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Ziel Moskau

Die USA wollen die Ukraine zu einem permanenten Krisengebiet unterhalb der Kriegsschwelle verwandeln. Rußland wird dadurch bedroht, russophobe osteuropäische Staaten paktieren mit Washington, und Berlin verliert in der Region an Einfluß

Von Rainer Rupp *

Albert Einstein soll gesagt haben: »Wenn ich nur eine Stunde hätte, um ein Problem zu lösen, würde ich die ersten 55 Minuten darauf verwenden, die richtigen Fragen zu stellen. Denn wenn ich erst einmal die richtigen Fragen formuliert habe, könnte ich das Problem in weniger als fünf Minuten lösen.« Bei der Krise in der Ukraine sind die meisten Menschen in einer ähnlichen Situation. Ihnen wird jedoch das Fragen nach den Gründen der Instabilität des Landes durch die »Qualitätsmedien« erschwert, die US- und NATO-Propaganda als Tatsachen verkaufen. So z.B. den angeblichen russischen Völkerrechtsbruch bei der Eingliederung der Krim. Eine Ausnahme ist der konservative Völkerrechtler Reinhard Merkel, der die juristische Seite des Vorgangs in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. April herausgearbeitet hat: »Hat Rußland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Rußland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Rußland nicht.«

Inzwischen hat der »Jahrmarkt der Heuchelei« – wie Dmitri Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die westlichen Beschuldigungen bezeichnet – Massenmorde an Zivilisten in der Ostukraine zur Folge. Die westlichen Moralapostel bleiben ungerührt. Ihre freudige Zustimmung zum Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen, Kampfhubschraubern und -flugzeugen durch die prowestliche Putschregierung gegen friedliche Ansammlungen unbewaffneter Zivilisten sagt alles, ebenso ihr eisiges Schweigen zum Massenmord in Odessa, wo die neofaschistischen Täter die Freunde des Westens und die verbrannten und totgeschlagenen Opfer nur »prorussische Separatisten« sind (siehe jW-Schwerpunkt vom 5.5.2014).

Genug mit diesem Theater! Wie sieht es hinter den Kulissen aus? Welche strategischen Interessen haben die Hauptakteure dieses Konflikts?

Strategische Bedeutung …

Gerne wird die Ukraine im Westen als eines der »strategisch bedeutsamsten Territorien der Welt« bezeichnet. Das trifft nur aus der Sicht Rußlands zu, und auch dann nur im Rahmen seiner Defensivstrategie, aber nicht für offensive Welteroberungspläne, die westliche Kriegstreiber Moskau unterstellen. Laut dem privaten US-Nachrichtendienst Stratfor, dessen Mitarbeiter enge Kontakte zu ihren Kollegen in den Geheimdiensten wie Außenministerien der USA und anderer NATO-Länder pflegen, »hat die Ukraine für eine moderne Macht, die keine bösen Absichten gegen Rußland hegt, nur geringen strategischen Wert«. Für eine feindliche Macht stellt die Ukraine jedoch das Einfallstor in das Territorium Rußlands dar und ist somit eine tödliche Bedrohung.

»Wenn also die Deutschen keinen neuen Krieg gegen Rußland planen – und sie tun das nicht – hat die Ukraine wenig Bedeutung für Europa oder die Deutschen«, folgerte der Stratfor-Chef George Friedman in seiner Lageanalyse vom 11. Februar dieses Jahres. Und auf wirtschaftlichem Sektor sei die Ukraine wegen der Energietransportwege für Rußland und Rest­europa gleichermaßen wichtig, vorausgesetzt, beide kooperieren. Darüber hinaus würde eine stärkere Einbindung der Ukraine sowohl für Rußland als auch für Europa nur wirtschaftliche und finanzielle Belastungen bedeuten.

… der Ukraine für Rußland …

Nach der von den USA im Jahr 2004 angestifteten und finanzierten »Orangen Revolution« lief in der Ukraine nicht alles nach Washingtons Plänen. Der Kreml sah darin zu Recht einen unmittelbaren Angriff auf eigene strategische und wirtschaftliche Interessen. Deshalb bot er einerseits dem bankrotten Land günstige Sonderkonditionen und Kredite für russische Energielieferungen und drohte andererseits mit Liefereinstellung bei Nichtbezahlung. Das hinterließ mit der Zeit einen nachhaltigen Eindruck bei den antirussischen Regierungen in Kiew unter dem Präsidenten Wiktor Juschtschenko (2005–2010) und der Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (2005 und 2007–2010). Diese machten schließlich aus der ökonomischen Notwendigkeit eine politische Tugend und fanden einen Modus vivendi mit dem Nachbarland – unter Berücksichtigung von dessen strategischen Interessen. Insbesondere ging es dabei um die Verhinderung der Stationierung von NATO- oder US-Raketen in der Ukraine – vor der russischen Haustür.

