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Ungarn erhält einen neuen Staatspräsidenten

Wahl darf als Schritt zum Abbau der demokratischen Gegengewichte der politischen Macht gelten

Von Gábor Kerényi, Budapest *

Ungarns Parlament wählt am heutigen Dienstag (29. Juni) einen neuen Staatspräsidenten: den 68-jährigen zweifachen Fechtolympiasieger Pál Schmitt, bisher Parlamentspräsident und Chef des Nationalen Olympischen Komitees.

Der neue ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán agiert mehr als souverän. Erst verlängerte er die Sitzungsperiode des Parlaments bis weit in den Juli hinein, damit die Volksvertreter die wichtigsten 50 Gesetze noch vor der Sommerpause verabschieden können. Dann fuhr er erst einmal nach Bulgarien, um mit seiner Familie den wohlverdienten Urlaub zu genießen. Auch ein Treffen mit Angela Merkel wurde deshalb abgesagt. Unterdessen ist ihm vorige Woche - sechs Tage vor der Wahl des Staatspräsidenten am heutigen Dienstag - eingefallen, dass ihm ein neuer Mann auf diesem Posten angenehmer wäre als der bisherige, der parteilose László Solyom, der alles andere als ein Linker ist. So geschah es, dass Orbán aus seinem Urlaubsort einen Brief nach Budapest schickte, in dem er kund tat, dass der gegenwärtige Parlamentspräsident Pál Schmitt zum nächsten Staatsoberhaupt gekürt werden solle.

Schmitt gewählt

Das ungarische Parlament hat den Rechtskonservativen Pal Schmitt zum neuen Staatschef gewählt. Der 68-Jährige erhielt 263 Stimmen, 59 Abgeordnete stimmten für den sozialistischen Kandidaten Andras Balogh, 44 weitere enthielten sich. Die Wahl Schmitts hatte als sicher gegolten, weil seine rechtskonservative Fidesz-Partei eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat. Schmitt folgt dem Parteilosen Laszlo Solyom, der sein Amt am 4. August nach fünfjähriger Amtszeit regulär abgibt.
Nachrichtenagenturen, 29. Juni 2010



Noch bei der vorigen Staatspräsidentenwahl hatte der Briefschreiber als Oppositionsführer gemeint, im Falle einer so wichtigen Angelegenheit wie der Präsidentenwahl sei es »ratsam und auch Pflicht«, die Meinung des Volkes einzuholen. Doch weil der Inhaber des höchsten Amtes im Ungarnland durch das Parlament gewählt wird, ist Orbán in seiner neuen Machtposition die Meinung des Volkes auf einmal nicht mehr allzu wichtig.

Dass die Wahl auf Schmitt fiel, löste in den ungarischen Medien einiges Rätselraten aus. »Es ist anzunehmen« so hieß es etwa, »dass Orbán Pál Schmitt sehr gut kennt. Wir sollten uns keine Illusionen machen: Alles, was wir wissen, weiß Orbán auch, ja, er weiß gewiss noch mehr.« Diese für ein Durchschnittshirn etwas rätselhafte Aussage, die zwischen den Zeilen auf die geistigen Fähigkeiten Schmitts anspielt, erinnert stark an die Ausdrucksweise des Journalismus im einstigen Einparteiensystem. Und das ist kein Zufall. Über 20 Jahre nach dem Systemwechsel scheint es, als hätte sich ein guter Teil der ungarischen Journalisten und Intellektuellen nur allzu rasch, binnen Monatsfrist, geschmeidig auf die aus staatssozialistischen Zeiten bekannten alten-neuen Umstände eingestellt. Offenkundig befindet sich Ungarn auf dem Weg in ein Mehrparteiensystem ohne Demokratie.

Pál Schmitt, der ehemalige Sportler, ein enger und treuer politischer Weggefährte Orbáns, wurde als solcher vom Chef der Fidesz-Partei schon des Öfteren belohnt. So durfte er 2004 die Fidesz-Liste für die Wahlen zum Europäischen Parlament anführen. Und vor einem Monat erst, nach dem Fidesz-Sieg bei den Parlamentswahlen, erhielt Schmitt den Posten des Parlamentspräsidenten.

