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Angriff auf die eigene Bevölkerung

Hintergrund. Ein reaktionäres »Grundgesetz«, massive Verschlechterungen für Beschäftigte und Erwerbslose, drastische Kürzungen bei Schulen und Universitäten – Ungarn in der Hand der rechtskonservativen Fidesz-Regierung

Von Sándor Horváth *

Was das EU-Sorgenkind Ungarn betrifft, so konzentriert sich das Ausland auf Themen, die mit Grundrechten und EU-konformem liberalen Institutionensystem in Zusammenhang stehen: Mediengesetz, neue Verfassung, Unabhängigkeit der Banken, einschließlich der Zentralbank, etc. stehen im Mittelpunkt der internationale Kampagne gegen die konservative Regierung unter Viktor Orbán. Doch unter der ungarischen Bevölkerung verbreiten ganz andere Regierungsmaßnahmen mindestens ebenso viel und zum Teil massiveren Unmut.

Die außerungarische Presse baut ihre Informationsnetzwerke naturgemäß auf dem Diskurs von Intellektuellenkreisen auf. Die Prioritäten dieser Schichten sind aber in Ungarn ganz andere als die der Durchschnittsbürger. Otto Normalverbraucher, das zeigen Umfrageergebnisse immer wieder eindeutig, mißt Menschenrechten, der Pressefreiheit und ähnlichem mehr im Laufe der seit dem Systemwechsel verflossenen rund zwanzig Jahre eine immer geringere Wichtigkeit zu. Was beunruhigt also die Bevölkerung an der Politik der Regierungspartei Fidesz (Ungarischer Bürgerbund)? Welchen Tatsachen muß die ungarische Bevölkerung im schönen neuen Jahr 2012 ins Auge sehen?

 Bildung, Gesundheit, Kultur

Drastische Einschnitte gibt es zunächst im Bildungswesen. Das Alter, bis zu dem junge Ungarinnen und Ungarn an der schulischen Ausbildung teilnehmen müssen, wird von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Insbesondere die Kinder der sozialen »Unterschichten« fallen damit zwei Jahre früher als bisher ganz aus dem Bildungssystem heraus. Die jüngste Reform hat den Begriff »öffentliches Schulsystem« abgeschafft und durch den der »öffentlichen Erziehung« ersetzt. Ein für alle Schulen gültiger zentralisierter Pflichtlehrplan wird eingeführt. Es gibt kein Recht auf Hochschulbildung mehr. Eine solche werden überwiegend nur mehr jene jungen Menschen genießen, die imstande sind, sie zu bezahlen: Von den 250000 zum Studium zugelassenen Studenten erhalten nur 30000 einen vollsubventionierten Studienplatz und 15000 ein sogenanntes halbes Stipendium. Die Naturwissenschaften genießen höchste Priorität und werden direkt auf Kosten der Geistes- und Sozialwissenschaften ausgebaut.

Nicht besser sieht es im Gesundheitswesen aus. Die ärztliche Versorgung steht vor dem Kollaps. Nach tschechischem Muster hinterlegten zur Jahreswende über 2500 Ärzte und Ärztinnen ihre Kündigungsschreiben, die sie innerhalb von drei Monaten einzureichen beabsichtigen, falls ihre jämmerlichen Gehälter nicht um netto 300 Euro pro Monat erhöht werden. Damit würden Ärzte mit zwei bis drei Jahrzehnten Berufserfahrung auf stolze 900 Euro Monatslohn netto kommen. Weil bis dato schon mehrere tausend Ärzte ins Ausland abgewandert sind, verkündete Orbán vorweihnachtlich im Fernsehen, daß sich die Regierung umfassend auf eine Art Gesundheitsnotsituation vorbereitet. Demnach kann die Regierung, falls irgendwann – wahrscheinlich sehr bald – Ärzteknappheit auftritt, die freie Arztwahl unterbinden und die Ärzte wie in einem Quasikriegszustand jederzeit zur Arbeit zwingen, und zwar in jedem beliebigen Krankenhaus im Lande, ohne Rücksicht auf den jeweiligen Wohnort. Unterdessen wurden die Medikamentenpreise kräftig erhöht, also die diesbezüglichen Subventionen gekürzt, und es wird per Verordnung unterbunden, daß Ärzte Medikamente für eine längere Zeit als für einen Monat verschreiben.

