Zuckerbrot und Peitsche für Ungarn
Die EU-Kommission macht den Weg zu Finanzhilfen frei und verklagt die Regierung Orbán zugleich vor Gericht
Von Zsuzsanna Horváth, Budapest *
Im Tauziehen zwischen Ungarn und
der Europäischen Kommission ist es
diese Woche zu einem spürbaren
Ruck gekommen.
Die Europäische Kommission ließ
erklären, dass vonseiten der EU
dem Beginn von Verhandlungen
zwischen Ungarn und dem Internationalen
Währungsfonds (IWF)
über einen dringend benötigten
Notkredit nichts mehr entgegenstehe.
Zuvor hatte die ungarische
Regierung bezüglich des Gesetzes
zur Ungarischen Notenbank, das
aus Sicht der EU und der Europäischen
Zentralbank die Unabhängigkeit
der Ungarischen Zentralbank
gefährdete, einen weitgehenden
Rückzieher gemacht. Dieser
Entscheidung war ein Treffen
zwischen Kommissionspräsident
Barroso und Ministerpräsident
Viktor Orbán am Dienstag vorausgegangen.
Ungarns Regierungschef
sagte bei dem Treffen
zusätzliche Änderungen zu. Die
Kommission sieht nunmehr in
diesem Punkt von einer Weiterführung
des Vertragsverletzungsverfahrens
ab, wenn Budapest die
versprochenen Veränderungen
tatsächlich umsetzt, und gibt ihre
Kreditblockade auf, die Ungarn
schon viel Geld gekostet hat.
Die Unabhängigkeit der Justiz
und des Datenschutzbeauftragten
sieht die Kommission dagegen
weiter gefährdet. Die bisherigen
Zugeständnisse Budapests gehen
ihr nicht weit genug. Daher beschloss
die Brüsseler Behörde am
Mittwoch Klage beim Europäischen
Gerichtshof einzureichen.
Dem Beginn der Vorverhandlungen
über einen IWF-Kredit für
Ungarn aber steht grundsätzlich
nichts mehr im Wege. Wieder einmal
scheint sich das ungarische
Sprichwort »Geld spricht, Hund
bellt« zu bewahrheiten, wenngleich
die ungarische Regierung
natürlich nicht mit einem Hund zu
vergleichen ist. Die Verhandlungen
werden außer vom IWF und der
Regierung von Vertretern der EUKommission,
der Ungarischen
Nationalbank und der Europäischen
Zentralbank geführt.
Die Gerüchteküche in Ungarn
hat in den vergangenen Wochen
immer neue Behauptungen über
die zu erwartende Rezeptur des
IWF für das Land aufgestellt. In einem
Interview im Januar bezeichnete
der für Ungarn zuständige
Vertreter des IWF, Christoph Rosenberg,
Maßnahmen, die die Fiskalpolitik
des Landes »weniger regressiv
und wachstumsfreundlicher
« machen, als zentrales Element
der anzustrebenden Reformen.
Als besonders problematisch
bezeichnete er die auf stolze 27
Prozent erhöhte Mehrwertsteuer,
die um 18 Prozent erhöhten Mindestlöhne,
bestimmte staatliche
Eingriffe in die Lohngestaltung und
die Tatsache, dass im Rahmen des
neuen Systems einer Einheitseinkommenssteuer
von 16 Prozent
auch alle Niedrigverdiener Einkommenssteuer
bezahlen müssen.
»Dies wird zu Realeinkommensverlusten
und verringerten Jobchancen
für weniger qualifizierte
Arbeiter führen. Und es wird weniger
attraktiv sein, in Ungarn Geschäfte
zu machen.« In dieser Sicht
der Dinge erscheint die steuerliche
Entlastung der Besserverdienenden
durch die Einheitseinkommenssteuer
nicht als Problem.
Wachstumsorientierte Maßnahmen,
die den Staatshaushalt
belasten, bezeichnete Rosenberg
als »keine Option«. Und natürlich
sind dem IWF-Vertreter auch die
Sondersteuern für gewisse Unternehmenstypen
und die Banken
sowie die Maßnahmen der Regierung
zur Unterstützung von vielen
durch Devisenkredite verschuldete
Privathaushalte ein Dorn im Auge.
All dies habe »das Geschäftsklima
negativ beeinflusst«.
Im Match zwischen der finanziell
massiv bedrängten ungarischen
Regierung, dem IWF und
den europäischen Institutionen
stellt sich also nun die Gretchenfrage:
Bewegt Geld auch die ungarische
wirtschaftspolitische Welt?
* Aus: neues deutschland, Freitag, 27. April 2012
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