Zum Leidwesen Washingtons wurde Moskau damals von Berlin und Paris tatkräftig unterstützt. Diese übten einen mäßigenden Einfluß auf die russophoben Kräfte in Kiew aus. Zugleich blockierte Deutschland mit Frankreich resolut die US-Pläne zur Aufnahme der Ukraine in die NATO. Das ging so weit, daß sie bei dieser Frage auf den NATO-Gipfeltreffen 2008 in Bukarest und 2009 in Strasbourg auch vor einem Eklat mit Washington nicht zurückschreckten. Daraufhin wurde 2010 die NATO-Osterweiterung um Ukraine und Georgien auf dem Gipfel in Lissabon für unbestimmte Zeit vertagt. Bei dieser Entscheidung hat sicherlich auch die resolute russische Reaktion auf die brutale militärische Intervention des NATO-Aspiranten Georgien in Südossetien im Sommer 2008 geholfen, die in dem kurzen »Georgien-Krieg« eine erhebliche Verbesserung der Fähigkeiten der russischen Streitkräfte demonstrierte.

Zuletzt aber war es in der Ukraine die Enttäuschung über die spärliche westliche Hilfe, die bei den Wahlen im Jahr 2010 eine relativ Rußland-freundliche Regierung unter Präsident Wiktor Janukowitsch an die Macht brachte. Auch der Westen beanstandete diese Abstimmung damals nicht. Trotzdem wurde das neue Staatsoberhaupt jetzt mit Hilfe des Westens von einem von Neofaschisten angeführten Mob aus dem Amt gejagt. Diesen verfassungswidrigen Akt bejubelten Washington, Brüssel und Berlin gemeinsam.

… für die USA…

Die Geschichte der weltweiten US-Militärinterventionen seit Beginn des 21. Jahrhunderts stellt eine lange Kette von kostspieligen militärischen und politischen Niederlagen dar. Die Lektion daraus ist: Washington kann zwar ganze Länder zerstören und Teile der Bevölkerung töten oder vertreiben. Der Hegemon ist aber unfähig, diese Länder zu befrieden und ihnen sein politisches System aufzudrücken. Das hat dazu beigetragen, daß sich die Stimmung der US-Bürger gedreht hat. Derzeit lehnen fast zwei Drittel von ihnen jegliche militärische Intervention im Ausland ab – auch in der Ukraine. Weniger als ein Fünftel ist dafür. Mit Kriegsgeschrei sollten also bei den bevorstehenden Wahlen keine Stimmen zu gewinnen sein.

Derweil hinterfragen vor dem Hintergrund des anhaltenden ökonomischen Siechtums der Supermacht deren Vasallen weltweit die Entschlossenheit Washingtons, seine Interessen weiterhin militärisch durchzusetzen. Von dieser bisherigen Praxis hängt die Herrschaft und nicht selten auch das Leben dieser US-freundlichen Machthaber ab. Zugleich sorgt sich Washington wegen der zunehmenden globalen Abkehr vom Dollar als Weltwährungsreserve. Das ist der Hauptpfeiler, auf dem die hegemoniale Macht der USA beruht. Zu Beginn der Krise im Jahr 2007 bestanden noch fast 60 Prozent der weltweiten Währungsreserven aus Dollar, heute ist es nur noch knapp ein Drittel.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist es Moskau in Europa und im Nahen Osten gelungen, seine Karten erfolgreich auszuspielen. Insbesondere in bezug auf Iran und Syrien durchkreuzte Rußland, in der Regel unterstützt von China und den anderen BRICS-Staaten, die Hegemonialpläne der USA. Daher wurde der »Unruhestifter« vom Establishment der selbsternannten US-»Ausnahmenation« mehr als zuvor schon als der alte Feind wahrgenommen. Um seinen Status als Hegemon zu bekräftigen, sollte Washington das Land bestrafen und in die Schranken verweisen. Zu diesem Zweck bot sich die Möglichkeit einer erneuten Destabilisierung der Ukraine als ideales Instrument an. Das eröffnete Washington außerdem die Chance, Rußland aus seiner für die Flotte strategisch bedeutsamen Position auf der Krim zu vertreiben.

