«, das Sprachengesetz gekippt hat. Dieses hatte der großen Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung im Osten bisher gewisse Rechte beim öffentlichen Gebrauch ihrer Sprache gewährt. Eine Teilung wollen die Gegner des entmachteten Präsidenten Wiktor Janukowitsch und ihre westlichen Helfershelfer jedoch mit allen Mitteln verhindern und das aus gutem Grund: Der hoch industrialisierte Osten ist, gemessen am ukrainischen Durchschnitt, reich, der landwirtschaftliche Westen dagegen größtenteils bettelarm.

Laut offiziellen Zahlen des Statistischen Dienstes der Ukraine trägt die im Osten angesiedelte Schwerindustrie mindestens dreimal mehr zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes bei als es die Landwirtschaft und die Kleinbetriebe im Westen tun. So haben Regionen im Osten in der Regel ein weitaus höheres Pro-Kopf-Einkommen. Für das Jahr 2011 werden zum Beispiel 4748 Dollar in der östlichen Region Dniperpropetrowsk, eines der wichtigsten Industriezentren der Ukraine, genannt während das Pro-Kopf-Einkommen in der Region Lwiw im Westen der Ukraine und zugleich politisches Zentrum der Putschisten mit 2312 Dollar weniger als die Hälfte betrug. Die übrigen Westregionen sind noch viel ärmer. Von einigen Ausnahmen um Kiew abgesehen liegt die Mehrheit der größten ukrainischen Unternehmen im Osten. Es sind Bergbau- und Stahlunternehmen, weiterverarbeitende Betriebe und Energieunternehmen. Sie exportieren hauptsächlich nach Rußland. Durch eine Assoziierung des Landes mit der EU hätten sie am meisten zu verlieren.

Derweil klagte der vom Parlament ermächtigte Übergangspräsident Alexander Turtschinow am Sonntag mit Blick gen Westen: »Die Ukraine hat kein Geld mehr.« Die Lage sei »katastrophal«, die Probleme mit der Zahlung von Renten seien »kollosal« und das Land stünde »vor der Pleite« – was nach den monatelangen Unruhen kein Wunder ist. Politiker in Berlin, Brüssel und Washington haben 20 Milliarden Euro »Hilfe« in Aussicht gestellt, diese jedoch an harte und einschneidende wirtschaftliche Bedingungen geknüpft. Dazu gehört insbesondere, daß unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds die angeblichen »Wahlgeschenke« von Präsident Janukowitsch, nämlich die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter und Rentner, im »bewährten« neoliberalen Stil wieder rückgängig gemacht werden sollen.

Da aber der weitaus größte Teil des Reichtums der ukrainischen Nation im östlichen, prorussischen Teil des Landes liegt, müßte sich die dortige Bevölkerung erst einmal der neuen Führung in Kiew, deren westlichen Beratern und den in deren Gefolge auftauchenden »Privatisieren« des noch verbliebenen Volkseigentums beugen. Im Westen sorgt man sich bereits, daß bei ausbleibenden Rentenzahlungen, steigenden Lebensmittelpreisen und unbezahlbarer Energie »der Geist des Maidan schnell verfliegen könnte« (Deutschlandfunk am 24.2.14). An der Ukraine scheint sich die westliche Umsturzgemeinschaft verhoben zu haben, und wenn der Kreml auf die Entwicklungen bisher ruhig und besonnen reagiert hat, so dürfte das auch damit zu tun haben, daß er – was die Ukraine betrifft – am längeren Hebel sitzt.

** Aus: junge welt, Dienstag, 25. Februar 2014


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