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Die Markthalle und die Macht

Vor den Kommunalwahlen in Ungarn: Populistische wie radikale Rechte sind weiter stramm auf dem Vormarsch

Von Michael Müller, Szeged/Miskolc *

Die Leute in der neuen Markthalle von Szeged machen an diesem Sonntagvormittag trotz des Gedränges einen sichtlich entspannten, ja geradezu fröhlichen Eindruck. Trotz der Preise. Gemüsepaprika gibt es für umgerechnet 2,20 Euro das Kilo, Tomaten für 2,80, Weintrauben gar für 3,50. Angesichts des statistischen Durchschnittseinkommens (etwa ein Viertel des deutschen) geht das schon an die Schmerzgrenze. »Aber was soll's«, sagt Ilona Doros, Ehefrau, Mutter zweier halbwüchsiger Söhne, über die Woche Köchin in einer Gaststätte, »wir haben lange auf diese neue Halle gewartet. Ein-, zweimal in der Woche werde ich sie mir für die Familie schon leisten können.«

Solche Zufriedenheit wird man im Bürgermeisteramt von Szeged dieser Tage mit Genugtuung registriert haben. Schließlich sind in Ungarn am kommenden Sonntag Kommunalwahlen. Und Bürgermeister László Botka hat in den letzten Wochen öfter mal hier eine neue Straßenkreuzung und da eine neue Abwasseranlage eröffnet. Die Markthalle soll für ihn nun das werden, was vor vier Jahren der neue Bahnhof geworden war: eine Lizenz für vier weitere Amtsjahre.

Sozialisten arg auf der Kippe

Doch diesmal steht für Bürgermeister Botka alles arg auf der Kippe. Denn so richtig normal ist seit einiger Zeit nichts mehr im politischen Getriebe Ungarns. Botka kandidiert nämlich erneut für die sozialistische USP. »Und es wäre ein Katastrophe für das Gemeinwesen, wenn er nicht wiedergewählt würde«, wie einer seiner Stadträte dem Reporter versichert.

Der Stadtrat weiß, warum er nicht genannt sein möchte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nämlich dürfte nicht der USP-, sondern der FIDESZ-Kandidat das Rennen machen. Und zwar ganz ohne Markthalle, Straßenneubau oder Müllverbrennungsanlage. Allein mit dem Rückenwind aus Budapest. Von dort nämlich wird Ungarn seit dem Frühjahr 2010 von eben dieser FIDESZ, dem rechtpopulistische Bund Junger Demokraten, regiert. Zusammen mit dem kleinen christdemokratischen Koalitionär KDNP sogar mit parlamentarischer Zweidrittelmehrheit.

Gegen diesen Sog des Faktischen scheint in Ungarn momentan kein Kraut gewachsen zu sein. Laut jüngsten Umfragen kann das Regierungsbündnis mit etwa 65 Prozent aller kommunalen Mandate rechnen, die USP mit nur etwa 20.

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass ein kommunaler FIDESZ-Sieg am kommenden Sonntag bereits der zweite in Ungarn wäre. Erstmals hatten die Rechtspopulisten die zahnlosen und handzahmen ungarischen Sozialisten schon 2006 mit 57:38 Prozent in den Komitaten und Gemeinden geschlagen. Was übrigens die Akzeptanz von FIDESZ in der ungarischen Gesellschaft viel manifester als vielleicht »nur« ein Parlaments-Protestwahlerfolg erscheinen lässt. Und nachdenklicher stimmend. Denn FIDESZ, da sind sich viele Analysten einig, ist nicht einfach irgendeine konservative Partei, sondern eine chauvinistische und eine rassistische.

Der Schriftsteller Rudolf Ungváry, Jahrgang 36, vor 1990 antirealsozialistischer Bürgerrechtler, sagt der linksliberalen »Népszabadság«: »Ungarns Rechte hat sich gefunden. Eigentlich ist sie seit jeher in der Mehrheit, nur wurde dies von der Wirklichkeit verdeckt. Nun ist jenes rechte Ungarn, das 1945 unterging und dessen Sprache und Symbole damals auf Eis gelegt wurden, zu neuem Leben erwacht.«

Die in München lebende Kulturwissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Magdalena Marsovszky geht in ihrer Analyse gegenüber der Internetmagazin »cafebabel.com« noch weiter. Die Partei stehe von ihren Strukturen her der NSDAP nahe und sehe Ungarn als ethnische Gemeinschaft, »als Rasse also«. Dazu komme das dauernde Beschwören des »Traumas von Trianon« (durch den Vertrag von Trianon 1920 verlor Ungarn als Kriegsverlierer zwei Drittel seines Territoriums an die Tschechoslowakei, Kroatien und Rumänien). All das könne »Zustände wie in der Weimarer Republik« heraufbeschwören.