Auch in der Kulturpolitik geht die Orbán-Regierung auf Konfrontationskurs. Fast ausnahmslos sind alle Direktoren im gesamten Kulturwesen von den Theatern bis zum philosophischen Institut, von dem Museen bis zu einfachsten Gemeindekulturhäusern gekündigt (teilweise unter Drohungen) und ihre Posten mit regierungsnahen Personen besetzt worden, die oft keine einschlägigen Berufserfahrungen haben und vom Metier gar nichts verstehen. Auch wurden die Direktoren der höheren Schulen ausgetauscht. Die Bestellung zweier nazifreundlicher Rechtsradikaler zur Führung eines Budapester Theaters, die auch internationale Kritik hervorgerufen hat, war nur der vorläufige Höhepunkt dieses seit anderthalb Jahren andauernden Prozesses. Renommierte Institute wurden aufgelöst oder anderen einverleibt und neue, die selbstverständlich die Ideologie der Regierung propagieren, geschaffen.

In der Filmindustrie herrscht ein einziger Mann: der ungarischstämmige auch international bekannte Actionfilmproduzent Andrew Vajna. Kontrollinstanzen zur Vergabe der staatlichen Filmfördergelder gibt es nicht mehr. Das Recht des »endgültigen Schnittes« aller geförderten Projekte steht dem ebenfalls von Vajna geleiteten Filmfonds zu.

Liberalisierung des Arbeitsrechts

Das Arbeitsrecht wurde weitgehend liberalisiert. Die Arbeitszeit ist so gut wie völlig flexibel geworden. Den Unternehmern wurde das Recht geschenkt, eine jährliche »außerordentliche Arbeitsverrichtung mit einer Dauer von insgesamt maximal dreihundert Stunden« anzuordnen. Außerdem dürfen sie von Beschäftigten, die mit Geld oder anderen Wertgegenständen arbeiten, eine »Wertsicherung«, also eine Art Kaution, in der Höhe eines Monatslohns einbehalten. Laut bisherigem Arbeitsgesetzbuch mußte der »Arbeitgeber«, wenn es zum Rechtsstreit wegen arbeitgeberseitiger Kündigung kam, im Falle eines für ihn ungünstigen Urteils das Gehalt des Beschäftigten für den Zeitraum zwischen der Kündigung und dem rechtskräftigen Urteil bezahlen. Ab sofort gilt für hier das »12monatige Durchschnittsgehalt« als Maximalsumme, und das in einem Land, wo Gerichtsverhandlungen im Durchschnitt mehrere Jahre dauern.

Die Rechte der Gewerkschaften wurden drastisch geschmälert. Pro 1000 Arbeiter darf ein einziger Gewerkschafter gewählt werden, und auch in den größten Firmen (z.B. bei der ungarischen Post mit 35000 Mitarbeitern) dürfen insgesamt nicht mehr als vier teilfreigestellte Gewerkschafter tätig sein. Die Arbeitszeitvergünstigung für Gewerkschafter wurde auf maximal zehn Prozent der Arbeitszeit, also 48 Minuten pro Tag gekürzt. Zum Vergleich: Bis jetzt hatten Gewerkschaftsvertretern pro drei organisierten Mitglieder zwei Stunden Arbeitszeitbegünstigung je Tag zugestanden. Zumindest bei größeren Firmen gab es also echte Freistellung. Auch das Streikrecht wurde stark eingeschränkt, für manche Berufsgruppen gar unmöglich gemacht.

Die Dauer der Arbeitslosengeldauszahlung wurde von neun auf drei Monate gekürzt und ihre Höhe auf maximal 120 Prozent des Minimallohns beschränkt. Eine Verlängerung ist unter Umständen für weiter drei Monate möglich, doch wird dann nur mehr die Hälfte, also 60 Prozent des Minimallohns ausgezahlt. Parallel dazu wurde eine Pflicht zur gemeinnützigen Arbeit für all jene eingeführt, die kein Anrecht auf Erwerbslosengeld mehr haben oder nie eines hatten und ihren Anspruch auf irgendeine Art der Versorgung nicht verlieren wollen. Diese Arbeit muß auch dann angenommen werden, wenn sie weit entfernt vom Wohnort zu verrichten ist. Viele Gemeinden stellen einfach keine Arbeit zur Verfügung, es kommt zu »freiwilligem« Arbeitstourismus in die Nachbargemeinden. Eine neue Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, ist unter solchen Bedingungen praktisch unmöglich.