Eine direkte militärische Intervention der USA in der Ukraine und damit ein Zusammenstoß mit Moskau ist dagegen unwahrscheinlich, wenn auch eine irrationale Zuspitzung der Gegensätze nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann. Laut Stratfor scheint derzeit in den USA noch ein Konsens zu herrschen, auch in den anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion nicht militärisch einzugreifen. Rußland ist zwar keine Weltmacht und seine Streitkräfte haben im Vergleich zu denen der USA viele Schwächen, aber es ist mit Abstand das stärkste Land in der Region und auch in der Lage, diese Macht in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu demonstrieren, wie der Krieg mit Georgien gezeigt hat.

Auch das US-Militär hat inzwischen viele Schwächen. Mehr als ein Jahrzehnt mit Feldzügen gegen die islamische Welt ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen, und man ist auf einen konventionellen Krieg, wie er gegen Rußland geführt werden müßte, nicht vorbereitet. Zugleich ist die politische Struktur der NATO-Allianz ausgefranst, und die Verbündeten sind für ein US-militärisches Abenteuer gegen Rußland nicht zu gewinnen. Das einzige, was daher im Moment zählt, ist die Bündelung der Kräfte vor Ort. Einer direkten Konfrontation ziehen die USA daher die mit minimalem Risiko verbundene Strategie der prowestlichen Regimewechsel vom Typ der Rosen- oder der Orangenrevolution entlang der russischen Grenzen vor. Denn: Je näher ein Konflikt zwischen den USA und Rußland vor Moskaus Haustür stattfindet, z.B. in der Ukraine, desto größer ist der militärische Vorteil Moskaus, allein schon aus logistischen Gründen.

… und für Deutschland

Anläßlich der Münchener »Sicherheitskonferenz« Anfang des Jahres machten vor internationalem Publikum Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eine Verschiebung der deutschen Sicherheitspolitik deutlich. Sie betonten den Willen der großen Koalition, Deutschlands Durchsetzungsvermögen in der Welt zu stärken, wenn nötig auch mit militärischen Mitteln. Diese Erklärung kam zu einem Zeitpunkt, zu dem sich Berlin bereits seit Monaten mit Unterstützung Frankreichs und der EU in Brüssel auf unverschämteste Weise in die Innenpolitik der Ukraine eingemischt hatte. Mit einem deutsch-ukrainischen Exboxer, der von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung politisch hochgepäppelt und von der Bundeskanzlerin und ihrem Außenminister hofiert wurde, glaubte man sogar, den nächsten Präsidenten in Kiew ins Amt heben zu können.

Völlig unverständlich war für die meisten Beobachter jedoch, warum die Bundesregierung bereit war, mit ihrem dreisten Auftreten in Kiew nicht nur die manifesten Interessen der deutschen Industrie in Rußland und die eigene Energieversorgung zu gefährden, sondern auch gegen ihre politischen Interessen zu handeln. Wegen der vielversprechenden wirtschaftlichen und politischen Vorteile einer engeren Zusammenarbeit mit dem Kreml hatte sich nämlich Berlin gemeinsam mit Paris seit Jahren innerhalb der EU um eine strategische Partnerschaft mit Rußland bemüht. Diese Pläne waren jedoch immer wieder von den russophoben Staaten des »neuen Europas« mit Unterstützung der USA blockiert worden. Nun schien es plötzlich, als ob Berlin bereit sei, sich wegen der wirtschaftlich maroden und überschuldeten Ukraine dauerhaft mit Rußland zu überwerfen, obwohl es in dem Land weder für die deutsche Wirtschaft noch für die der EU etwas zu gewinnen gibt. Was war da geschehen?