FIDESZ hat in den ersten 100 Tagen der Regierungsgewalt nichts ungetan gelassen, Machtnägel mit Köpfen zu machen. Übrigens auch in Bezug auf die - da es in Ungarn keine Länderkammern gibt - staatspolitisch weniger wichtigen Kommunalwahlen. Die Zahl der Kommunalmandate wurde per Eilgesetzverfahren um fast ein Drittel verringert und die Bewerbung massiv erschwert. Bürgerinitiativen, Kleine, Unabhängige blieben dadurch schon vorher massenweise auf der Strecke. Dessen ungeachtet dröhnt Ministerpräsident Viktor Orbán in seiner Erste-hundert-Tage-Rede: »Die Utopie, in deren Burka (!) wir lebten, ist mit der Wirklichkeit kollidiert und in winzige Stücke zersprungen. Die Ungarn haben die Grundlage für ein neues, auf Realität basierendes System gelegt: Wir nennen es das System der nationalen Zusammenarbeit.«

»Lösung der Zigeunerfrage«

Zur Realität des ungarischen Kommunalwahlkampfes 2010 gehören aber nicht nur wie in Szeged die üblichen Eröffnungen von Supermärkten, Parks oder Schwimmbädern, sondern auch Töne wie diese von Jobbik-Parteichef Gábor Vona und seinem Europa-Abgeordneten Csanád Szegedi. Jobbik, eine faschistoid-rechtsextreme Partei, war bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 mit fast 17 Prozent drittstärkste Kraft im ganzen Land geworden. Im Kommunalwahlkampf fordern ihre Aktivisten nun die »kurzfristige Lösung der Zigeunerfrage« durch sogenannte »Siedlungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung« - also Zigeuner-Konzentrationslager. Das erste schlagen sie in der Nähe der nordostungarischen Stadt Miskolc vor.

Miskolc gehört wie andere Gemeinden zu den vom Brachialkapitalismus der vergangenen 20 Jahre besonders geschändeten Landesteilen; mit nach 1990 dicht gemachten großen Industriebetrieben und bis zu 30 Prozent Arbeitslosigkeit. Ähnlich wie in den nahen Städten Ózd und Kazincbarcika haben die Rattenfänger von Jobbik hier besonders leichtes Spiel. Ungarn den Ungarn, dann wird alles besser! Imré Hompoth, Bürgermeister von Gesztely, einer Gemeinde mit etwa 2500 Einwohnern, ist sich da zwar nicht so sicher, doch für die »Cigány« brauche es schon besondere Maßnahmen. »Man muss sie wie Kinder behandeln. Ohne Strenge halten sie einen zum Narren.«

Der Mann in den 60ern ist wohlgemerkt nicht bei Jobbik, sondern parteilos. Und sein Hauptproblem sind eigentlich nicht die Roma, sondern die platt gemachte Zuckerfabrik im Ort und der ausländische Brauereibesitzer, der seine Gerste nicht von den hiesigen Bauern kauft, sondern bei sich zu Hause. Dennoch hat er auch nichts gegen die Jobbik-Wahlkampfveranstaltung im Gemeindehaus. Gegen die »Zigeunerkriminalität« wird dort gewettert, geworben für Law-and-Order und »allgemeinen Waffenbesitz für unsere Bevölkerung«.

Für Zivilcourage gegen solche Töne aus einem politischen Gruselkabinett, hat man jedenfalls den Eindruck, gibt es in Ungarn wenig demonstrative Vorbilder. Ja, es gab danach viel Mediengeschrei, als Jobbik-Chef Gábor Vona sich bei seiner Vereidigung im Mai im Parlament in einer Jacke nach Art der faschistischen Pfeilkreuzler präsentierte, aber kaum einer hatte den Parlamentssaal verlassen. László Sólyom, bis vor zwei Monaten ungarischer Staatspräsident, antwortete Anfang 2009 in einem Presseinterview auf die Frage, was er zur Vereidigung der SA-ähnlichen »Ungarischen Garde« durch Jobbik justament vor seinem Präsidentensitz sage: »Das war sehr bedauerlich, aber rechtmäßig.« Im übrigen habe Ungarn, was radikale Parteien betreffe, »nur einen Wähleranteil von zwei bis drei Prozent« - nur 14 Monate nach diesem Interview waren es bei den Parlamentswahlen im April 2010 fast 17 Prozent für Jobbik. Menetekel, Menetekel.

Nach Sarkozy und Sarrazin erledigt

Bürgerbewegungen wie »Es lebe Nyíregyháza« aus der gleichnamigen nordostungarischen Stadt haben es schwer. Kürzlich ist das Bündnis mit einer Verbotsklage gegen Jobbik (wegen Holocaustleugnung) vor der Obersten Staatsanwaltschaft gescheitert. Doch sein Vorsitzender Karoly Lengyel bleibt dabei: »Diese Partei ist nazistisch und gehört verboten.«

Und die linksliberale ungarische Intelligenz? Der Schriftsteller Rudolf Ungváry beschwor unlängst in einem Interview mit dem Internetportal »euractiv.de« die »europäischen Konservativen, auf die retardierte (also dumme, plumpe, primitive - M.M.) ungarische Rechte einzuwirken«. Diese Hoffnung hat sich wohl spätestens nach Sarkozy und Sarrazin erledigt. Was auch ein Menetekel ist.

* Aus: Neues Deutschland, 30. September 2010


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