Die Bezahlung der erzwungenen gemeinnützigen Tätigkeit bzw. Zwangsarbeit zeigt die Armenpolitik der Orbán-Regierung in ihrer ganzen Brutalität. Schon vor der Fidesz-Machtübernahme im Mai 2010 war die Sozialhilfe – damals noch bei freiwilliger gemeinnütziger Arbeit – auf 270 Euro gesenkt worden. Ein Jahr später wurde die Gegenleistung für den nunmehrigen gemeinnützigen Pflichtdienst auf 210 Euro verringert, und momentan bekommen die Zwangsarbeiter, von denen viele aus der massiv von Arbeitslosigkeit betroffenen Roma-Bevölkerung kommen, nur mehr stolze 130 Euro. Damit kann sich Ungarn heute, wie -Zsuzsa Ferge, die Grande Dame der ungarischen Armuts- und Sozialpolitikforschung, in einem Artikel formulierte, der »knauserigsten Arbeitslosenversorgung Europas« rühmen. Die gezielte ständige Modifizierung der diesbezüglichen Rechtsvorschriften, die permanente Steigerung der vorgeschriebenen bürokratischen Hürden, der laufende Wechsel der Fachbegriffe tragen das ihre bei zur Unsicherheit und sozialen Auslieferung der Armen.

Die Begünstigung der Reichen und Ausbeutung der Armen wird unvermindert brutal durchgesetzt. Die Steuerlast für das Minimaleinkommen wird 2012 real um 11,4 Prozent, in den etwas darüber liegenden Kleinverdienerkreisen um neun Prozent erhöht. Demgegenüber wird jener Gruppe, deren Einkommen das Vierfache des Durchschnittslohns beträgt, lediglich eine Steuer-erhöhung von 0,58 Prozent zugemutet, die noch Reicheren kommen noch besser weg. Weiterhin in Kraft bleibt die kriminell ungerechte Flat Tax von 16 Prozent für alle; bei den obengenannten Veränderungen handelt es sich um Nebengleise wie etwa die Einkommenssteuerrückerstattung. Die Mehrwertsteuer ist von 25 auf 27 Prozent erhöht worden. Gleichzeitig wird Armut immer stärker kriminalisiert. Im Müll zu wühlen und auf der Straße zu schlafen ist gesetzeswidrig und kann mit Gefängnis bestraft werden. Armut und Obdachlosigkeit betrachtet Fidesz als moralische Schwäche oder Folge moralischer Schwäche. So meinte etwa Ministerpräsident Orbán, daß Leute deshalb nicht arbeiten, weil sie aus anderen Quellen gut leben, »zum Beispiel vom Hühnerdiebstahl«; und der Budapester Bürgermeister Tarlós vermeldete: »Ob es uns gefällt oder nicht, es gibt so etwas wie Obdachlosenkriminalität.«

Umbau des Staatsapparats

Der in seinen Kompetenzen ohnehin stark eingeschränkte Verfassungsgerichtshof – er darf z.B. in Wirtschaftsfragen keine Entscheidungen mehr treffen – ist per 1. Januar 2012 nicht mehr berechtigt, im Vorjahr oder noch früher eingereichte Gesuche zu behandeln. Diese landen also seit Jahresbeginn im Mülleimer. Gleichzeitig wurde Zivilpersonen das Recht entzogen, sich in politischen Angelegenheiten an die Höchstrichter zu wenden, möglich ist dies nur mehr in privatrechtlichen Angelegenheiten. Politische Eingaben sind selbst von seiten des Parlaments nur noch dann möglich, wenn 25 Prozent der Abgeordneten das betreffende Gesuch unterzeichnen. Das Gesetz schließt damit bei der derzeitigen Zusammensetzung des Parlamentes eine gegen die Regierungsmehrheit gerichtete Verfassungsklage praktisch aus, denn ohne die rechtsradikale Jobbik (dt.: »Bessere/Rechtere«), die als ihre Privatarmee die berüchtigte Ungarische Garde ins Leben gerufen hat, können im Hohen Haus keine oppositionellen 25 Prozent zusammenkommen.

