Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wackliger Burgfrieden

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko genießt den Krieg, denn der Frieden wird unangenehm

Von Reinhard Lauterbach *

Nach außen ist der von den Kiewer Machthabern kontrollierte Teil der Ukraine ein einig Volk von Brüdern. Bürger spenden Geld für die Armee, Rentnerinnen und Studenten aus Lwiw fahren über die polnische Grenze und kaufen je einen Stahlhelm und eine kugelsichere Weste, um ein offizielles Waffenembargo zu unterlaufen.

Doch hinter den Kulissen braut sich Ärger für Präsident Petro Poroschenko zusammen. Vordergründig geht der Streit um die richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Fortführung des Krieges im Donbass. Reicht die »Antiterroroperation« oder bedarf es der Ausrufung des Kriegszustandes? Poroschenko und seine Umgebung sind bisher der ersten Option zugeneigt. Sie bietet propagandistisch einige Vorteile. Die Eingriffe in die bürgerlichen Rechte der Bevölkerung halten sich in Grenzen, vorgezogene Parlamentsneuwahlen zum Parlament und damit die Entmachtung der Janukowitsch-Anhänger wären nicht in Gefahr, vor allem aber: Für eine »Antiterroroperation« ist der Nationale Sicherheitsrat verantwortlich. Wenn die Sache nicht gut läuft, ist der Präsident formal aus der Schußlinie. Wird dagegen das Kriegsrecht ausgerufen, treten die Bürgerrechte weitgehend außer Kraft. Die Pressefreiheit der senderbesitzenden Oligarchen würde durch eine Militärzensur ersetzt, jedes Unternehmen und jeder Bürger können durch Anordnung des Militärkommandos zu Dienstleistungen für den Krieg herangezogen werden. Wichtigster Unterschied aber ist das Kommando: Das hat beim Kriegesrecht der Präsident. Aus dieser Logik heraus muß Poroschenko Interesse daran haben, das Geschehen staatsrechtlich auf der niedrigeren Ebene zu halten.

Die Verfechter einer Ausrufung des Kriegsrechts kommen vor allem aus den Reihen der mitregierenden faschistischen Swoboda-Partei. Neuerdings haben sie allerdings Unterstützung von unerwarteter Seite bekommen. Auch die renommierte und einflußreiche Internetplattform »ukrainskaja pravda« veröffentlicht ausführliche Plädoyers für das Kriegsrecht, und setzt noch eins drauf: Sie kritisiert, demokratischn Ideale seien im Bürgerkrieg eine Illusion. Man könne nicht mit einem Bein in Brüssel stehen und mit dem anderen in Slowjansk, schrieb derBlogger Michail Dubinjanskij dieser Tage. Demokratie sei etwas für ruhige politische Zeiten, ebenso die Appelle der EU zu Kompromißlösungen. Schon der Maidan habe gesiegt, weil er deren Ratschläge in den Wind geschlagen habe, fährt der Autor fort. Bedenkt man, daß die weitgehend werbefrei auftretende Plattform mit US-Geld finanziert wird, sind Artikel wie diese als ein indirektes Statement der faktischen Führungsmacht Kiews zu sehen.

Gleichzeitig ist die oligarchische Einheitsfront gegen den Emporkömmling Wiktor Janukowitsch, die dessen Sturz ermöglichte, kurz vor dem Zerbrechen. Der für seine aggressive Geschäftspolitik bekannte Unternehmer Igor Kolomoiski hat nicht vor, den Posten des Gouverneurs des wichtigen Industriegebiets Dnipropetrowsk nur dazu zu nutzen, für Ruhe zu sorgen. Durch finanzielle Machenschaften hat er sich seine Aufwendungen für die Kriegführung wahrscheinlich längst erwirtschaftet. Vor allem aber schuf er sich durch mehrere von ihm bezahlte Freiwilligenbataillone, die im Donbass gegen die Aufständischen kämpfen, eine Privatarmee. Nach einigen Presseberichten soll auch der Rechte Sektor inzwischen in Kolomoiskis Sold stehen. Jedenfalls hat die Schlägertruppe ihr Hauptquartier von Kiew nach Dnipropetrowsk verlegt.

Kolomojskij werden verschiedene politische Optionen zugeschrieben. Die harmloseste ist die Gründung einer eigenen Partei, die sich auf die östliche Zentralukraine, einen Streifen von Charkiw bis nach Odessa, stützen soll – neben dem Donbass das industrielle Kernland der Ukraine. Prognosen sagen einer solchen Partei – noch gibt es sie nicht – etwa 20 Prozent der Stimmen voraus. Der Donbass, bisher die Machtbasis des Oligarchen Rinat Achmetow, müßte nach dem Krieg zunächst wiederaufgebaut werden. Will Achmetow seine Position dort halten, würde das vor allem sein Geld kosten und sein Mitmischen in Kiew einschränken. Große Teile der der dortigen Elite mißtrauen ihm. In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung des Kiewer Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk vor einigen Tagen interessant: Er forderte die Vertreter der Oligarchie auf, »zusammenzuschmeißen« und der Donbass in einer gemeinsamen Anstrengung wieder zu einem funktionsfähigen Teil des Landes auszubauen. Gleichzeitig vertrat Jazenjuk, der noch vor Wochen im Internet die Bewohner des Donbass als Untermenschen (»Subhumans«) schmähte, nun plötzlich die Auffassung, man solle den Donbasslern das »Recht auf einen Fehler« zubilligen und sie nicht ausgrenzen.

