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Vom Regen in die Traufe und danach in die Dachrinne

20 Jahre Systemwechsel an Donau und Theiß

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Rückblickend kann die ungarische Geschichte der zwei Jahrzehnte seit dem Systemwechsel als Abfolge einander teilweise rasch ablösender, teilweise langfristiger Dilemmata beschrieben werden.

Ganz am Anfang war die größte Frage, ob die Machtelite des alten Regimes von sich aus auf ihre Privilegien verzichten würde. Damalige Analysen gingen mehrheitlich davon aus, dass die Option des friedlichen Wandels real war, weil sich die spätstaatsozialistische Technokratie als zentrale Kraft innerhalb der politischen Elite der Marktwirtschaft schon mehr oder weniger verschrieben hatte. Darum sei sie fähig, ihre politische, wirtschaftliche und teils kulturelle Macht in Geld und dadurch in Kapital zu konvertieren. Doch die Wenigsten hätten dieser Parteielite zugetraut, was tatsächlich geschehen sollte: dass in Ungarn gerade sie zur wichtigsten inländischen Triebkraft des Systemwechsels wurde. Kaum jemand innerhalb des sogenannten Ostblocks sah voraus, dass sich die eigentlichen Inhaber der wirtschaftlichen und politischen Macht in die Besitzer und Manager der multinationalen Unternehmungen verwandeln würden.

In Sachen Privatisierung, dem zweiten großen Problem der damaligen Zeit, stellte sich in Ungarn einerseits die Frage, wie in einem Land mit exorbitanter Staatsverschuldung und ohne ernstzunehmendes Privatkapital der Verkauf des Staatseigentums vor sich gehen sollte. Andererseits bestand Uneinigkeit darüber, ob dabei außer den wirtschaftlich-politischen auch gesellschaftliche, soziale, ja moralische Faktoren eine Rolle spielen sollten oder durften.

Im Gegensatz zum ersteren Dilemma wurde dieser Fragenkomplex fast gänzlich hinter dem Rücken der ungarischen Öffentlichkeit diskutiert. Die gesamte politische Elite und die tonangebenden Volkswirtschaftler vertraten einstimmig die Meinung, dass moralische Kategorien bei der Privatisierung nichts verloren haben. In wirtschaftlichen Fragen gehe es nicht um Moral, derartige Ideen stammten aus der Zeit kommunistischer Propagandaparolen, deren Platz im geistigen Abfallkübel sei.

In der damaligen Tschechoslowakei und später in Tschechien entschied man sich für eine Privatisierung zugunsten möglichst breiter Bevölkerungskreise. In Ungarn dagegen fiel das staatliche Eigentum sehr rasch und zu einem sehr niedrigen Preis einer dünnen Schicht in die Hände. Diese neue Eigentümerschicht besteht seitdem aus zwei Gruppen. Den dominierenden multinationalen Großunternehmen und sonstigen ausländischen Investoren steht ein deutlich kleinerer Kreis ungarischer Großunternehmer rund um die politischen Parteien gegenüber.

Über die Rolle des Staates im Privatisierungsprozess und überhaupt gab es dagegen weniger Diskussion. Rasch siegte die neoliberale Vision vom »minimalen Staat«, doch in der Realität ging der Rückbau des Staates gar nicht so leicht.

Erstens entwickelte sich parallel mit der Allgegenwärtigkeit des Kapitalismus eine immer breitere und tiefere Armut, die ein Drittel der Bevölkerung an oder unter das Existenzminimum trieb. Dies wiederum brachte die Forderung nach einem Sozial- oder gar Wohlfahrtsstaat hervor, wie er vor dem Systemwechsel selbstverständlich gewesen, wenngleich in seiner Existenz vielfach kaum zur Kenntnis genommen worden war.