Auch die Reform des ungarischen Wahlrechts bevorzugt eindeutig die heute Regierenden bzw. die großen Parteien gegenüber den kleineren. Um bei einer Parlamentswahl überhaupt antreten zu können, braucht jede Partei zuerst eine Zahl von Unterstützungserklärungen aus der Bevölkerung. Die Anforderungen an die Menge der Unterschriften sind nun kräftig erhöht, die Fristen zum Sammeln drastisch verkürzt worden, damit möglichst wenige »Neuankömmlinge« im politischen Terrain Fuß fassen können. Das allererste Gesetz, das Fidesz als Regierungspartei verabschiedet hat, eröffnete die Möglichkeit für nicht näher definierte »ungarischstämmige« Personen, ohne jede weitere Bedingungen die ungarische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Gegenüber damaliger anderslautender Versprechen erhalten nun diese Menschen das Wahlrecht, auch ohne ungarischen Wohnsitz. Weil diese Auslandsungarn größtenteils nationalistisch eingestellt sind, erhofft sich Fidesz durch sie mehrere hunderttausend Extrastimmen. Die Wahlkreise wurden neu strukturiert, selbstverständlich nicht zugunsten der Opposition.

Auch im Bereich der Rechtsprechung lebt Fidesz seinen Machtwahn ungebremst aus. Der Oberste Richter und Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes wurde vor Ablauf seines Mandats aus dem Amt getrieben, und eine der engsten Freundinnen der Gattin von Viktor Orbán, die Ehefrau des Fidesz-EU-Abgeordneten -József Szájer, an dessen Stelle gesetzt. Szájer war übrigens für die Ausarbeitung der neuen, als Grundgesetz titulierten ungarischen Verfassung zuständig. Gleichzeitig wurden die Rechte des ungarischen Gerichtsamtes, also des obersten Richterkollegiums, stark und mehrfach beschnitten. So darf dessen für neun Jahre bestellte neue Chefin als Oberste Richterin ab sofort einzig und allein entscheiden, wer in Ungarn Richter wird. Und sie erhielt noch weitere Sonderrechte: Sie kann z.B. nach Lust und Laune festlegen, ob eine Verhandlung beim örtlich zuständigen Gerichtshof oder bei einem anderen geführt wird, wo es ihr gerade gefällt. Dasselbe Recht bekam unverständlicher Weise auch der praktisch lebenslang eingesetzte oberste Staatsanwalt, dessen Posten selbstverständlich ebenfalls ein Orbán-Vertrauter bekleidet. Dieses Weisungsrecht befand der Verfassungsgerichtshof zwar für grundgesetzwidrig; die Fidesz-Zweidrittelmehrheit hat diese Rechtsvorschrift daraufhin ein zweites Mal verabschiedet und basta. Übrigens wurden parallel dazu die Posten der Ombudsleute abgeschafft.

Eigenwillig ist auch Orbáns Versuch, zur Bekämpfung der Schuldenlast die Notenbank unter Kuratel zu stellen: Trotz Warnbriefen aus Brüssel wurde in der letzten Sitzung des ungarischen Parlaments im Jahr 2011 ein neues sogenanntes Notenbankgesetz verabschiedet, welches die Unabhängigkeit der Nationalbank entscheidend beeinträchtigt. Ziel ist, wie ein Chefjurist des Fidesz in einem Interview kundgab, die Schaffung einer gesetzlichen Möglichkeit für den Zugriff auf die Devisenreserven der Bank. Wegen dieses Gesetzes und der zeitgleichen verfassungsmäßigen Absicherung der Flat Tax, die Fidesz eingeführt hat, will die EU-IWF-Delegation bis auf weiteres mit Ungarn nicht über ein mögliches neuerliches Kreditabkommen verhandeln. Die Rede ist außerdem von einem EU-Vertragsbruchverfahren.

Am 30. Dezember, dem letzten Arbeitstag des Parlamentes im abgelaufenen Kalenderjahr, haben Fidesz und seine konservative christdemokratische Satellitenpartei KDNP (Christsoziale Volkspartei) im neuen Grundgesetz verankert, daß der Erzrivale, die Ungarische Sozialistische Partei, als Rechtsnachfolger der kommunistischen Staatspartei deren geschichtliche Verantwortlichkeit mitträgt. Das Gesetz erklärt, daß der ungarische Rechtsstaat nicht auf den Sünden des kommunistischen Systems aufgebaut werden kann. Dessen Verbrechen seien nie gesühnt worden, doch jetzt endlich »öffnet sich die Möglichkeit, die Wahrheit geltend zu machen«. Was dies konkret heißt, wird erst die Zukunft zeigen.