Aber Oligarch Kolomoiski ist nicht der einzige einflußreiche Mensch in der Ukraine, der politische Pläne schmiedet. Auch die Kommandeure etlicher Freiwilligenbataillone, die die Kampfhauptlast auf Kiewer Seite tragen, entwickeln Ambitionen. Die wichtigsten sind Dmitro Jarosch vom Rechten Sektor und Semjon Semjontschenko, Anführer des Bataillons »Donbass« und selbst in Charkiw gebürtig. Er versucht im Moment, das Donbass als Machtbasis seiner Miliz auszubauen. Semjontschenko gibt viele Interviews und betont immer wieder seine Loyalität gegenüber Kiew – allerdings befristet bis zum »Sieg«. Für die Zeit danach hält er sich ausdrücklich alles offen.

Für Präsident Poroschenko ergibt sich aus alldem ein objektives Interesse, den Krieg im Donbass zu verlängern. Jedes rasche Ende der Kämpfe hätte zwei Folgen: der inneroligarchische Burgfrieden würde schnell enden, weil jeder bei der Neuverteilung dabeisein will; und die im Moment an der Front gebundenen Maidan-Kämpfer wären frei und damit unberechenbar. Denn sie sind vor allem ihren eigenen Kommandeuren gegenüber loyal, während sie die Kiewer Oligarchen verabscheuen. Ein Ausweg für Poroschenko könnte sein, auf der Krim eine neue Front aufzumachen.

* Aus: junge Welt, Montag 21. Juli 2014


Flucht nach vorn?

In Kiew wird lautstark zur Rückeroberung der Krim aufgerufen

Von Reinhard Lauterbach **


Als Anfang dieses Monats die Kiewer Regierung mit Walerij Geletej ihren dritten Verteidigungsminister in viereinhalb Monaten ernannte, krönte der seinen ersten öffentlichen Auftritt mit der Ankündigung einer »Siegesparade im ukrainischen Sewastopol«. Die Sprücheklopferei hat womöglich einen ernsten Kern. Vor etwa zehn Tagen berichteten russische Medien, daß die Ukraine an den Landzugängen zur Krim Streitkräfte zusammenziehe. Gleichzeitig kündigten Angehörige des Rechten Sektors in Internetforen an, demnächst zur Befreiung der Krim zu schreiten. Eine Rückeroberung der Krim würde für die Ukraine den offenen Krieg mit Rußland bedeuten. Dessen Außenminister Sergj Lawrow hat für diesen Fall bereits die Anwendung der russischen Verteidigungsdoktrin angekündigt. Gäbe Rußland an dieser Stelle nach, hätte Präsident Wladimir Putin nicht nur international das Gesicht verloren, sondern auch im Inland. Seine Popularität ist auf lange nicht gesehene Werte gestiegen, ein Rückzieher wäre politischer Selbstmord. Mag sein, daß es Petro Poroschenko und seinen US-Hintermännern genau darauf ankommt: Putins Machtbasis zu untergraben.

Das Einfachste an einer Rückeroberung der Krim wäre die Propaganda. Bisher hat nicht einmal Belarus Beitritt der Krim zur russischen Födera­tion offiziell anerkannt. Eine Berufung auf Verteidigung bliebe wahrscheinlich ohne Widerhall. Deutlich schwieriger wäre allerdings die militärische Durchführung. Zu Lande ist die Krim nur über zwei schmale Zugänge erreichbar, was heißt: Rußland käme mit relativ wenigen Verteidigern aus. Ein Angriff per Luftlandung scheint für die Dauer des Kriegs im Donbass unwahrscheinlich, weil die beiden ukrainischen Brigaden dort benötigt werden. Eine Landung von See dürfte ausscheiden, weil die bedeutungslose Marine durch die Übernahme der Krim weitere Schiffe verloren hat und momentan nur auf dem Papier besteht. Würde Kiew die Rückeroberung der Krim mit Washingtoner Rückendeckung versuchen, könnte dies endgültig der Punkt sein, an dem sich der Konflikt nicht mehr eingrenzen läßt.

** Aus: junge Welt, Montag 21. Juli 2014

Erscheint im August 2014: Das Buch zum Thema:

"Ein Spiel mit dem Feuer"
Im Papyrossa-Verlag ist Ende August 2014 ein Ukraine-Buch erschienen
Mit Beiträgen von Erhard Crome, Daniela Dahn, Kai Ehlers, Willi Gerns, Ulli Gellermann, Lühr Henken, Arno Klönne, Jörg Kronauer, Reinhard Lauterbach, Norman Paech, Ulrich Schneider, Eckart Spoo, Peter Strutynski, Jürgen Wagner, Susann Witt-Stahl
Informationen zum Buch (Inhalt und Einführung)




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