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Orbán erweist Ungarn einen Bärendienst

Bedrohliche gesetzliche Neuerungen rufen Proteste Zehntausender hervor

Von Zsuzsanna Horváth, Budapest *

Ministerpräsident Viktor Orbán sucht sich derzeit im Zickzackkurs gegen die Unterwerfung Ungarns unter die Wirtschafts- und Finanzpolitik des vereinten Europas zu wehren. Zugleich treibt er im Lande selbst eine antisoziale und antidemokratische Politik.

Ungarn hat den Eintritt ins neue Jahr auf turbulente Weise begangen. Gesetzliche Neuerungen haben für viele Ungarn bedrohlichen Charakter. Seit Jahresbeginn beträgt der Mehrwertsteuersatz 27 Prozent, der höchste Wert in der EU. Gleichzeitig wurde die jährliche Steuerrückerstattung, die vielen Kleinverdienern ein kleines finanzielles Zubrot verschafft hat, ersatzlos gestrichen. Die Regierung hat die Unternehmer zwar aufgefordert, den Einkommensausfall durch Lohnerhöhungen auszugleichen. Doch die haben erklärt, dass sie diese Belastung nicht tragen können, es werde zu Entlassungen kommen.

Ein neues Wahlgesetz begünstigt nach Einschätzung vieler Beobachter Orbáns Regierungspartei Fidesz. Durch eine Reform des Hochschulwesens erhöht sich der Anteil jener, die bereits für ihre Grundausbildung an der Hochschule bezahlen müssen, radikal. Naturwissenschaften und angewandten Wissenschaften werden auf Kosten der Human- und Sozialwissenschaften bevorzugt.

Wasser auf die Mühlen konservativer und wirtschaftsliberaler Orbán-Kritiker im In- und Ausland ist das Gesetz zur Reform der Notenbank. Es wird als Eingriff in die Unabhängigkeit der Bank gegeißelt. In Ungarn selbst wird der Verdacht geäußert, dass es der Regierung in erster Linie um den Zugriff auf die Devisenreserven der Bank gehe, durch deren Mobilisierung sie im Falle eines Scheiterns der kommenden Kreditverhandlungen mit EU und IWF den Staatsbankrott abwenden wolle.

Und dann ist da natürlich die neue Verfassung. Überall wurden die Schilder mit der Aufschrift »Republik Ungarn« bereits vor der Jahreswende abmontiert und durch neue mit der schlichten Beschriftung »Ungarn« ersetzt. So nennt sich das Land jetzt offiziell. Während die Verfassung bestimmte Grundrechte nicht mehr erwähnt, beschäftigt sie sich umfassend mit dem Schutz der Auslandsungarn und hält fest, dass in Ungarn das Leben ab dem Moment der Zeugung verfassungsmäßigen Schutz genießt. Das Grundgesetz enthält auch eine Schuldenbremse. Das Parlament darf ein Haushaltsgesetz nur beschließen, wenn es nicht die Erhöhung der Staatsverschuldung zum Ergebnis hat.

Noch kurz vor Jahresende hatte das Verfassungsgericht Verordnungen verschiedener Gemeinden für nichtig erklärt, die das Wühlen im Müll auf öffentlichen Straßen und Plätzen mit Strafen belegten. Die betroffene südungarische Stadt Kaposvár hat bereits reagiert: Eine neue Verordnung soll das Wühlen im Müll unter Berufung auf Hygienevorschriften verbieten. Damit wird die Frage der Verfassungsmäßigkeit umschifft, während die Kriminalisierung der Armut fröhliche Urstände feiert.

Die Proteste gegen all diese Entwicklungen - dazu kommt das Todesurteil gegen einen der wenigen regierungskritischen Radiosender - reißen nicht ab. Als am Montag in der Budapester Oper der Staatsakt zur Feier des neuen Grundgesetzes stattfand, versammelten sich vor dem Prunkbau mehrere zehntausend Menschen zum Protest. Vertreten waren linksdemokratische, grünliberale, legitimistische und durch und durch bürgerliche Positionen.

Unverkennbar erweist sich die ungarische Regierung einen Bärendienst, indem sie ihren Widerstand gegen das Diktat der internationalen Finanz- und Wirtschaftswelt mit der fortgesetzten Beschneidung demokratischer Rechte und Einrichtungen einerseits und einer gegen die sozial Schwachen gerichteten Politik andererseits verbindet. Denn diese Mixtur erlaubt es den Wirtschaftsliberalen im In- und Ausland, die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen als heroischen Kampf um die Rettung von Demokratie und europäischen Werten darzustellen. Umgekehrt bleibt das Regierungslager mit seiner Kritik am Wirtschaftsliberalismus allein, solange die demokratische Linke und andere sozial orientierte Kräfte sich wohl oder übel in jenem Lager wiederfinden, das Liberale und Linke im Kampf gegen das neue, autoritäre Ungarn zusammenführt.