Ebenfalls nicht gut bestellt ist es um die Religionsfreiheit. Von den in Ungarn über hundert als Kirche eingetragenen Gesellschaften hat das ungarische Parlament nunmehr nur 14 als Kirche anerkannt, alle anderen verlieren ihren bisherigen Status, die finanziellen Begünstigungen etc. Anerkannt sind ausschließlich christliche und jüdische Gemeinschaften. Zugleich wurde die Entscheidungsgewalt darüber, welche Glaubensgemeinschaften den Status einer Kirche erhalten, von einer Kompetenz der Gerichtshöfe in eine des Parlaments, also der Politik, umgewandelt.

»Einparteienverfassung«

Erwähnt werden müssen auch die verfassungsmäßigen Rechtsgrundlagen des ungarischen Staates. Obwohl das von der Opposition als »Einparteienverfassung« kritisierte neue »Grundgesetz« die Menschen weniger unmittelbar berührt als manche der oben beschriebenen Reformen, hat der Protest gegen das Inkraftreten dieses Kronjuwels der Fidesz-Politik am 2. Januar Zehntausende Menschen auf die Straße getrieben. Nach seiner neuen Verfassung ist Ungarn keine Republik mehr, das Wort wurde ersatzlos gestrichen, das Land trägt von nun an den schlichten Namen Ungarn. Statt dessen erhebt das Fidesz-Werk die »Heilige Krone« der mittelalterlichen Könige als »Verkörperung des verfassungsmäßigen Fortbestands der ungarischen Staatlichkeit« in Verfassungsrang und spricht in der Präambel von der vor 1000 Jahren erfolgten Staatsgründung. Die Nation wird ethnisch und christlich definiert. Während die alte ungarische Verfassung die Menschenrechte als absolut und universell betrachtete, verknüpft das neue Grundgesetz sie mit verschwommenen, ja undefinierten Pflichten. In einigen Fällen, so insbesondere bei den sozialen Rechten, verpflichtet es den Staat erst, wenn gewisse Bürgerpflichten erfüllt sind, dazu, sie zu garantieren. Das Recht auf Arbeit, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, körperliche und seelische Gesundheit nach höchstmöglichem Standard, soziale Sicherheit – all dies wurde relativiert oder einfach gestrichen. Kinder haften sozialpolitisch für ihre Eltern, sie sind verpflichtet, diese zu versorgen, die staatliche Pflicht tritt erst ein, wenn dies nicht möglich ist. Die Ehe ist als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau definiert. Alle ökologischen Rechte wurden gestrichen. Dadurch, daß das neue Grundgesetz die Garantie des Rechts auf Arbeit nicht mehr zu den Pflichten des Staates zählt, aber Arbeiten sehr wohl zur den Bürgerpflichten und nicht zu den Bürgerrechten gehört, wird der Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Klassen festgeschrieben. Damit bricht das ungarische Grundgesetz tatsächlich einen Grundkonsens der europäischen Nachkriegsdemokratie.

* Sándor Horváth ist freier Journalist und Musiker. Er lebt in Budapest und Berlin

Aus: junge Welt, 18. Januar 2012



Und sie bewegt sich doch?

Linke Protestbewegungen gegen das Fidesz-Regime **

Unter dem Dach des gemeinsamen Auftretens der verschiedenen Zivilorganisationen gegen die Orbán-Regierung verbergen sich unterschiedlichste politische Strömungen – von tief bürgerlich über liberal und grün bis links. Wenn man den letzteren Begriff weit genug definiert, dann lassen sich in diesem Lager drei Cluster unterscheiden, zu denen jeweils unterschiedliche Organisationen und Koalitionen gehören. Auffällig ist, daß es mehrere vollkommen neue Zusammenschlüsse gibt, die zum Teil einen kometenhaften Aufstieg erleben; und bemerkenswert ist auch, daß eine sehr junge Generation frischen Wind in die linke Szene bringt. Zu den Aufsteigern des Jahres 2011 gehört, als Leitstern des Clusters Nr. 1 der Linken und Hoffnungsträger vieler klassischer Linker, die »Ungarische Bewegung Solidarität«. Diese stützt sich stark auf mehrere Gewerkschaften, verfügt auch darüber hinaus über eine vergleichsweise breite Verankerung unter Aktivisten und betont immer wieder die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Selbstorganisation von unten. Wiewohl auch Solidarität die Wiederherstellung des ins Wanken geratenen ungarischen Rechtsstaats zum Aufhänger der Mobilisierung macht, verfolgt sie ein klares wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Programm.

