Orbán weist an
Antisemitische Hetze und ihr Gegenteil - auf Ungarisch
Von Gábor Kerényi, Budapest *
Der Marsch der Lebenden, der am
Sonntag in Ungarn stattfand, ist der
Erinnerung an die Opfer des Holocaust
gewidmet. Das Land wäre indes
nicht Ungarn, wenn eine Veranstaltung
dieser Art nicht von Komplikationen
begleitet wäre.
Eine antisemitische Vereinigung,
die sich »Goj-Biker« nennt (Goj
heißt auf Jiddisch: Nichtjude), hatte
ausgerechnet für den Tag des
Gedenkens an die ermordeten ungarischen
Juden einen Motorradkorso
angekündigt, der auch an
der größten Budapester Synagoge
vorbeiziehen sollte. Das Motto der
antisemitischen Aktion: »Gib Gas!«
Die Demonstration wurde von
der Polizei zunächst bedenkenlos
bewilligt. Im ungarischen Parlament
aber stellte die Sozialist Pál
Steiner schon vor rund zwei Wochen
die Frage, wie es möglich sei,
dass eine »erklärtermaßen antisemitische
Organisation« die Erinnerung
an über 400 000 ermordete
ungarische Juden und sechs Millionen
Opfer, die in Todeslagern
vergast oder auf andere Weise
umgebracht wurden, auf diese
Weise schänden dürfe. Wieso sei
»diese Provokation vom Budapester
Polizeipräsidium, das dem ungarischen
Innenministerium untersteht,
bewilligt worden«?
Ministerpräsident Viktor Orbán,
sonst um doppelzüngige Ausreden
nicht verlegen, entschied
daraufhin: Die körperliche Unversehrtheit
der Teilnehmer des Marsches
der Lebenden werde mit
»allen Mitteln« gesichert. Er weise
seinen Innenminister an, die Bewilligung
für den Korso der »Goj-
Biker« zurückzuziehen. Und so
geschah es noch am selben Tag.
Damit war die Geschichte nicht
abgeschlossen. Die »Goj-Biker«
fochten das Verbot vor Gericht an.
Ihr Antrag wurde aber abgelehnt.
Daraufhin meldeten die »Motorsportfreunde
mit nationaler Gesinnung
« eine neue Demonstration
auf einer anderen Route an, abermals
für den 21. April. Die wurde
von der Polizei wiederum genehmigt.
Woraufhin sich Pál Steiner
im Parlament abermals zu Wort
meldete und – kurz gesagt – fragte,
was das solle.
Es war vielleicht kein Zufall,
dass Orbán das Parlament diesmal
nicht mit seiner Gegenwart beehrte.
Offenkundig hatte er inzwischen
zum gewohnten Zynismus
zurückgefunden, jedenfalls ließ er
seinen Pressechef schlicht mitteilen:
»Immer mit der Ruhe, die Regierung
weiß, was sie zu tun hat.«
Und siehe da, die Polizei verbot
nun auch den zweiten zunächst
genehmigten Aufmarsch mit einem
»rechtskräftigen Bescheid«.
Die Botschaft für die ungarische
Rechte ist allerdings eben dieses
Pingpong, das Spiel mit dem Antisemitismus.
Das verstanden auch
die »Goj-Biker« und hielten trotz
Verbot eine kleinere Veranstaltung
ab – nicht am Nachmittag, als der
Marsch der Lebenden stattfand,
sondern am Vormittag, und nicht
in der Nähe der Synagoge. Der
Chef der Motorradgang erklärte in
einer kurzen Rede, man verzichte
diesmal auf eine Gegendemonstration,
sondern vertrete lediglich
die Interessen Hunderttausender
ungarischer Devisenschuldner. Die
Behörden gaben sich zufrieden,
der Marsch der Lebenden wurde
»nur« von obszönen israelfeindlichen
Plakaten begleitet, die etwa
10 000 Teilnehmer blieben von
physischen Übergriffen verschont.
Rein rechtlich betrachtet, war
die Komödie, die Orbán, sein Innenminister
und die ungarische
Polizei anlässlich des Holocaust-
Gedenkens geliefert hatten, eine
Farce. Erstens kann der Ministerpräsident
den Innenminister laut
Gesetz nicht anweisen, Veranstaltungen
zu verbieten. Und der Innenminister
kann der Polizei nicht
je nach Laune befehlen, einen solchen
Aufmarsch zu bewilligen oder
nicht zu bewilligen – zumal wenn
die Genehmigung schon einmal
erteilt wurde. Andersherum: Wenn
es doch eine Rechtsauslegung gibt,
die all dies rechtfertigt, dann ist
völlig unklar, wieso diese Möglichkeit
im Falle einer ähnlichen Versammlung
der Nachfolgeorganisation
der verbotenen Ungarischen
Garde im Vorjahr nicht angewendet
wurde.
Aber was soll’s. Absolutistische
Herrschaft hat auch ihre Vorteile,
denn schließlich siegte in Ungarn
wieder einmal die gute Sache über
die fade und lästige Gesetzlichkeit.
* Aus: neues deutschland, Dienstag, 23. April 2013
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