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Zwischen Krieg und Waffenruhe

Vierseitige Krisengespräche zur Ukraine fortgesetzt / Neue Führung für die Armee

Von Klaus Joachim Herrmann *

Auf den Krieg im Donbass hatten neue Verabredungen zwischen der Ukraine, Deutschland, Frankreich und Russland vom Vorabend noch keine erkennbaren Auswirkungen.

Mit gegensätzlichen Forderungen sah sich Donnerstag das ukrainische Parlament konfrontiert. Vor dem Gebäude war das aus dem Rechten Sektor hervorgegangene Bataillon »Donbass« zur Sicherung der Volksvertreter vor »Provokationen« aufgezogen. Als solche galten auch Proteste von Demonstranten, die Frieden für die Ostukraine forderten. Sie wurden abgeführt. Dabei war offiziell versichert worden, friedlich und unbewaffnet könne jeder seine Meinung äußern.

Die Kämpfer des »Donbass«, die sich schon als »Selbstverteidigungskräfte« des Maidan bewährt haben, forderten wiederholt die Verhängung des Kriegsrechtes über die Ostukraine und ihre eigene unverzügliche Entsendung gegen die Aufständischen. Aus dem Donbass wurden weitere Kampfhandlungen berichtet.

Ein schneller Waffenstillstand hingegen war Thema einer weiteren Telefonkonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und Russlands Staatschef Wladimir Putin. Angekündigt wurde laut dpa auch ein Gespräch zwischen der Kanzlerin, Hollande und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko.

Am Vorabend hatten sich die Außenminister der vier Staaten bei einem Krisentreffen in Berlin auf neue Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ostukraine verständigt. Spätestens am Samstag soll die Kontaktgruppe aus der Ukraine, Russland und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu Gesprächen über eine Feuerpause zusammenkommen.

Im Parlament verkündete Präsident Poroschenko aber erst einmal die Stärkung der Armee »mit entschlossenen Kräften«. Er ließ Waleri Geletej zum neuen Verteidigungsminister und Viktor Muschenko zum Generalstabschef ernennen. Damit kam in diesem Jahr bereits der dritte Verteidigungsminister ins Amt. Der erste hatte nach der gewaltlosen Abspaltung der Krim seinen Helm nehmen müssen. Der Zwischenruf einer Abgeordneten, dass die Armee Menschen töte, wurde aus dem Saal mit »Halt den Mund!« quittiert. Beleidigungen der Streitkräfte würden nicht zugelassen, versicherte Poroschenko unter dem Beifall des Parlaments. Dessen Mitglieder erhoben sich dazu demonstrativ von den Sitzen.

Auf dem Maidan befinden sich nach einem Bericht der TV-Station TSN noch rund 400 Menschen. Es gehe darum, dass der Maidan »nicht vergessen« werde, und um die »Kontrolle der Regierung«, erklärte ein Mann. Protestierer vertrieben sich die Zeit mit Ballspielen oder Peitschenknallen. Wiederholt hatte der neue Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko den Platz von Zelten und Barrikaden räumen wollen. Am Vortag waren Sprengsätze gefunden worden.

* Aus: neues deutschland, Freitag 4. Juli 2014


Frauen gegen Krieg

Ukrainisches Militär stoppt vor Slowjansk. Luftangriffe auf Wohnviertel, Korruption im Hinterland

Von Reinhard Lauterbach **


Die ukrainischen Regierungstruppen haben ihren Großangriff auf die von ihnen eingeschlossene Stadt Slowjansk im Donbass vorerst gestoppt. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Kiew begründete das damit, daß die Rebellen Container mit Chemikalien aufgestellt hätten. Sollten diese durch Beschuß undicht werden oder explodieren, sei die Zivilbevölkerung gefährdet. Gefährdet sind wohl mehr die eigenen Truppen. Denn noch am Mittwoch war von solcher Zurückhaltung wenig zu spüren, als ein Kampfflugzeug der Luftwaffe ein Wohnviertel in der Nähe von Lugansk angriff. Dabei kamen nach Angaben örtlicher Behörden mindestens zehn Zivilisten ums Leben. Obwohl die »Volksrepublik Lugansk« Bilder des zerstörten Mehrfamilienhauses veröffentlichte, bestritt Kiew, daß der Angriff überhaupt stattgefunden habe.

Die Kiewer Machthaber sind mit dem Verlauf der militärischen Operationen im Osten des Landes offenbar unzufrieden. Denn am Donnerstag wurde mit General Walerij Geletej bereits der dritte Verteidigungsminister seit dem Umsturz im Februar ernannt. Selbst der US-Informationsdienst Stratfor schrieb in einer am Donnerstag geposteten Analyse von mangelnder Kampfmoral der Armee, obwohl die ukrainischen Truppen von »westlichen Partnern« mit Aufklärungsdaten versorgt würden. Ob sich diese westliche Unterstützung auf Satellitenbilder beschränkt, ist unklar; Vertreter der Aufständischen sprechen seit mehreren Tagen davon, daß Flugzeuge der Luftwaffe amerikanische Bomben abwürfen. Überprüfen lassen sich diese Vorwürfe nicht.