Gefordert werden die Wiedereinführung der Steuerprogression, Steuergerechtigkeit anstelle Begünstigung der Reichen, die Schaffung sozialer Sicherheit und existenzsichernde Löhne. Ziel ist es, die gesellschaftliche Polarisierung und die Verarmung zu stoppen und die Vereinnahmung von allem, was »ungarisch« daherkommt, durch das rechtspopulistische Regierungslager aufzubrechen. Am 13. Januar startete die Bewegung eine Unterschriftenaktion, in deren Rahmen Sympathisantinnen und Sympathisanten aufgefordert werden, einen Brief an José Manuel Barroso zu unterzeichnen, in dem der EU die ungarische Treue versichert wird. »Die Zukunft Ungarns und der ungarischen Bürger ist untrennbar verbunden mit der Gemeinschaft der Europäischen Union. Gemeinsam sind unsere Sorgen und unsere Ziele.«

Im Cluster Nr. 2, das für viele Jüngere interessant ist, spielt neben der durchaus auch im realen Leben aktivistisch orientierten Internetbewegung »Eine Million für die Pressefreiheit« die Organisation »Vierte Republik!«, kurz 4K!, eine wichtige Rolle. 4K! hat es sich zum Ziel gesetzt, eine »neue linke Partei« zu organisieren, und ist derzeit mit dem Aufbau, der Gründung von Landesorganisationen etc. beschäftigt. Innovativ an dieser Bewegung ist nicht nur ihr erfrischender Politikstil, sondern auch der Versuch, explizit am »sozialdemokratischen Erbe« orientierte Positionen mit einer Kritik ungleicher weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung und weltpolitischer Machtbeziehungen zu verknüpfen, die sich unter anderem an lateinamerikanische Erfahrungen und Politikentwürfe anlehnt. In seinem »Programm der Vierten Republik« betont 4K! drei Dimensionen seines »Patriotismus«: »Ungarns Selbstbestimmung, wahrhaft demokratische Selbstverwaltung und redliches Auskommen für Alle. Diese drei Ziele sind eng miteinander verflochten und setzen einander voraus.« 4K! wendet sich gegen die passive Unterwerfung der ungarischen Außenund Finanzpolitik unter die jeweiligen EU- und US-Interessen in den vergangenen 20 Jahren.

Demgegenüber müsse die zukünftige »vierte« Republik unter anderem auf einer Verbesserung der Position Ungarns in der Weltwirtschaft und der Garantie von Arbeitnehmerrechten beruhen. Nur auf diese Weise könnten das Wohlergehen der Bürger, funktionierende öffentliche Dienstleistungen, die Integration der Roma- Bevölkerung etc. sichergestellt werden. Im Cluster Nr. 3 versucht die antikapitalistische Linke, jung und alt, zu ihrer eigenen Stimme zu finden. Zu erwähnen ist die Ungarische Vereinigte Linke, die die Notwendigkeit einer linken Bewegung der gesellschaftlichen Selbstorganisation betont. Die Organisation identifiziert sich auch mit jenen Stimmen, die hervorheben, daß es die katastrophale wirtschaftliche Lage in Ungarn selbst, die massiven sozialen »Anomalien« im Lande sind, die rechtspopulistische und rechtsradikale Ablehnung des liberalen Institutionensystems der EU immer wieder neu hervorbringen. Die machtpolitische Einmischung der EU werde diese Haltung nur verstärken. Gesellschaftliche Mobilisierung zugunsten demokratischer Grundrechte und Institutionen könne nur dann wirkliche Stärke gewinnen, wenn sie mit sozialen Kämpfen zusammengehe. Die antikapitalistische Linke bemüht sich außerdem, im Rahmen der im September 2011 ins Leben gerufenen »zivilen Aktionseinheit«, in der sich auch viele gewerkschaftliche Gruppen und Organisationen tummeln, entscheidenden politischen Einfluß zu gewinnen.

Wichtiger Schwerpunkt ist der Kampf gegen die mittlerweile beschlossene drastische Einschränkung von Arbeitsrechten. Weitere Gruppierungen und Organisationen sprießen wie Pilze aus dem Boden. Viele beschäftigen sich mit bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichen, so etwa die Kooperationen zwischen Lehrern, Eltern, Studenten und auch Schülern. Die Auseinandersetzung um die Rolle und Weiterentwicklung linker Positionen und linker Politik findet überall statt. Von weitreichendem politischen Einfluß der radikaleren Linken auf die alles vereinigende Bewegung gegen das Fidesz-Orbán-Regime kann aber keine Rede sein.

** Aus: junge Welt, 18. Januar 2012


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