Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ungarn nach der Ruhe vor dem Sturm

Wahlsieger Orbán verkündet kompletten Umbau der Nation

Von Gabrielle Kardos, Budapest *

Nicht einmal mehr 50 Prozent der Wahlberechtigten gaben in der zweiten Runde der ungarischen Parlamentswahlen am Sonntag ihre Stimme ab. Erwartungsgemäß ging der rechtskonservative Bund Junger Demokraten -- FIDESZ mit der ersehnten Zweidrittelmehrheit im Parlament daraus hervor.

In den seit dem ersten Wahlgang am 11. April vergangenen zwei Wochen schien es ganz so, als sei nach dem bereits bombensicher feststehenden FIDESZ-Wahlsieg in Ungarn erst einmal eine Art abwartende Ruhe wenn nicht gar Apathie eingekehrt. Offensichtlich sind viele Bürger, deren Kandidaten in den Wahlkreisen weit abgeschlagen hinter den führenden Rechten lagen, gar nicht mehr zur Wahl gegangen. Von den 176 Direktmandaten räumte die FIDESZ nicht weniger als 173 ab. Die Sozialisten von der USP schafften ganze zwei, und zwar in den beiden Wahlkreisen des 13. Budapester Stadtbezirks, der als das historische und gegenwärtige Zentrum des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Judentums gelten darf.

In der zweiten Wahlrunde wurde die Persönlichkeitswahl in all jenen Wahlkreisen wiederholt, in denen in der ersten Runde keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erzielt hatte. Diesmal genügte eine relative Mehrheit für einen Sitz. Daraus erklärt sich, warum sich die Zahl der Mandate der ohnedies stärksten Partei massiv erhöhen kann.

Bei früheren Abstimmungen hatten Parteien zwischen den Wahlgängen oft beschlossen, ihre Kandidaten dort, wo sie chancenlos waren, zugunsten eines gewünschten Koalitionspartners zurückzuziehen. Diesmal tat das weder die ultrarechte Jobbik (Die Besseren oder die Rechteren) noch die aufsteigende Grünen-Partei LMP (Politik Kann Anders Sein) Besonders in letzterem Fall gab es einige Diskussionen, denn dieses Verhalten wurde von Beobachtern nicht zu Unrecht als indirekte Unterstützung der FIDESZ-Kandidaten gewertet. Aus Sicht der LMP dagegen ging es um Prinzipienfragen, nämlich darum, dass sie mit keiner der beiden starken Parteien, weder mit den Sozialisten noch mit FIDESZ, paktieren will.

Kaum hatten die Wahllokale geschlossen blies FIDESZ-Führer Viktor Orbán zum Sturm, auf den seine Anhänger so lange hatten warten müssen. In einer Brandrede sprach er von einer »Revolution« in den Wahllokalen. Noch nie habe es in Ungarn eine derart geschlossene nationale Einheit gegeben, und die werde er zum kompletten Umbau der Nation nutzen. Jene Mehrheit der Ungarinnen und Ungarn, die nicht für FIDESZ gestimmt oder gar nicht gewählt haben, darf sich also -- sieht man von den Jobbik-Anhängern ab -- ganz real bedroht fühlen. Dasselbe gilt auch für die von Orbán wörtlich als »Oligarchen« beschimpften Gruppen, die er nie mehr an die Macht gelangen lassen will. Nicht nur weil die Oligarchen seiner eigenen Partei hinter ihm auf dem Bildschirm zu sehen waren, sondern auch weil dieser Begriff in der Sprache der ungarischen Rechten eine wohlbekannte Bedeutung hat, weiß die Gefolgschaft, wer damit gemeint ist: das imaginäre Konglomerat aus Juden, Liberalen, und Kommunisten sowie die Vertreter der internationalen »jüdischen Finanzdiktatur«.

Hatte es am Wahlabend ursprünglich geheißen, dass zuerst Staatspräsident László Sólyom im Fernsehen sprechen werde, trat schließlich Orbán als erster auf. Sólyoms Rede wurde später eingespielt. Von einer besonderen politischen Verantwortung, die mit einer Zweidrittelmehrheit einhergehen müsste, sprach er erwartungsgemäß nicht. Viele Ungarn haben Angst, und dafür gibt es reale politische Gründe. Wenig realen Grund gibt es dagegen für die Hoffnung vieler FIDESZ-Anhänger, dass sich ihre materielle Lage tatsächlich bald spürbar verbessert. So könnte aus dem Sturm ein Orkan werden, dessen Stärke, Windrichtung und Konsequenzen heute niemand vorhersehen kann.

* Aus: Neues Deutschland, 27. April 2010


Keine Angst vor Orbán?

Von Detlef D. Pries **

Ein Erdrutsch kann zur Katastrophe werden, ein Erdrutschsieg auch.

Einen solchen haben Viktor Orbán und seine rechtskonservativen Jungdemokraten in Ungarn errungen. Mit ihrer satten Zweidrittelmehrheit können sie künftig Verfassung und Gesetze ganz nach ihren Vorstellungen reformieren. Und was sie sich vorstellen, daran lässt Orbán keinen Zweifel: einen Umbau der Nation, der seinem FIDESZ das Regierungsmonopol für die nächsten 15 bis 20 Jahre sichert. Änderungen des Wahlgesetzes und des Medienrechts sind ebenso möglich wie die Ausstellung ungarischer Pässe für Millionen Ungarn in der Slowakei, Rumänien und Serbien. Konflikte mit den Nachbarn wären programmiert.

Doch »Keine Angst vor Orbán!« raten westeuropäische Kommentatoren. Schon mancher, der in der Opposition laute Töne gespuckt hat, sei in Regierungszwängen bescheiden geworden. Wurde Ungarn nicht gerade erst durch einen 20-Milliarden-Kredit von IWF, Weltbank und EU vor dem Staatsbankrott gerettet? Schon die Kassenlage verbiete dem künftigen Regierungschef, gegen den internationalen Strom zu schwimmen.

Mahner sehen auch darin eine Gefahr: Die Hoffnungen auf ein besseres Leben, die Ungarns Bürger FIDESZ wählen ließen, dürften sehr schnell enttäuscht werden. Und mangels glaubwürdiger linker Alternativen könnten davon die Rechtsradikalen von Jobbik profitieren, die Orbán einst mit seinen Parolen auf die Straßen rief.

** Aus: Neues Deutschland, 27. April 2010 (Kommentar)


Zurück zur Ungarn-Seite

Zurück zur Homepage