Zweitens erwartete die neue wirtschaftliche Führungsschicht immer neue und satte staatliche Aufträge. Und drittens erforderte der Anschluss an die EU eine nicht geringe Aufstockung der Zahl der Beamten. All dies führte zur Herausbildung einer neuen, teils überflüssigen wuchernden staatlichen Bürokratie und, in Folge der Parteibindung vieler Großunternehmen, unvermeidlich zu florierender Korruption.

All dies geschah größtenteils unter Regierungsbeteiligung der staatsfeindlich eingestellten Liberalen, die, statt sich um die Ursachen zu kümmern, munter weiterplapperten von der Überflüssigkeit des Staates. So sehen wir heute in Ungarn die sonst eher in Staaten des Südens anzutreffende Kombination von nahezu vollständiger wirtschaftlicher Entmachtung eines aufgeblähten, korrupten und unerträglich ineffizienten und bürgerfeindlichen Staates.

In engstem Zusammenhang mit allem, was bisher gesagt wurde, steht ein Phänomen, über das in Ungarn zur Zeit des Umbruchs wenig nachgedacht wurde, weil es als unbeeinflussbar und als Segen für die Menschheit galt: die Globalisierung. Erst um die Jahrtausendwende stellten zumindest einige kritische Intellektuelle öffentlich fest, dass mit der Globalisierung eigene Dilemmata verbunden sind. Nach dem Untergang der Sowjetunion trat die Globalisierung in Osteuropa eigentlich als unbeschränkte Offensive des ohne Rivalen gebliebenen Großkapitals auf den Plan. Mit Bitterkeit musste man nun feststellen, dass die so heiß ersehnten neukapitalistischen Gesellschaften im Osten zu einer Art Kolonialgebiet und Experimentierzone des globalen Kapitals geworden waren. Außerdem nutzen internationale Finanz- und Wirtschaftskräfte die osteuropäischen Neukapitalismen erfolgreich im Kampf gegen die Arbeiterschaft der Zentrumsländer und der osteuropäischen Länder. Wenn die Arbeiter in Deutschland oder in Ungarn irgendwelche sozialen Leistungen verlangen, kommt umgehend die Drohung der Unternehmen mit der Umsiedlung weiter nach Osten.

Für diese Entwicklungen mussten die osteuropäischen Staaten außer dem wirtschaftlichen einen hohen politischen Preis zahlen. Parallel zum Erstarken eines Gefühls des Ausgeliefertseins in der breiten Bevölkerung war der Aufstieg immer radikalerer rechter politischer Kräfte zu beobachten. Dabei kann die Verantwortung der sogenannten linken Parteien nicht verschwiegen werden. In Ungarn haben größtenteils die Sozialdemokraten die beschriebene neoliberale Wende gemanagt. Dadurch entwickelten die Menschen das Gefühl, sich in ihrer Wehrlosigkeit nur noch an den nationalistisch-protektionistischen Slogans der Rechtsparteien festklammern zu können. De facto sind diese Parteien die einzigen, die die seit Beginn der Privatisierung verschwiegenen moralischen Fragen, wenngleich auf eine höchst verzerrte Weise, ansprechen.

Die Gegenwart bringt, wie könnte es anders sein, neue Dilemmata. Erstens ist unverkennbar, dass bestimmte Folgen der Weltwirtschaftskrise von 2008 und 2009 auf die Rücken der schwächeren osteuropäischen Verbündeten abgewälzt werden, die, eben weil sie sich mit Haut und Haar an »Europa« verkauft haben, immer weniger eigenständige Handlungsmöglichkeiten haben. Einen unwiderlegbaren Beweis lieferten die Reaktionen auf den Plan des österreichischen und des ungarischen Ministerpräsidenten für ein EU-weites Hilfspaket für den Osten im März dieses Jahres. Die großen europäischen Wirtschaftsmächte unter der Führung von Frau Merkel und Herrn Sarkozy fegten das Ansinnen vom Tisch, ohne irgendeine Alternative vorzuschlagen.

