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Am Abgrund

Die ukrainische Volkswirtschaft steht kurz vor dem Kollaps. Die Rechnung soll die Bevölkerung bezahlen

Von Reinhard Lauterbach *

Die Zahlen, die die westliche Wirtschaftspresse Anfang dieses Monats über die Ukraine veröffentlichte, sind alarmierend. Die Devisenreserven des Landes betrügen noch etwas über sechs Milliarden US-Dollar, schrieb die US-Zeitschrift Forbes am Montag. Das entspreche dem Gegenwert der Importe über fünf Wochen. Die Landeswährung Griwna steht inzwischen mit 26 pro US-Dollar auf einem Drittel des Werts, den sie vor dem Euromaidan hatte; allein am 5. Februar schmierte sie um 30 Prozent ab, nachdem die Nationalbank erklärt hatte, keine Devisenauktionen mehr abzuhalten. Das nährte bei den Händlern die Furcht, es könne schon bald in der Ukraine physisch keine Dollars oder Euros mehr geben und verstärkte den Run aus der Griwna.

Der aktuelle Währungsverfall mag auch spekulative Ursachen haben. Aber hier werden allenfalls fundamentale Schwächen der ukrainischen Volkswirtschaft übertrieben. Selbst die Regierung Jazenjuk räumt ein, dass der Krieg im Donbass – abgesehen von den laufenden Kosten für das Militär und ohne die noch nicht kalkulierbaren Kosten eines Wiederaufbaus – die Wirtschaftsleistung und die Steuereinnahmen um 20 Prozent gedrückt habe. Das entspricht in groben Zügen dem Anteil, den die Schwerindustrie der Ostukraine am Sozialprodukt des Landes hatte. Rückwirkungen auf andere Landesteile – etwa in Form ausgefallener Lieferungen an die Betriebe im Osten – sind darin noch nicht erfasst. Laut offiziellen Angaben über die direkten Kosten des Krieges betrugen diese zuletzt etwa 250 Millionen US-Dollar monatlich – was das 2,5-fache der Summe ist, die Poroschenko und Co. anfänglich nannten. Die Antwort Kiews lautet offenbar, die Gelddruckmaschine anzuwerfen. Die Inflation der Griwna ist 2014 auf 25 Prozent gestiegen und wird für dieses Jahr nur wenig niedriger erwartet. Die Zentralbank versucht, mit Leitzinserhöhungen gegenzusteuern, aber ein Sprung von 14 auf 19,5 Prozent ist allenfalls geeignet, die Reste der Realwirtschaft des Landes abzuwürgen.

Die Ukraine ist also dringend auf externe Finanzquellen angewiesen. Von Russland hat sie nichts zu erwarten und kann froh sein, wenn Moskau darauf verzichtet, einen im Dezember 2013 an Wiktor Janukowitsch gewährten Kredit über drei Milliarden US-Dollar fällig zu stellen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat der Ukraine im Laufe des vergangenen Jahres Kredite über 17 Milliarden US-Dollar gewährt. Jetzt wurde ein neues Hilfspaket zugesagt, wie Deutschlandfunk am Donnerstag meldete. IWF-Chefin Lagarde erklärte, dass das vom Bankrott bedrohte Land zunächst 17,5 Milliarden Dollar über vier Jahre hinweg erhalte. Im Gegenzug müsse die Ukraine »wirtschaftliche Reformen« umsetzen.

Das jüngste Memorandum, in dem die Geldgeber aus Washington die Bedingungen für weitere Finanzhilfen zusammengefasst haben, umfasst nach Indiskretionen aus dem Kiewer Finanzministerium die Entlassung von 230.000 Bediensteten des öffentlichen Dienstes, darunter zahlreiche Lehrer und Ärzte, die weitere Erhöhung der Gas-, Strom- und Fernwärmetarife um das Mehrfache und einen Lohn- und Rentenstopp bis auf weiteres. Was das angesichts einer Inflationsrate von 25 Prozent bedeutet, ist klar: Die Bevölkerung soll die Rechnung für Krieg und Misswirtschaft bezahlen. Dass sich an letzterer nichts Entscheidendes ändern wird, macht eine Personalentscheidung des ukrainischen Präsidenten vor einigen Tagen deutlich: Auf Druck des in Dnipropetrowsk als Gouverneur tätigen Oligarchen Igor Kolomojskij entließ er den Generalstaatsanwalt Wiktor Jarema. Der hatte nämlich im Zuge der Korruptionsbekämpfung etwas zu sehr in Kolomojskijs Umfeld ermittelt. Der designierte Nachfolger, Jaremas Stellvertreter, kann dagegen auf eine lange Karriere unter sämtlichen Präsidenten der Ukraine zurückblicken und dürfte schon deshalb wissen, welchen Personen er besser nicht zu nahe tritt.

In dieser Situation spitzt sich auch die innenpolitische Konfliktlage zu, Sozialproteste mehren sich. In Kiew streikten tagelang die Straßenbahnfahrer, weil sie seit drei Monaten kein Gehalt bekommen hatten; mehrere tausend Lehrer protestierten gegen geplante Entlassungen im Bildungswesen, und vor der Kiewer Stadtverwaltung forderten Tausende den Rücktritt von Bürgermeister Klitschko wegen drastischer Mieterhöhungen. Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren sind gleichwohl verfrüht. Als Organisator dieser Kundgebungen tritt meist die faschistische Swoboda-Partei in Erscheinung. Seitdem sie für die Regierungskoalition nicht mehr benötigt wird, versucht sie offenbar, über soziale Demagogie einen Neustart zu schaffen und die Proteste gleichzeitig durch nationalistische Färbung zu zähmen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 13. Februar 2015


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