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Ungarn: Die schwarze Garde marschiert

Von Ralf Leonhard, Gyöngyöspata *


Rechtsradikale Milizen terrorisieren seit Wochen im Dorf Gyöngyöspata Romafamilien. Die Regierung reagiert nur halbherzig, wie ein Augenschein vor Ort zeigt.

Eine idyllische Frühlingslandschaft breitet sich im nördlichen Zentralungarn aus. Die Weinstöcke sind frisch getrimmt, der Raps auf den knallgelben Feldern steht in vollem Saft und verströmt seinen öligen Geruch über die Hügel. Von weitem schon ist der schlanke holzverkleidete Turm der gotischen Pfarrkirche von Gyöngyöspata zu erkennen. Aber am Ortseingang steht die Polizei und kontrolliert die Papiere. Es soll verhindert werden, dass Mitglieder der Wehrsportmiliz Vederö (Schutzmacht) ins Dorf kommen.

Vor einigen Wochen brachten Zusammenstösse zwischen der ansässigen Romabevölkerung und rechten Milizen in der kleinen Ortschaft Gyöngyöspata im Komitat Heves Ungarn einmal mehr international in die Schlagzeilen. Die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban reagierte mit einem Gesetz. Seit Anfang Mai ist es verboten, dass uniformierte Milizen Minderheiten schikanieren. Aber damit ist nichts gelöst. Schon gar nicht die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung der mit zehn Prozent der Bevölkerung grössten Minderheit Ungarns.

Die Romasiedlung von Gyöngyöspata liegt abgetrennt vom Ortskern am Ufer eines Bächleins, wo eine weitere Gruppe von PolizistInnen postiert ist. Der etwa 65-jährige Geza Csömör steht am Eingangstor vor seinem baufälligen Bauernhaus. Terror herrsche im Dorf, sagt er. Die Frauen wagten sich nicht mehr zum Einkaufen, die Kinder gingen nicht in die Schule und machten nachts vor Angst ins Bett.

Baseballkeulen, Messer, Pitbulls

Lange hatten ethnische UngarInnen und Roma im 2500-Seelen-Dorf weitgehend friedlich nebeneinander gelebt. Letztes Jahr wurden dann drei Romafamilien durch ein Hochwasser obdachlos. Das Rote Kreuz half und erwarb im vergangenen Februar ein Haus im Ortskern. Daraufhin begannen die NachbarInnen zu protestieren. Niemand will neben sogenannten Zigeunern leben. Sofort nützte Oszkar Juhasz, der lokale Vertreter der rechtsextremen Jobbik-Partei, die Stimmung und nötigte den parteilosen Bürgermeister Laszlo Tabi, die Bürgerwehr Bessere Zukunft ins Dorf zu rufen. Deren Truppen – eine Nachfolgeorganisation der verbotenen Ungarischen Garde – waren am nächsten Tag bereits zur Stelle und verbreiteten mit martialischen Aufmärschen Angst und Schrecken. Das war Anfang März. Gleichzeitig rekrutierten sie 26 Männer aus der Gegend für eine lokale Einheit, die nach ein paar Wochen selber die Einschüchterungen an die Hand nahm.

Wochenlang patrouillierten schwarz uniformierte Schlägertypen, bewaffnet mit Baseballkeulen, Messern und Schusswaffen, begleitet von Pitbulls, durch die Romasiedlung. «Die legten bereits um sieben Uhr früh los», sagt Csömör. Die Kinder hätten bei ihrem Anblick zu schreien begonnen. Das Dorf glich bereits einem Pulverfass, als kurz vor Ostern der Wehrsportverein Vederö ein paramilitärisches Lager in Gyöngyöspata ankündigte.

Die Roma baten das Rote Kreuz um Hilfe. Fast 300 Frauen, Kinder und alte Leute wurden am Karfreitag zu ihrem eigenen Schutz für ein paar Tage in zwei Freizeitzentren untergebracht. Der in Ungarn lebende US-Amerikaner Richard Field – dessen American House Foundation eng mit dem Roten Kreuz zusammenarbeitet – finanzierte die Evakuierung. Premier Viktor Orban spricht allerdings von «Osterferien». Und im Regierungsfernsehen wurde die Hilfe gar als Einmischung «russischer Geheimdienstkräfte» dargestellt, um osteuropäische Länder zu destabilisieren.

Angst vor neuen Übergriffen

Trotz des neuen Gesetzes patrouillieren heute die Milizen der Bürgerwehr Bessere Zukunft immer noch durchs Dorf – einfach nicht mehr in Uniform. Die Wehrsportgruppe Vederö, die die blutigen Zusammenstösse auslöste, hat auf den ersten Blick mit dieser Bürgerwehr nichts zu tun. Tamas Eszes, der Chef von Vederö, verkehrt allerdings im Hause des Milizenführers Attila Hartyani. Eszes, ein Veteran der Fremdenlegion und Karatekämpfer, empfindet für Medien und PolitikerInnen tiefe Verachtung. Seine Wehrsportgruppe habe nur das Ziel, die Jugend zu ertüchtigen, sagt er.

In Ungarn ist die Wehrpflicht abgeschafft. Die Berufsarmee sei nur für wenige attraktiv, sagt Eszes, doch das militärische Leben wollten viele kennenlernen: «Deswegen veranstalten wir dreitägige Trainingscamps.» Mit den Roma im Dorf habe das indes nichts zu tun. Im Gegenteil: Jeder sei willkommen. Nach Gyöngyöspata sei man gekommen, weil man hier 3000 Quadratmeter Grund erwerben konnte. Zum symbolischen Preis von einem Forint, wie sich später herausstellt, und ganz zufällig auf einem Hügel direkt über der Romasiedlung.

Derzeit verhindern noch berittene PolizistInnen mit Säbel am Gürtel, dass Roma und Gardisten aufeinanderprallen. Aber wenn sie abziehen, so fürchten viele Roma, dann komme die Nacht der langen Messer. Bürgermeister Laszlo Tabi ist inzwischen zurückgetreten. Im Juni muss sein Nachfolger gewählt werden. Oszkar Juhasz von der Jobbik, der bei den Wahlen im vergangenen Herbst keine zehn Prozent bekam, rechnet sich beste Chancen aus.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 12. Mai 2011


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