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Begrenzte Entspannung

Russland gibt "Neurussland"-Vision auf. USA bremsen Kiewer Revanchegelüste

Von Reinhard Lauterbach *

Die Gespräche mit der russischen Führung, zu denen US-Außenminister John Kerry vor zehn Tagen in Sotschi war, fielen in einem Punkt aus dem Rahmen: in der Dürftigkeit dessen, was über sie berichtet wurde. Vier Stunden hätten sie gedauert, teilte der Kreml mit, und die Atmosphäre sei »konstruktiv« gewesen. Von amerikanischer Seite hieß es, die Gespräche hätten »gemeinsamen Interessen« gegolten. Immerhin gibt es die offensichtlich auch aus der US-Perspektive, was nach Monaten der rhetorischen Konfrontation über das Thema Ukraine nicht selbstverständlich ist.

Mehr ist über den Inhalt der Gespräche zwischen Kerry, Putin und Lawrow auch heute offiziell nicht bekannt, aber eine Reihe von Details lässt ahnen, wohin die Reise inzwischen gehen könnte: in Richtung einer begrenzten Entspannung im Ukraine-Konflikt im Gegenzug gegen russische Zugeständnisse etwa im Nahen oder Mittleren Osten.

Es begann damit, dass Kerry eine Lockerung der Sanktionen in Aussicht stellte, falls Russland das Waffenstillstandsabkommen von Minsk befolge. Von der Rückgabe der Krim – um die es in Minsk nicht ging – war mit keinem Wort die Rede. Wenige Tage nach dem Treffen in Sotschi wurde Kerry auf einer Pressekonferenz um einen Kommentar zu Äußerungen des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gebeten, der Krieg wäre erst zu Ende, wenn die Krim und das Donbass wieder unter ukrainischer Hoheit stünden. Kerrys knappe Erwiderung: »Wenn ich gefragt würde, würde ich der Ukraine nicht raten, es mit einem neuen Krieg zu versuchen.«

Dass die USA Russland offensichtlich begrenzte Zugeständnisse gemacht haben, ergibt sich auch daraus, dass sie angekündigt haben, sich aktiver in die Verhandlungen über eine Friedensregelung für den Donbass einzuschalten – auch wenn das in den Volksrepubliken nicht auf Gegenliebe stößt. Bisher hatten die USA das Minsker Abkommen ihren europäischen Alliierten überlassen. Jetzt will Washington offenbar vermeiden, den Prestigegewinn einer eventuellen Einigung in Berlin und Paris anfallen und diese am Ende in eine europäisch-russische Entspannung münden zu lassen.

Entspannungssignale kamen auch von der russischen Seite. Der ehemalige ukrainische Parlamentsabgeordnete Oleg Zarjow teilte auf seiner Webseite mit, das »Parlament von Neurussland« stelle seine Tätigkeit »bis auf weiteres« ein. Dieses Parlament von Neurussland war ein im Sommer 2014 begründetes Propagandaprojekt auf seiten der ostukrainischen »Volksrepubliken«, das einige Monate lang ein virtuelles Leben führte. Es sollte für den Anspruch stehen, den faktisch auf Teile der Bezirke Donezk und Lugansk beschränkten Aufstand auf andere Regionen der russischsprachigen Ukraine auszudehnen. Dass Zarjow als zeitweiliger Vorsitzender dieses Gremiums nun offiziell das Projekt beerdigte, muss als implizite Garantie für den territorialen Bestand der restlichen Ukraine durch Russland interpretiert werden.

In diese Richtung geht auch ein zweiter Artikel Zarjows auf seiner Webseite. Darin schreibt er, die Ukraine könne nur dann wieder für Russland gewonnen werden, wenn der Lebensstandard in den Volksrepubliken deutlich höher werde als der in der Restukraine. Zarjow – dem gute Kontakte zum Kreml nachgesagt werden – orientierte damit die Volksrepubliken auf inneren Aufbau statt auf illusionäre Träume von der Eroberung Odessas oder Charkiws.

Über den künftigen Status der beiden »Volksrepubliken« wird offensichtlich noch diskutiert. Zarjows Verweis auf die Notwendigkeit eines höheren Lebensstandards kann als Orientierung auf einen langfristigen Anschluss der Republiken an Russland gelesen werden, zumal er explizit schrieb, auf der Krim hätten im Frühjahr 2014 viele, die für den Beitritt zu Russland gestimmt hätten, nicht aus Patriotismus, sondern wegen der höheren Löhne und Renten so entschieden.

Es sieht allerdings einstweilen nicht danach aus, dass Russland diese Option ernsthaft in Erwägung zieht. Würde Moskau deren Übernahme ins Auge fassen, könnte es sich zumindest teure Investitionen sparen. Etwa für den in diesen Tagen begonnenen Bau einer Brücke über die Meerenge von Kertsch, um die durch die Ukraine verlaufende Landverbindung auf die Krim zu ersetzen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. Mai 2015


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