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Europas Schlusslicht

Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine liegt derzeit noch immer deutlich unter jenem von 1991, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung

Von Hannes Hofbauer, Wien *

Die Ukraine hat sich vom Schock des Zerfalls der Sowjetunion wirtschaftlich und sozial bis heute nicht erholt.

Eingezwängt zwischen dem Assoziierungsangebot der Europäischen Union, das eine wirtschaftliche Unterwerfung mit großer sozialer Sprengkraft vorsieht, und der Abhängigkeit von russischen Energieimporten, die hohes Erpresserpotenzial bergen, findet sich die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeitserklärung in einer misslichen Lage. Schon ein Blick auf die gängigen makroökonomischen Zahlenreihen zeigt das ganze Ausmaß der Katastrophe – und erklärt zugleich den Ausbruch der Revolte und ihre sozialen Wurzeln. Das pro Kopf gerechnete Bruttoinlandsprodukt beträgt umgerechnet 5900 Euro pro Jahr. Damit ist zwar nichts über die Verteilung gesagt, aber im Vergleich mit anderen Ländern wird doch die wirtschaftliche Lage klar. Russland beispielsweise weist mit 14 000 Euro ein mehr als doppelt so hohes BIP pro Kopf auf, die EU-28 liegen bei fast 25 000 Euro.

Als einzigem Land auf dem Kontinent ist es der Ukraine nicht gelungen, das Bruttoinlandsprodukt über jenes von 1991, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung, zu heben. Indexiert man das Referenzjahr 1991 mit 100, dann liegt das BIP im Jahr 2012 – die jüngste verfügbare Statistik – bei 69. Diese Zahlen des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) zeigen deutlich, dass sich die Ukraine vom Schock des Zerfalls der Sowjetunion bis heute nicht erholt hat.

Auch der Bevölkerungsverlust von 12,5 Prozent im Zeitraum zwischen 1990 und 2013 belegt das eindrucksvoll. Lebten am Ende der Ära Gorbatschow noch 52 Millionen Menschen im Land, sind es heute nur mehr 45,5 Millionen. Junge und Flexible emigrieren. Kein Wunder, wenn man sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt ansieht. Der durchschnittliche Bruttolohn ist der niedrigste in ganz Europa. Umgerechnet magere 295 Euro landen pro Monat auf dem Konto eines Beschäftigten. In Russland sind es immerhin brutto 667 Euro, und auch in Bulgarien verdient der statistische Durchschnittsverdiener mehr – nämlich 397 Euro.

Was steigt, sind die Auslandsschulden, die derzeit 74 Prozent des BIP oder 102 Milliarden Euro betragen; vor zwölf Jahren waren es erst 37 Prozent des BIP oder zwölf Milliarden Euro. Der entscheidende Budgetposten ist die Gasrechnung. Der Überschwang nationaler und liberaler Ideologie im Zuge der sogenannten »Orangefarbenen Revolution« 2004 hat dazu geführt, die Augen vor der Abhängigkeit von Gazprom zu verschließen und bar jeder Vernunft Politik zu machen. Julia Timoschenko wurde wegen Amtsmissbrauchs beim Aushandeln überteuerter Gaspreise verurteilt. Die unterschiedlichen Preise, die Minsk und Kiew für sibirisches Gas zahlen, sprechen Bände. Während Belarus 169 Dollar für 1000 Kubikmeter überweist, verlangt Gazprom von der Ukraine 420 Dollar. Die Folge: Zahlungsausfall. Gegenwärtig ist Kiew laut Gazprom mit 1,89 Milliarden Dollar im Rückstand, was Moskau weitere Druckmittel in die Hand gibt.

Die Außenhandelsbeziehungen machen klar, wie sehr die Ukraine Russland als Wirtschaftspartner braucht. Von insgesamt 53 Milliarden Euro, für die Waren exportiert werden, gehen laut WIIW 25 Prozent nach Russland und weitere acht Prozent in die mit Moskau verbundenen Zollunionsstaaten Kasachstan und Belarus. Fünf Prozent der ukrainischen Exporte nimmt die Türkei, vier Prozent Ägypten ab, gefolgt vom ersten EU-Land Polen mit 3,5 Prozent. Der deutsche Anteil an der ukrainischen Ausfuhr liegt bei 2,3 Prozent. Bei den Importen sieht es nicht viel anders aus. Aus Russland kommen 32 Prozent der Einfuhren, gefolgt von China mit neun und Deutschland mit acht Prozent.

Interessant auch die Struktur des Außenhandels. Während sich der ukrainische Export in die EU in der Hauptsache auf Rohstoffe wie Kohle und Stahl beschränkt, führt Kiew in Richtung Russland Maschinen, Fahrzeuge, Flugzeuge und Lebensmittel aus. Das heißt, die Wertschöpfung der in den Westen gelieferten Waren liegt weit unter jener, die nach Russland gehen. Und die Produkte, die der russische Markt abnimmt, wären auf den EU-Märkten nur schwer oder gar nicht loszuschlagen; einerseits deshalb, weil Normen und Qualität nicht den Vorgaben der EU entsprechen, und andererseits, weil Brüssel etwa bei landwirtschaftlichen Produkten Protektionismus betreibt. Einer vom Westen gewünschten raschen Umorientierung der ukrainischen Ökonomie steht schlicht die Wirklichkeit entgegen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. März 2014


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