Dieser Vorgang war anfangs auch für Stratfor-Chef Friedman unverständlich. In seiner Lage­analyse wundert er sich, daß Deutschland als »De-facto-Anführer der Europäischen Union« sich mit viel Aufwand in der Ukraine gegen Rußland eingemischt hat, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, »in dem sich das langsame Scheitern des europäischen Projekts abzeichnet, Südeuropa unter enorm hohen Schulden und Arbeitslosenquoten leidet, in Osteuropa die Unsicherheit über den Sinn und die Kosten der Beteiligung am europäischen Bankensystem und an der Währungsunion wächst und die Kluft zwischen Frankreich und Deutschland sich ständig weiter vertieft«. Vor diesem Hintergrund ließe sich Berlins Ukraine-Politik und die der EU nur noch »sehr schwer ergründen«, so Friedman am 11. Februar.

US-Pläne für neue Allianz

Anfang Februar wurde durch ein Handygespräch der Staatssekretärin im US-Außenministerium, Victoria Nuland, der Nebel etwas gelichtet. Es wurde deutlich, daß nicht Deutschland und die EU, wohl aber die USA von Anfang an hinter der Krise in der Ukraine steckten. Mit ihrem »Fuck the EU« unterstrich Nuland nicht nur ihre Verachtung gegenüber der angeblichen Politik der Schwäche Berlins und Brüssels, sondern sie gab auch zu erkennen, in welche Richtung die strategischen Überlegungen der Amerikaner gingen. Dies geschah, als die Europäer angesichts der gefährlichen Zuspitzung der Krise in Kiew sich zu größerer Vorsicht und Mäßigung entschlossen hatten. Dazu gehörte auch, daß Rußland gleichberechtigt in die Lösung der Krise eingebunden werden sollte. Das wiederum widersprach den US-Plänen.

Bereits zwölf Stunden nachdem das Abkommen zwischen Außenminister Steinmeier, seinem französischen Amtskollegen Laurent Fabius, dem polnischen, Radoslaw Sikorski, und dem Vertreter des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch sowie dem Abgesandten des russischen Präsidenten, Wladimir Lukin, in Kiew ausgehandelt worden war, hatten die USA mit Hilfe ihrer gewaltbereiten neofaschistischen Sturmtruppen den rechtmäßigen Präsidenten davongejagt und in ihrem Sinne »Nägel mit Köpfen« gemacht. Seitdem bestimmt Washington, wo es in der Ukraine langgeht. Berlin mit seiner Marionette Klitschko und Brüssel sind marginalisiert. Die amerikanischen Schachfiguren, wie »Ministerpräsident« Arseni Jazenjuk, sind an den Schalthebeln der Macht. Dort werden sie von Hunderten CIA-Agenten und sonstigen US-Spezialisten im weiteren militärischen Vorgehen im Osten des Landes beraten, wo große Teile der Bevölkerung mehr Autonomie verlangen und die Putschregierung in Kiew nicht anerkannt wird.

Die in den letzten Tagen und Wochen wiederholten deutschen und europäischen diplomatischen Vorstöße zur Entschärfung des Konflikts, wenigstens mit den Aufständischen im Osten über eine Föderalisierung der Ukraine zu verhandeln – eine Forderung, die auch von Moskau gestellt wird –, sind bei den Amerikanern und ihren Befehlsausführern in Kiew auf taube Ohren gestoßen. Der Grund: Eine Entschärfung oder Lösung des Konflikts liegt nicht im Interesse der USA. Vielmehr hat Washington dank der von der EU mitinitiierten Destabilisierung der Ukraine eine ideale Gelegenheit gefunden, Rußland zu bestrafen und darüber hinaus auch langfristig vor der Haustür des Landes einen Krisenherd zu unterhalten, den die US-Administration nach Belieben befeuern kann, falls sich Moskau in anderen Teilen der Welt ihren Plänen querstellen sollte.