In einer ersten eigenen Stellungnahme zeigte sich der Erwählte, wie schon in der Vergangenheit, als nicht gerade raffinierter Politiker. Schmitt beeilte sich mitzuteilen, dass er in der neuen politischen Konstellation, da die Regierungspartei Fidesz im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügt und damit die Verfassung ändern kann, als Staatspräsident »weder als Gegengewicht noch als Bremse des Gesetzgebungsschwunges der Regierung« auftreten wolle. Schmitt kündigte damit an, auf den Kern der verfassungsmäßigen Funktion seines zukünftigen Amtes verzichten zu wollen. Außerdem bekannte er sich offen zur großungarischen Attitüde seiner Partei. Er möchte nämlich, was das auch immer heißen mag, »Mensch der Menschen« sein, wobei sich die Angesprochenen dies »nicht so vorstellen sollten, dass ich mich mit allen 15 Millionen ungarischen Menschen konsultieren werde«. Die Bevölkerung Ungarns beträgt derzeit 10 Millionen, die übrigen Ungarn leben in den Nachbarländern oder noch weiter entfernt.

Schließlich gab Schmitt auch noch seiner Meinung Ausdruck, dass Ungarn ein neues »Grundgesetz braucht, das mit der Goldenen Bulle (von 1222) und dem ungarischen Blutbrüderschaftsvertrag (aus dem 9. Jahrhundert) vergleichbar ist«. Ginge es nach dem zuletzt genannten Vertrag aus dem Mittelalter, dann wären Ungarns Führungssorgen ein für allemal erledigt. Der Vertrag nämlich legte seinerzeit fest, dass die Nachfolge in der Führung des Landes immer den Abkömmlingen des abtretenden obersten Wesirs gebühre, im Falle Viktor Orbáns also dessen Nachkommen.

Das alles sagte der zukünftige Staatspräsident des EU-Mitglieds Ungarn im Jahre 2010 in vollem Ernst. Aus dieser Sicht ist es schon fast unverständlich, wie man aus einer solchen Maus wie einer bevorstehenden Bundespräsidentenwahl einen solchen Elefanten machen kann, wie es in Deutschland zeitgleich vorgeführt wird.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juni 2010


Sieggewohnt

Pál Schmitt (68) / Ungarns neues Staatsoberhaupt war Weltklasse -- als Degenfechter

Detlef D. Pries **

Mit dem Degen war Pál Schmitt ein Meister. Zwar stand er oft im Schatten seiner noch erfolgreicheren Mannschaftskameraden Gyözö Kulcsar und Csaba Fenyvesi, doch gemeinsam mit ihnen erfocht er 1968 und 1972 Olympiagold. Zu seiner Erfolgsbilanz gehören unter anderem auch zwei Mannschaftsweltmeistertitel (1970 und 1971).

Beruflich betätigte sich der gebürtige Budapester vom Jahrgang 1942, Absolvent der Karl-Marx-Wirtschaftsuniversität, zunächst im Hotelfach, bevor er als Funktionär zum Sport zurückkehrte. Seit 1989 ist er Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), schon seit 1983 Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), dessen Vizepräsident er 1995 bis 1999 war. 2001 wollte Schmitt sogar IOC-Präsident werden, doch die Olympier zogen den Belgier Jacques Rogge vor.

Eine weitere Niederlage handelte er sich 2002 als unabhängiger Kandidat für das Amt des Budapester Oberbürgermeisters ein. Zugleich bedeutete dies das Ende seiner Diplomatenlaufbahn: Als Botschafter hatte Schmitt Ungarn seit 1993 in Spanien und seit 1998 in der Schweiz vertreten.

Gleichgesinnte fand er schließlich 2003 bei den rechten Jungdemokraten (Fidesz) Viktor Orbáns, die ihn gleich zu ihrem Vizechef machten. NOK-Präsident blieb er, worauf einige andere Mitglieder das Komitee aus Protest verließen.

Als Spitzenkandidat seiner Partei zog Schmitt 2004 und 2009 ins Europäische Parlament ein, zuletzt war er einer der 14 stellvertretenden Parlamentspräsidenten. Den Posten tauschte er im Mai dieses Jahres, nach dem erdrutschartigen Fidesz-Wahlsieg, gegen den des Präsidenten in der Budapester Nationalversammlung. Erst vor einer Woche fiel Regierungschef Viktor Orbán ein, dass er seine Parlamentsmehrheit nutzen könnte, einen Fidesz-Mann auch zum Staatsoberhaupt wählen zu lassen. Also schickt er Amtsinhaber László Sólyom »in demütigender Weise in die Wüste«, obwohl der »ganz nach dem Gusto des Fidesz« agiert hatte, wie die Zeitung »Népszava« schrieb. Aber Nachfolger Pál Schmitt verspricht seinem Parteifreund Orbán, ihm ganz bestimmt keine Steine in den Weg zu legen. »Dies ist ein weiterer Schritt zum Wiederaufleben einer gar nicht so weichen Diktatur«, kommentierte »Népszava«.

** Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2010


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