Nur bedingt erfolgreich ist auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht in der Ukraine. Obwohl selbst 60jährige einberufen wurden und die Aktion damit Volkssturmqualität erreicht, werden Stellungsbefehle vielfach ignoriert; dies gelte selbst für Reserveoffiziere. Im Hinterland gibt es neben Spendenkampagnen für die Streitkräfte immer wieder auch Aktionen von Müttern, die ihre Söhne aus dem Krieg zurückholen wollen. So blockierten vor einigen Tagen bei Shitomir Frauen die wichtigste Ost-West-Straße der Ukraine mit der Parole »Politiker, schickt eure eigenen Kinder in den Krieg«. Der Anfang der Woche im Donbass erschossene russische Kameramann Anatolij Kljan wollte eine ähnliche Antikriegsaktion filmen.

Parallel blüht im Hinterland der Zusammenhang von Krieg und Korruption. Immer wieder bringen Medien Meldungen darüber, daß die Truppe ihr Benzin zu überhöhten Preisen einkaufe. Auf einem Kiewer Markt gab es am Mittwoch Aufregung, als Maidan-Aktivisten Fleischkonserven, die für die Soldaten gespendet worden waren, privat zu verkaufen suchten. Die Polizei zog es vor, es beim Ausstellen eines Protokolls zu belassen. Selbst Igor Kolomojskij, der von Kiew eingesetzte Gouverneur von Dnepropetrovsk und als großzügiger Sponsor der »Antiterroroperation« gerühmt, steht im Verdacht, sein gespendetes Geld durch Benzingeschäfte mit der Armee rasch wieder hereinzuholen. So berichtete die Ukrainskaja Pravda, er habe unter dem Vorwand, es dem Zugriff der Aufständischen zu entziehen, sogenanntes »technisches Öl« aus den ostukrainischen Pipelines abpumpen und in eine ihm gehörende Raffinerie bringen lassen. Den Wert des Öls beziffern ukrainische Medien auf bis zu 600 Millionen US-Dollar. Das »technische Öl« befand sich teilweise seit dem Bau der Leitungen in den 1970er Jahren in den Rohren, um diese gegen den Druck des Erdreichs zu stabilisieren. Um die Leitungen wieder in Betrieb nehmen zu können, müßten sie erst wieder mit Öl gefüllt werden. Da die Ukraine dieses Geld auf absehbare Zeit nicht besitzt, bedeutet Kolomojskijs Abpumpaktion faktisch, daß der russische Rohstofftransit sabotiert ist, aber auch, daß sich die Ukraine mittelfristig als Transitland selbst aus dem Spiel nimmt.

In dieser Situation soll am Freitag eine weitere Runde der Sondierungsgespräche zwischen Vertretern der Kiewer Regierung, der Aufständischen, Rußlands und der OSZE stattfinden. Auch die Außenministergespräche zwischen Deutschland, Frankreich, Rußland und der Ukraine sollen fortgesetzt werden. In Polen sieht man hierin den Versuch Rußlands, sich unter Umgehung Warschaus mit den »europäischen Kollegen« zu einigen, die Wladimir Putin in seiner außenpolitischen Grundsatzrede vom Dienstag auffällig geschont hatte. Dabei, so klagte beleidigt die Gazeta Wyborcza, hätte doch »der Anstand geboten«, auch Warschau als größtem Verteidiger der Ukraine einen Platz am Verhandlungstisch anzubieten. Das wird offenbar auch in Westeuropa nicht überall so gesehen.

** Aus: junge Welt, Freitag 4. Juli 2014


Schlimmeres verhüten

Klaus Joachim Herrmann über das Bemühen um Waffenruhe in der Ukraine ***

Für ihr Bemühen um Waffenruhe in der Ukraine verdienen sich die Bundeskanzlerin und ihr Außenminister Respekt. Sie wollen »Schlimmeres verhüten«. Beim Machtkampf um den Platz der Ukraine in der EU oder bei Russland haben deutsche Politiker aber kräftig mitgemischt – bis zum Präsidentensturz. Es wäre doch auch zu schön gewesen, mit dem CDU-Zögling Vitali Klitschko einen Gewährsmann in diesem Amt zu haben. Der bekam den Trostpreis, das Land die Zerreißprobe bis in den Krieg.

Nicht zuerst Brüssel und Berlin installierten ihre Favoriten in Kiew – »Fuck the EU!« Hilflos zugesehen wurde der Durchsetzung US-amerikanischer Kandidaten und Interessen. Als Leute Washingtons sollen Präsident und Premier nach der EU auch der NATO und damit deren Führungsmacht den Weg direkt bis an die Grenzen Russlands bereiten. Waffenruhe ist nicht vorgesehen. Warum sonst ließ Kiew am Montag wohl die Verabredung mit den europäischen Großmächten Deutschland, Frankreich und Russland platzen, wenn nicht wegen einer noch größeren Macht?

Vor allem die Europäer als angebliche Verbündete wurden damit übel vorgeführt. Sie sollten künftig für die Bürger der Ukraine, aber auch für sich selbst Schlimmeres verhüten. Ganz besonders mit Blick auf ein längst ernstlich beschädigtes Verhältnis zu Russland.

*** Aus: neues deutschland, Freitag 4. Juli 2014 (Kommentar)


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