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Im Visier der Regierung Orban

Sorge um das Lukács-Archiv in Budapest

Von Rüdiger Dannemann und Frank Benseler *

Die hiesigen Medien berichteten in den vergangenen Tagen von einem Aufruf namhafter Künstler zu den jüngsten Entwicklungen in Ungarn. Der Aufruf ist Ausdruck der Sorgen über das Anwachsen von »Rassismus, Homophobie und Antisemitismus«, von »Ausgrenzung, Aggression gegen Minderheiten und Intoleranz«. Entwicklungen, die Anlaß zur Befürchtungen geben, gibt es auch im Bereich der Kunst und der Wissenschaften. Die Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft ist beunruhigt über Berichte, die uns über Vorgänge im Lukács-Archiv in Budapest erreichen. Es ist die Rede von einem »Amoklauf« des neuen Leiters des Philosophischen Forschungsinstituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA). Es sind – so hören wir– Entlassungen einer Reihe von Forschern in Aussicht gestellt bzw. bereits vorgenommen worden. Betroffen sind wohl Sándor Ferencz, Pál Horváth, Miklós Mesterházi, Gáspár Miklós Tamás (der als Referent auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz sprach). Dagegen regt sich Widerstand unter den intellektuellen Freunden einer vielfältigen philosophischen Kultur in Ungarn. Eine ungarischsprachige Petition gegen diese Entwicklung ist in kurzer Zeit von mehr als 1900 Personen unterzeichnet worden. Uns erreichen besorgte Anfragen nicht nur aus Ungarn, sondern auch aus Deutschland, Griechenland, den Vereinigten Staaten.

Seit vielen Jahren arbeitet die Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft mit dem Lukács-Archiv in Budapest durchaus erfolgreich zusammen. Das Archiv ist für die wissenschaftliche Pflege und Erschließung des Werks von Georg Lukács von entscheidender, auch internationaler Bedeutung.

Deshalb verfolgen wir die Vorgänge in und um das Archiv mit wachsender Besorgnis. Befürchtet wird, daß es nicht um fachliche Modernisierung geht, sondern daß die Vorgänge einen politischen Hintergrund haben. Es ist zu hoffen, daß Befürchtungen unbegründet sind, es werde die Demontage des unbequemen Lukács-Erbes angestrebt, d.h. auf längere Sicht die Eliminierung des Lukács-Archivs und mit dem Schlag gegen die Überreste der Budapester Schule die Einschüchterung der linksliberalen Intelligenz.

Wir wenden uns an Herrn Boros, den neuen Archivleiter, und den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften mit der Bitte um Klarstellung. Wir wiederholen: Georg Lukács’ Werk bedarf eines funktionsfähigen und gut ausgestatteten Archivs, damit jene Arbeit geleistet werden kann, die die Lebensleistung des bedeutenden philosophischen Zeitzeugen des 20.Jahrhunderts verdient und die international erwartet wird. Und die ist nur möglich, wenn verdiente und ausgewiesene Forscher ihre Arbeit fortsetzen können.

* Dr. Rüdiger Dannemann und Prof. Frank Benseler, Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft.

Aus: junge Welt, 20. Januar 2011



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