NATO-Staaten nicht zuverlässig

Während einschlägige Kommentare aus Washington voller Häme deutlich machen, daß die Krise in der Ukraine eine Retourkutsche für Moskaus Verhalten in Syrien ist, gehen die strategischen Überlegungen des US-Establishments viel weiter. Jetzt, wo die USA in der Ukraine mehr als nur einen Fuß in der Tür haben, glauben sie, nicht nur Rußland gefügig machen, sondern auch den Einfluß des »alten Europas«, insbesondere den von Deutschland in Osteuropa, untergraben zu können. Zugleich werden Pläne diskutiert, »parallel zur weitgehend unnütz gewordenen NATO«, so das Stratfor-Papier, eine neue, ebenfalls von den USA angeführte Allianz entlang der russischen Grenzen von Estland über Belorus, Ukraine und Teilen des östlichen Mitteleuropas bis nach Zentralasien zu schaffen. »Das Problem ist, daß die NATO keine funktionierende Allianz mehr ist. Sie wurde im Kalten Krieg entwickelt, um eine weit im Westen liegende Grenze zu verteidigen, die heute weit im Osten verläuft. Noch wichtiger war der Konsens aller Mitglieder, daß die Sowjetunion eine existentielle Bedrohung für Westeuropa war«, erklärt Stratfor-Chef Friedman und fährt fort: »Dieser Konsens ist nicht mehr da. Unterschiedliche Länder haben unterschiedliche Auffassungen von Rußland und andere Sorgen. Für sie wäre eine Wiederholung des Kalten Krieges, selbst angesichts der russischen Aktionen in der Ukraine, viel schlimmer als eine Anpassung an Rußland. Darüber hinaus hat das Ende des Kalten Krieges zu einem massiven Rückgang der militärischen Kräfte in Europa geführt. Ohne eine massive und schnelle Aufrüstung fehlt der NATO einfach die Kraft. Wegen der Finanzkrise und aus anderen Gründen wird es jedoch zu keiner Aufrüstung kommen. Außerdem erfordert die NATO Einstimmigkeit im Handeln, und diese ist einfach nicht mehr da.«

Die Staaten entlang der russischen West- und Südgrenze dagegen haben laut Stratfor »ein primäres Interesse, sich russischen Machtansprüchen zu widersetzen«. Dagegen sei der »Rest Europas nicht in Gefahr«, und diese Länder seien auch »nicht bereit, finanzielle und militärische Opfer für die Lösung eines Problems zu bringen, von dem sie glauben, daß man ohne Risiko damit leben könne. Deshalb müsse jede amerikanische Strategie zur Schaffung neuer Strukturen an der russischen Peripherie »die NATO umgehen«. In dieser Region müsse eine neue, von den USA geführte Allianz entstehen, deren Mitglieder – im Unterschied zur NATO – »kein Vetorecht haben«.

Osteuropas Russophobie

Die Europäische Union hat ihren Glanz und somit ihre Anziehungskraft verloren. Bei der Lösung der strukturellen Probleme der Euro-Zone ist man keinen Schritt weiter. Für die schwächeren Länder bedeutet die Mitgliedschaft zunehmend Austerität, hohe Arbeits- und Perspektivlosigkeit für die Massen. Dennoch haben die tonangebenden Kräfte in Deutschland und Frankreich die Träume von ihrer Führerschaft eines wirtschaftlich und politisch geeinten Europas von 500 Millionen Menschen längst nicht aufgegeben. Denn nur so hoffen sie, die seit Jahren beschworene Vision verwirklichen zu können, mit den USA in globalen Angelegenheiten »auf Augenhöhe« umzugehen. Aber auch das wäre ohne gute Beziehungen zu Moskau kaum möglich.

Allerdings wächst die Gefahr, daß das russophobe neue Bürgertum der osteuropäischen Mitgliedsstaaten die Wunschträume der Berliner EU-Anführer – wie schon bei der angestrebten strategischen EU-Partnerschaft mit Rußland – erneut durchkreuzt. Insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich liebäugeln die Staaten des »neuen Europas« mit stärkeren bilateralen Beziehungen zu den USA. Sie glauben nämlich nicht, daß die »fett und bequem gewordenen Westeuropäer« zur Verteidigung der Interessen der Osteuropäer einen Konflikt mit Rußland wagen, wohl aber, daß sie notfalls in der NATO ihr Veto einlegen würden.

Den Amerikanern aber trauen sie eine robuste und offensive Vertretung ihrer nationalistischen und russophoben Interessen gegenüber Moskau zu. Das wurde z.B. durch das polnisch-amerikanische Zusammenspiel zur Zurückdrängung des russischen Einflusses in der Ukraine demonstriert. Dazu gehört auch, daß laut US-Staatssekretärin Nuland sich Washington die Destablisierung der Ukraine bereits fünf Milliarden Dollar hat kosten lassen. Dieses Zusammenwirken von Washington und Osteuropa kommt den US-Plänen für eine neue Allianz »an der NATO vorbei« sehr entgegen, und die »alten Europäer« haben gute Gründe, deshalb beunruhigt zu sein.