Zweitens gibt es in Ungarn von ein paar Einzelpersonen abgesehen keine unabhängige Intelligenz und nur eine schwache Zivilgesellschaft. Gespeist aus langer historischer Erfahrung ist anstelle von Auflehnung das individuelle, informelle Paktieren mit den Akteuren der Macht zum gleichsam gesamtgesellschaftlichen Reflex geworden. So kommt es einerseits zu einer starken Verflechtung der intellektuellen Schicht mit der politischen Elite, andererseits entwickeln die Intellektuellen eine elitäre Attitüde. Auf das Volk, so heißt es, sei eben nicht zu zählen, und diese Haltung trägt dazu bei, dass zivilgesellschaftliche Initiativen immer wieder ins Leere laufen.

Schon zur Zeit des Systemwechsels dauerte es kaum ein Jahr und schon wurde der neuen politischen Elite, auch Künstlern und Wissenschaftlern, nachdem sie mit Schaffung des Mehrparteienparlaments die Macht ergriffen hatten, das Volk lästig und dieser eigentliche Souverän mit allen Mitteln demobilisiert. Hinzu kommt heute, dass die Intellektuellen, wenn sie standesgemäß leben möchten, anders als im Westen kaum auf wissenschaftliche Institutionen und Fördergelder zurückgreifen können und sich deshalb nur allzu oft direkt an Wirtschaft und Politik verkaufen.

Die Tatsache, dass in den letzten zwanzig Jahren immer wieder das Gegenteil dessen eingetreten ist, was viele im Land erwartet oder gewünscht haben, hat im Bewusstsein der ungarischen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Einen Umbruch herbeizuführen scheint nicht unbedingt einfacher als es zur Zeit Moses' war, Wasser aus dem Fels zu schlagen.

Zahlen und Fakten - Im Krisensog

  • Ungarns Bruttoinlandsprodukt dürfte 2009 um etwa 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr schrumpfen. Auch für 2010 wird noch kein Wachstum erwartet (–0,6).
  • Die Arbeitslosenrate ist in Ungarn von offiziell 7,4 Prozent im Jahr 2007 über 7,8 Prozent ein Jahr später auf mittlerweile 10 Prozent gestiegen. Zudem bildet Ungarn hinsichtlich der Beschäftigungsquote, also des Anteils der Beschäftigten an der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren, mit nur 57 Prozent gemeinsam mit Polen, Rumänien und Malta das europäische Schlusslicht.
  • Die Arbeitskosten liegen in Ungarn bei durchschnittlich sieben Euro pro Arbeitsstunde, der Vergleichswert für Österreich beträgt das Vierfache, jener für Rumänien die Hälfte, nämlich 3,41 Euro.
  • Die Lebenserwartung von Männern liegt im heutigen Ungarn bei nur 69, bei Frauen bei 78 Jahren, gegenüber 77 bzw. 83 Jahren im benachbarten Österreich. Die Lebenserwartung der Roma-Bevölkerung liegt um sage und schreibe zehn Jahre niedriger als jene der übrigen Bevölkerung Ungarns.
  • Die Ausgaben für soziale Versorgung lagen im Jahr 2007 bei durchschnittlich 3500 Euro pro Kopf der Bevölkerung gegenüber 8600 in Österreich und 1300 in Rumänien.
  • Zwölf Prozent der ungarischen Bevölkerung sind auch nach Berücksichtigung aller Sozialleistungen, die sie erhalten, armutsgefährdet. Ihr Einkommen liegt bei weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens.
  • Die Ungleichheit der offiziell erfassten Einkommen hält sich in Grenzen: Das Einkommen der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung beläuft sich auf knapp das Vierfache des Einkommens der untersten 20 Prozent.
  • Die Durchschnittsrente betrug 2007 ganze 300 Euro im Monat.
  • Nach Schätzungen kommt der nicht erfassten Wirtschaftsleistung einschließlich der Schwarzarbeit in Ungarn ein Umfang von 15 bis 18 Prozent des Bruttonationalprodukts zu. gk


* Aus: Neues Deutschland, 14. November 2009


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