Wie in der Endphase des Staatssozialismus bezeichnet sich dieses Lager mittlerweile als »demokratische Opposition«, und wie damals versammeln sich unter diesem Schirm tatsächlich die demokratisch Gesinnten unterschiedlichster Schattierungen. Dass deren gegensätzliche Vorstellungen über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft bei den derzeitigen Protesten kaum eine Rolle spielen, lässt - ganz so wie damals - nichts Gutes ahnen für die Zukunft einer Politik der gesellschaftlichen Solidarität.

* Aus: neues deutschland, 4. Januar 2012


Gegenwind für Orbán

Massenproteste gelten Ungarns Rechtsregierung und der neuen Verfassung

Von Tomasz Konicz **


Ungarns rechte Politikelite versammelte sich am Montag abend in der Budapester Oper, um das Inkrafttreten der neuen ungarischen Verfassung mir einem Festakt zu feiern. Die Rechtskoalition aus Ungarischem Bürgerbund (Fidesz) und den Christdemokraten konnte das neue Grundgesetz, mit dem die 1989 eingeführte Verfassung abgelöst wird, dank einer Zweidrittelmehrheit im Parlament im Alleingang ohne größere gesellschaftliche Konsultationen verabschieden. Unterdessen protestierten Zehntausende Ungarn gegen dieses neue Grundgesetz in einer der größten Demonstrationen seit dem Wahlsieg der Rechtskoalition um Ministerpräsident Viktor Orbán.

Die Demonstration, zu der eine Vielzahl von Nichtregierungsorgsanisationen und Oppositionsparteien aufgerufen hat, stand unter dem Motto »Es wird wieder eine Republik geben«, um gegen die Streichung des Begriffs »Republik« zu protestieren. In Redebeiträgen wurde das neue Grundgesetz als ein Instrument zum Abbau der Demokratie in Ungarn gebrandmarkt. Tatsächlich unterminiert es selbst die formelle bürgerliche Gewaltenteilung im Land, indem die Machtmittel des ungarischen Verfassungsgerichts stark beschnitten und die Einflußmöglichkeiten der Regierung auf das gesamte Justizsystem stark ausgeweitet werden. Hunderte Richter – inklusive des Präsidenten des Verfassungsgerichts – müssen aufgrund der neuen Bestimmungen ihre Posten räumen. Diese freiwerdenden Stellen wird die neue regierungsnahe Institution des »Nationalen Juristischen Büros« besetzen.

In bereits verabschiedeten Verfassungszusätzen wird ausgerechnet die neoliberal deformierte Sozialistische Partei Ungarns (MSZP) als Rechtsnachfolgerin der bis 1989 in Ungarn regierenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) benannt, wodurch offenbar die strafrechtliche Verfolgung dieser ehemaligen Regierungspartei vorbereitet werden soll. Deren ehemaliger Vorsitzender und Regierungschef Ferenc Gyurcsány sieht sich bereits mit einer Anklage wegen Machtmißbrauchs konfrontiert. Zudem wurden wichtige Machtpositionen durch eine enorme Ausweitung der Amtszeit für mehrere Legislaturperioden von der Fidesz okkupiert.

Die neue Verfassung wird von einem Bündel weiterer Gesetze begleitet, die das von den Rechten dominierte Parlament in regelrechter parlamentarischer Akkordarbeit ohne größere Diskussion verabschiedete. So haben Ungarns Abgeordnete 2011 an 98 Sitzungstagen 213 neue Gesetze auf den Weg gebracht. Das kurz vor dem Jahreswechsel verabschiedete ungarische Wahlgesetz soll nach Oppositionsangeben die regierende Fidesz stark begünstigen, die hierbei die neuen Wahlkreise zu ihren Gunsten geformt habe. Mittels neuer Arbeitsgesetze wurden hingegen die Gewerkschaftsbewegung Ungarns marginalisiert und Streiks de facto illegalisiert. In der EU sorgen vor allem die Bestrebungen Orbáns für Empörung, die Kontrolle über die ungarische Zentralbank zu übernehmen.

Ein weiteres Kampffeld in der zunehmend polarisierten ungarischen Gesellschaft bilden die Medien, die Fidesz mittels eines rabiaten Mediengesetzes und einer ausufernden Säuberungswelle unter Kontrolle bringen will. Am 29. Dezember eskalierten die Proteste vor der Zentrale des staatlichen ungarischen Fernsehens, als die Fernsehbehörde private Sicherheitsdienste gegen im Hungerstreik befindliche ehemalige Angestellte einsetzte. Die Mitarbeiter waren gekündigt worden, da sie gegen offene Manipulationen in einem Nachrichtenbeitrag protestiert hatten, zu denen sie von ihren Vorgesetzten gezwungen worden seien. In einer Stellungnahme bezeichnete die von der Fidesz kontrollierte Medienbehörde MTVA den Hungerstreik als »illegal« und als eine »Provokation für den Arbeitgeber«, wie die Zeitung Pester Lloyd berichtete.

** Aus: junge Welt, 4. Januar 2012


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