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Diplomatische Verwicklungen

Empörung unter deutschen Politikern nach Reaktion des ungarischen Ministerpräsidenten auf Merkel-Äußerung zur Budapester Politik. Westerwelle zu Orbáns Vergleich: "Entgleisung" *

Mit einem »Nazi-Vergleich« habe der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán »Deutschland vor den Kopf gestoßen«, schrieb die Nachrichtenagentur dpa am Montag. In seinem wöchentlichen Interview im staatlichen Rundfunk hatte der rechtsnationalistische Politiker vergangenen Freitag gesagt, Berlin habe schon einmal, in der Nazizeit, Panzer nach Ungarn geschickt und möge es nicht erneut tun. Seine Worte waren eine Reaktion auf eine Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hatte einen Tag zuvor im »Europaforum« des Westdeutschen Rundfunks mit Blick auf die Abweichungen Ungarns von den Normen der EU gesagt, man werde »alles tun«, um das Land »auf den richtigen Weg zu bringen«, aber deshalb »nicht gleich die Kavallerie schicken«. Dies war als ironische Spitze gegen SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gedacht. Der hatte zuvor in derselben Veranstaltung über einen Ausschluß Ungarns aus der EU nachgedacht, das unter der Führung Orbáns immer wieder gegen demokratische Grundprinzipien und EU-Regeln verstoße. Merkel hatte mit ihrer Wortwahl auf ein bekanntes Steinbrück-Zitat angespielt. 2009 hatte der damalige deutsche Finanzminister im Steuerstreit mit der Schweiz im Scherz gedroht, die »Kavallerie« gegen das Alpenland in Stellung zu bringen, wenn es weiter deutsche Steuerhinterzieher schütze.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle kritisierte am Montag Orbáns Vergleich mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn im März 1944 scharf. »Das ist eine bedauerliche Entgleisung, die wir klar zurückweisen«, erklärte der FDP-Politiker am Rande eines Besuchs in Belgrad. Auch andere deutsche Politiker zeigten sich empört. dpa vermerkte zusätzlich, bei der deutschen Besetzung habe es sich nicht um eine »feindliche« gehandelt, Ungarn sei vielmehr ein enger Verbündeter Hitler-Deutschlands gewesen.

Ungarn steht wegen der Regierungsmethoden Orbáns international in der Kritik. Die neue Verfassung mitsamt jüngst beschlossener Änderungen sowie zahlreiche Gesetze schränken die Demokratie, das Verfassungsgericht, die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit ein. Gegen Ungarn laufen in der EU mehrere Vertragsverletzungsverfahren. Linke, liberale und grüne Parteien im Europaparlament verlangten zuletzt, daß Ungarns Stimmrechte in den EU-Gremien auf der Grundlage von Artikel 7 der EU-Verträge ausgesetzt werden sollen.

Ungarische Diplomaten bemühen sich inzwischen, die Wogen zu glätten. Orbán habe keineswegs eine Bemerkung von Kanzlerin Merkel kommentiert, sondern sich zu einer von Kanzlerkandidat Steinbrück benutzten »Metapher« geäußert, sagte der stellvertretende Außenstaatssekretär Gergely Pröhle am Montag abend im Gespräch mit der Nachrichtenagentur MTI.

Tatsächlich haben sich Merkel und die CDU bislang mit Kritik an Orbáns Politik sehr zurückgehalten, da die nationalistische Fidesz-Partei des ungarischen Regierungschefs mit den deutschen Konservativen in Europaparlament und EU-Gremien in der Europäischen Volkspartei (EVP) zusammenarbeiten. Orbán ist zugleich EVP-Vizechef. Doch nun hat der Magyare offenbar den Bogen auch aus Sicht prominenter Unionspolitiker überspannt. Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, erklärte am Dienstag, Orbán belaste »das traditionell gute Verhältnis« zwischen den beiden Staaten. Daß er »nun auch noch unsägliche Nazivergleiche benutzt, die bisher griechischen Demonstranten vorbehalten waren, zeugt von zunehmendem Realitätsverlust«, so Polenz. Der Budapester Regierungschef führe »sein Land immer stärker in die Isolation«.

SPD und Grüne forderten Merkel und die EVP auf, endlich klare Worte gegenüber der ungarischen Regierung zu finden. Der Chef der Grünen-Fraktion im Bundestag, Jürgen Trittin, erklärte, Merkel müsse erkennen, daß »ihre Politik der stillen Diplomatie« gescheitert sei. SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer forderte, die Fidesz-MPSZ müsse aus der EVP ausgeschlossen werden.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Mai 2013


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