Beispielhaft für die Position der Osteuropäer war die Warnung des polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski am 10. Mai 2014, der von Deutschland eine entschiedenere Haltung gegenüber Rußland forderte. Sein Land wünsche sich von der Bundesregierung »im Konflikt (in der Ukraine; R. R.) mehr Entschlossenheit«. Er habe »wenig Verständnis für die Art, wie manche in Deutschland heute auf Rußland schauen«. Und es folgte die versteckt Drohung: »Es entsteht der Verdacht, daß manche Politiker in Deutschland einen Weg in der Außenpolitik suchen, der für uns Polen schwer zu akzeptieren ist.« Warschaus ressentimentgesteuerte Außenpolitik wird von nicht überwundenen historischen Traumata bestimmt. Sie steuert geradewegs in einen neuen kalten Krieg. Der wäre für Warschau sogar recht profitabel, denn er würde vor allem dem Frontstaat Polen kräftig politische und wirtschaftliche Münze einspielen.

Berlin und Paris befinden sich dagegen in der Zwickmühle. Einerseits wollen sie ihre guten Beziehungen zu Rußland nicht aufs Spiel setzen, andererseits drohen ihre Ambitionen, als Anführer eines geeinten Europas anerkannt zu werden, zu scheitern, wenn sie nicht resolut genug gegen Moskau vorgehen, um die EU-Osteuropäer zufriedenzustellen. Bisher haben sie einen Spagat versucht: Scharfe politische Rhetorik gegen Rußland einerseits, Sanktionen, die niemandem wehtun, andererseits. Aber diese Politik ist am Ende. Die Osteuropäer haben sie durchschaut und verlangen »mehr Entschlossenheit«, wie Komorowski sich ausdrückt.

Rolle der BRD marginalisiert

Vor dem dargelegten Hintergrund erscheint das Handeln Deutschlands und Frankreichs in der Ukraine in einem anderen Licht. Erneut macht uns Stratfor-Chef Friedman darauf aufmerksam: Im Laufe der Jahre habe sich Deutschland immer weiter an Rußland angenähert, egal ob in wirtschaftlichen oder strategischen Fragen. Keiner der beiden Staaten habe sich »mit den US-Aggressionen im Nahen Osten und Südwestasien komfortabel gefühlt«. Beide Länder seien sich angesichts der europäischen Wirtschaftskrise einig, »die gemeinsamen Wirtschaftsbeziehungen zu vertiefen und den Einfluß der Vereinigten Staaten einzudämmen«. Daher sei die »Klitschko-Initiative« Berlins in der Ukraine, die den Unmut Rußlands herausforderte, einfach »verblüffend« gewesen. Sinn mache das Ganze erst, wenn die bereits erwähnte Erklärung von Gauck, Steinmeier und von der Leyen bei der Münchener »Sicherheitskonferenz« über eine stärkere und selbstbewußtere Rolle Deutschlands in der Welt ganz anders gemeint war, als sie gemeinhin interpretiert wurde.

»Gehört zu dem neuen Selbstbewußtsein der Deutschen etwa, daß sie jetzt planen, die Bemühungen der USA zu konterkarieren?« fragt der Stratfor-Chef. Mit anderen Worten: Wollten Berlin und die EU den US-Plänen in der Ukraine zuvorkommen und die von Washington geschürte und bezahlte Revolte durch eine einvernehmliche Lösung mit Rußland beenden? Die verächtliche Art, mit der die US-Staatssekretärin Nuland in ihrem Handygespräch den deutschen Präsidentschaftskandidaten für Kiew beiseite geschoben hat, deutet auf keine kooperative, wohl aber auf eine angespannte Konkurrenzsituation zwischen Berlin und Washington hin.

Inzwischen ist es Washington gelungen, die Rolle Deutschlands und der EU in der Ukraine zu marginalisieren. Selbst wenn Berlin stärker auf die Forderungen der Polen und anderen Osteuropäer nach mehr Konfrontation gegenüber Moskau eingehen wollte, um sie im von Deutschland zentrierten EU-Raum zu halten, mit der antirussischen Eskalationspolitik der Amerikaner könnte es nicht mithalten. Denn Washington sucht mit Rußland eine Konfrontation knapp unterhalb der Kriegsschwelle. Um dabei mitzumachen, ist trotz Kriegsgeschrei der »Qualitätsmedien« der innenpolitische Widerstand in Deutschland, Frankreich und dem Rest der EU zu groß.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. Mai 2014


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